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Das Lächeln des Donners: Streifzüge durch Darjeeling, Sikkim und die indotibetische Religionsgeschichte
Das Lächeln des Donners: Streifzüge durch Darjeeling, Sikkim und die indotibetische Religionsgeschichte
Das Lächeln des Donners: Streifzüge durch Darjeeling, Sikkim und die indotibetische Religionsgeschichte
eBook1.023 Seiten12 Stunden

Das Lächeln des Donners: Streifzüge durch Darjeeling, Sikkim und die indotibetische Religionsgeschichte

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Über dieses E-Book

Dieses Buch ist kein Reisebuch im herkömmlichen Sinne. Es ist der mitreißende Versuch, den Leser mitreisen zu lassen, in das Land der hohen Berge, der uralten Kulturen, der Gurus, der Götter und der Überlieferungen: Indien.

Nachgezeichnet ist eine einmonatige Reise durch den indischen Subkontinent. Über das Reiseerlebnis hinaus taucht der Autor in die indotibetische Religionsgeschichte ein, spürt immer wieder erstaunliche Zusammenhänge auf, findet Mythen und Legenden, erschließt anschaulich Geographie, Landeskunde und allerlei sonstiges Wissenswertes.

Zu den Schwerpunkten der Reise, Darjeeling und das ehemalige Königreich Sikkim, gesellen sich Besuche verschiedener Tempelstätten im heißen Tiefland. Hier kommen Städte wie Bhubaneshwar, Puri, Khajuraho, Sanchi, Bodhgaya und weitere mit ihrer Geschichte und Baukunst zu Wort.

Das Nebeneinander von Reiseerlebnis, Philosophie, Religion, Geschichte und Landschaftsbeschreibungen macht das Buch zu einem einzigartigen Leseabenteuer, das durch über zweihundert fotografische Abbildungen zusätzlich bereichert wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Nov. 2022
ISBN9783347546363
Das Lächeln des Donners: Streifzüge durch Darjeeling, Sikkim und die indotibetische Religionsgeschichte
Autor

Hans-Ulrich Schlageter

Hans-Ulrich Schlageter, geboren 1960 in Lörrach, ist promovierter Ingenieur. Schon früh spürte er den Drang, die Welt nicht nur rein wissenschaftlich zu begreifen, sondern, über den Horizont hinausdenkend, das mit einzubeziehen, was mit Metaphysik, Transzendenz und Mystik umschrieben werden kann. Ausgedehnte Reisen führten ihn auf alle Kontinente. Das Abenteuer des Reisens in Literatur zu gießen und dabei Land, Kultur und Geschichte der bereisten Völker auch für den Leser zu erschließen, ist ihm längst zum Lebensinhalt geworden.

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    Buchvorschau

    Das Lächeln des Donners - Hans-Ulrich Schlageter

    VORWORT

    Vielleicht ist die wahre Kunst des Reisens die, nie wirklich anzukommen. Dann hieße Ankommen Stillstand, während das andere bedeutete, stetig im Werden begriffen zu sein.

    Mit dem vorliegenden Buch, welches eine einmonatige Reise durch den Subkontinent Indien nachzeichnet, möchte der Autor sich im Vorhinein in keiner Weise entschuldigen; weder bei allen denen, die die Beschreibung mancher Orte, Ereignisse und Themen, die er streifte, als zu wenig in die Tiefe gehend empfinden mögen, noch bei allen denen, die sich weniger Detailfülle gewünscht hätten.

    Vielmehr möchte er gratulieren, nämlich allen anderen, so wenige es sein mögen, die sich auf dem schmalen Grat zwischen den beiden Lagern wohlfühlen. Dabei ist beides richtig. Statt in die Tiefe zu gehen, konnte der Autor oft genug lediglich in den Zusammenhang stellen. Was für ihn, - wiederum oft genug -, eine Freude war zu erleben, wie sich diese Zusammenhänge plötzlich aufzeigten.

    Das Leben ist wie das Schreiben und auch das Reisen eine Gratwanderung. Wer reist, der berührt nur flüchtig, was ihm begegnet. Er kollidiert nicht, denn sonst wäre die Reise zu Ende. Er tangiert vielmehr. Dabei verliert er in erheblichem Maße eigene Energie, erhält diese jedoch wieder und noch mehr, indem er die Anziehungskraft der Orte und Begebenheiten geschickt für sich einsetzt.

    Wie stets, oder wie es stets sein sollte, findet der größte Teil der Reise vorher und vor allem hinterher statt. Das Erlebte verändert, wirkt nach, schafft sich seinen eigenen Platz im Gedankenraum, wo es beständig gefüttert werden will. Es wächst und gedeiht. Ein Leben lang. Alle diese Verdauungsprodukte dieser aufgenommenen Nahrung zu Papier bringen zu wollen, muss irgendwann einmal aufhören, denn sonst hört es nie auf. Wenn aber nicht aufgehört worden wäre, dann läge dieses Werk nicht vor uns.

    Bleibt der Wunsch, dass dieses Buch dem Leser zum Wohle gereichen möge, es ihm von reichem Nutzen sei, mit dem Verfasser ein wenig in die dem westlichen Menschen eher fremde indotibetische Gedankenwelt eingedrungen zu sein.

    AUFBRUCH NACH INDIEN

    Stuttgart: 18. Februar 1997: Im Winter war ich wieder einmal auf dem Weg. Ich war auf dem Weg nach Indien; für wenige Wochen nur, aber immerhin.

    Bis zu meiner Ankunft auf dem Subkontinent wusste ich mich gefangen zwischen zwei Welten. Das Bekannte, mir so sehr Vertraute, meine liebgewonnene Geborgenheit, hatte ich in dem Moment aufgegeben, als der Zug sich in Bewegung setzte, und meine Frau draußen auf dem Bahnsteig zurückblieb, das Töchterchen auf dem Arm.

    Und plötzlich war ich im Zwiespalt. Warum gab ich das eine freiwillig auf, um mir das andere neuerlich anzutun? Weshalb nur tauschte ich so bereitwillig den Schutz und die Sicherheit meines Heimatidylls gegen Hitze, Lärm und Abgase ein, nahm ich die schreiende Armut an jeder Straßenecke in Kauf, den Schmutz und die mangelnde Hygiene, die lästigen Händler und Bettler allerorten.

    Dort lauerte Indien als das Unbekannte, das erwartet Unerwartete mit all seinen Strapazen und Widrigkeiten, die notwendig erschienen, wollte man die lichtvollen Momente aufsammeln, die hinterher das Reiseerlebnis ausmachten.

    Was hatte ich dieses Mal in Indien verloren? Bedeutende Tempelstätten standen auf dem Programm: in Zentralindien und an Indiens Ostküste im Staate Orissa (heute Odisha). Im Bundesstaat Bihar würde ich auf den Spuren Buddhas wandeln, in und um Bodhgaya, Rajgir und Nalanda. Von dort war es nur eine Tagesreise ins luftige Darjeeling, und als Höhepunkt, durchaus auch geographisch betrachtet, wartete das Königreich Sikkim mit seiner unverfälschten tibetischen Klosterkultur auf mich. Und selbstverständlich immer präsent: die stolzen Himalaya-Riesen.

    So sah der grobgesteckte Rahmen aus. Reihenfolge und Einzelheiten würden sich ad hoc ergeben. Oder alles würde spontan umgestoßen werden.

    Nun hatte ich also schweren Herzens meine Familie zurückgelassen und wartete vor der Passkontrolle des Flughafens Stuttgart, wo sich an diesem frühen Nachmittag eine lange, mittlerweile ungeduldige Warteschlange gebildet hatte. Warum stockte die Abfertigung? Wurde nach jemandem gefahndet? Waren das Stichkontrollen?

    Normalerweise gaben sich die Grenzbeamten eher lässig, selbst wenn man den Deutschen im Ausland preußische Gründlichkeit und Effizienz nachsagte, eine gefürchtete wie zugleich bewunderte Tugend.

    Vier Menschen vor mir jedenfalls war eine Diskussion entbrannt, beteiligt ein Paar, natürlich der Grenzpolizist sowie ein dunkelblauer Pass. Das Dokument sei ungültig, hörte ich, nicht das Datum, die Passform sei ungültig. Es musste sich um ein osteuropäisches Dokument handeln. Die Frau beteuerte, sie sei damit nach Amsterdam gereist, nach Rom und sogar nach London, - warum »sogar« nach London? -, und nie hätte es Schwierigkeiten gegeben.

    Bedauerlicherweise würde sie nun ihren Flug verpassen. Die Menge hinter mir maulte, und einer bemerkte aufmüpfig, das sei doch wieder typisch deutsch. Da hätte es gerade ihn verblüffen müssen, dass der Beamte sich mit dem Paar entfernte und uns lässig zuwinkte, wir dürften alle miteinander unkontrolliert passieren.

    Mein Zwischenaufenthalt in Kopenhagen fiel mit dem Ende der Abenddämmerung dieses Spätwintertages zusammen. Über der Ostsee war es frisch. Der Himmel spiegelte Kälte wider. Nachtblau mischte sich mit verwaschenem kaltem Abendrot und dunklen Wolkenschlieren zu einem stimmungsvollen Gemälde. Die Werke Edvard Munchs drängten sich in meinen Sinn.

    »In acht Stunden werde ich bereits in Delhi sein«, frohlockte ich. Die zweite und letzte Etappe war nonstop.

    Kopenhagens Flughafen, Drehscheibe Skandinaviens, war mir angenehm aufgefallen; modern, sauber, mit vielen Läden bestückt, Snackbars und Kinderhorten. Dazu die Menschen, alle fein gekleidet in dezenten Farben. Auffällig zweifellos ich, mit meinen abgetragenen Latschen und der Mode eines solchen, der vorhat, tagelang in unwegsamem Gebirge zu verschwinden.

    IN SHIVAS KSHETRA IN BHUBANESHWAR

    Delhi: 19. Februar 1997: Das Morgengrauen erwischte uns über dem Pamir-Gebirge. Am Bullauge drückte ich mir die Nase platt, um über den Tragflügel schielen zu können. Gespenstisch weiß leuchteten die unwirtlichen Gebirgszüge herauf, dick verschneit, tief eingeschnitten, schneefrei nur die großen breiten Längstäler. Dort lebten vergessene Völker, wilde Bergstämme wie die Paschtunen, war aber auch das Rückzugsgebiet von Partisanengruppen Afghanistans.

    Wir waren von Kasachstan herübergekommen und erreichten nun Pakistan. Zur besten Frühstückszeit breitete sich unter uns bereits die grüne fruchtbare Indus-Ebene um Karachi aus. Jetzt war Delhi nicht mehr fern. Eben rasch die Wüste Thar in Rajasthan, dann wieder Flecken bewässerten Grüns, oft bis zum Horizont. Schnurgerade Straßen, kreisrunde Dörfer, kleine Teiche und Wasserreservoirs, welche halfen, die Durststrecke bis zur Regenzeit im Sommer zu überbrücken.

    Mit einem Mal schwebten wir über den grauen Vorstädten Delhis. Wer sollte sich in dem Meer von Häusern zurechtfinden? Ganze Viertel waren unfertige Ruinen, gebaut auf Sand. Die Landebahn lag außerhalb, war von der Verstädterung beinahe eingeholt worden. Wir hatten aufgesetzt. 11 Grade herrschten draußen, wusste der Kapitän. Das war angenehm, und es würde ein sonniger Tag werden.

    In der Halle zwischen Passkontrolle und Zollabfertigung verlor sich eine Handvoll Bankfilialen. Hier wurde ich unfreiwillig Hauptperson eines kleinen Dramas, als ich zwei meiner Reiseschecks gegengezeichnet hatte, der Angestellte jedoch partout Nuancen von Abweichungen in meinen Unterschriften erkennen wollte.

    »Das stimmt nicht ganz, da ist eine Kleinigkeit anders, der Abstrich, versuchen Sie den Bogen exakt so hinzukriegen«, hörte ich, und das änderte sich nicht nach der fünften Unterschrift.

    Zugegeben, die Schecks waren drei Jahre alt, und meine Unterschrift war seit dieser Zeit ein wenig breiter geworden. Schon als es damals beim Ausstellen der Schecks darum gegangen war, die 25 Exemplare mit Unterschriften zu versehen, war ich schludrig und in Eile gewesen, sodass mir jeder Scheck eine Winzigkeit anders geriet. Aber das waren bitteschön wirklich nur Nuancen.

    Fassungslos zeigte ich den Umstehenden, um Unterstützung bittend, den Scheck. Auch sie konnten im Prinzip keinen Mangel erkennen. Das Ganze roch gewaltig nach Schikane. Wollte man seine Macht auskosten oder unbedingt an Bardevisen kommen, denn danach wurde ich gefragt. Einer Touristin erging es nicht anders, und beide sahen wir uns bereits ohne Bargeld draußen stehen. Nachgeben und bei diesen netten Herren meine einzigen baren Dollars eintauschen? Diese waren meine Notgroschen für den Fall, dass ich einmal in eine Situation geriet, aus der nur Schmieren heraushalf. An dieser Stelle erfuhr ich, dass es jenseits der Gepäckkontrolle zwei weitere Bankfilialen gab, und was sprach dafür, dass es mir dort ähnlich ergehen würde?

    Es war ein wenig wie mit der letzten Chance herumpokern. Sollte ich vor den Augen des Mannes hinter der Glasscheibe zwei neue Schecks anbrechen oder die bereits unterschriebenen präsentieren? Ich setzte aufs Ganze.

    »Ach, Sie haben bereits unterschrieben«, sagte der andere, »und gleich so oft, das wäre nicht notwendig gewesen«. Anstandslos erhielt ich meine Rupien-Scheine, dicke zusammengeheftete Bündel mit Fünfzigernoten.

    Alles sah wieder rosig aus. Erleichtert versuchte ich mich draußen zu orientieren, ein Taxi oder einen Stadtbus zum Nationalen Flughafen zu erwischen. Heftig diskutierte ich die Preise mit einem Schwarm Taxifahrer und landete dann trotzdem am Schalter für »Prepaid Taxis«.

    Es war dort, wo mich der Bankangestellte von eben traf. Zu meiner Überraschung wedelte er mit etwas mir Bekanntem. Meinen Pass, meinte er, den hätte ich ihm sicherlich nicht schenken wollen. Ich war bestürzt. Den Verlust hatte ich gar nicht bemerkt. Das fing ja heiter an! Zugegeben, ich war übermüdet. Aber rechtfertigte das, gleich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit seinen Pass liegenzulassen? Das musste nicht kommentiert werden. Mitleidig sah mich das Paar aus Schweden an, das neben mir wartete. Sie hatten die Wechselszene drinnen mitbekommen, und jetzt das. Sie rieten mir, den Tag geruhsam in Delhi angehen zu lassen, Indien sei so ganz anders, und gerade das erste Mal könne man schnell ganz dumm dastehen.

    »Danke«, sagte ich, »dessen bin ich mir bewusst, und selbst wenn mein Missgeschick mich grün und tollpatschig aussehen lassen sollte, so habe ich Indien dennoch schon einige Male bereist.« Man wünschte mir Glück. Sie würden in Delhi bleiben, in der grünen Lunge mit den Botschaften und den Residenzen, wo sie Verwandte wohnen hatten.

    Im Taxi saß ich allein. Niemanden hatte ich auftreiben können, der sich eines mit mir teilen wollte. Ich hatte einen jungen Inder gefunden, der mich für 80 Rupien billiger als vorausbezahlte Taxis kutschierte. 120 Rupien, knapp 5 Dollar, waren für die circa sieben Kilometer genug. Sein Taxi parkte in einer Seitengasse und war eines von 50 anderen Schwarzgelben dort.

    »Jetzt bin ich also wieder in Indien«, stellte ich fest, als wir die Straßen entlangbretterten und vertraute Gerüche, Geräusche und Bilder auf mich einstürzten.

    Der Nationale Flughafen lag eingebettet zwischen einige Schnellstraßen und weites, in der Winterzeit verdorrtes Brachland. Draußen, vor dem Terminal für den Abflug, suchte ich den Schalter für Kurzentschlossene auf. Für alle Fälle hatte ich mir gleich mehrere Flugziele zurechtgelegt, denn fliegen wollte ich unter allen Umständen heute. Gemäß meiner Wunschliste stand Bhopal ganz oben auf. Diese Stadt, bekannt für ihren Chemieunfall, wurde jedoch erst wieder um 17 Uhr angeflogen, und das war mir zu spät. Khajuraho mit seinen klassisch-erotischen Tempelnymphen war sogar nicht vor übermorgen zu haben; Das Flugzeug nach Bagdogra wiederum, zu Füßen des Himalaya gelegen, hatte gerade eben abgehoben.

    »Wie steht es denn mit Bhubaneshwar«, insistierte ich, denn nach Bhubaneshwar wären auf meiner Liste die Notnägel wie Patna oder Kalkutta gekommen.

    »Die spinnen, die Touristen«, dachte der freundliche Mann mit der Schiffchenmütze jetzt bestimmt, weil es mir offensichtlich einerlei war, wohin ich fliegen würde. Dabei standen gezielte Überlegungen dahinter. Mit Bhubaneshwar an der Ostküste im Staate Orissa landete ich tatsächlich meinen ersten Volltreffer, und was das Beste war, ich musste nur eine weitere Stunde warten.

    Sofort hatte ich meine Kreditkarte gezückt, war um 164 Dollar ärmer geworden und fühlte mich trotzdem befreit, mehr als nur befreit von meinen Dollars. Nun lag mein Startpunkt fest. Ich würde zuerst einige Tage in Orissa verbringen und Tempel besichtigen, in Bhubaneshwar selbst, in der heiligen Pilgerstadt Puri und im benachbarten Konarak.

    Drinnen wurde ich mein Gepäck los und erhielt einen Gutschein, einen Bon für ein Getränk und einen Snack, der dann Hunger auf einen weiteren machte und Durst auf zwei weitere Tässchen starken Kaffee.

    Beim Warten trifft man die ungewöhnlichsten Menschen, zum Beispiel den kalifornischen Umweltminister, ein Mann um die 35, der in der Nähe von Bhubaneshwar einige Energieprojekte unterstützte. Er war zu einem Fachkongress und Meinungsaustausch eingeladen worden. Wir unterhielten uns angeregt, schade nur, dass sein Terminplan so eng sei, meinte er, sonst hätten wir uns irgendwo auf ein Bier getroffen. Das fand ich auch schade.

    Der Abflug verzögerte sich um anderthalb Stunden, eine Zeitspanne, die wir Passagiere im Rumpf des Flugzeugs brüteten, während uns der Kapitän von Zeit zu Zeit die Warteposition durchsagte. Erst 23, dann 19, die 12, die 7, gerade eben die 5 und jetzt die 2. Klang das nicht wie die letzten Lottozahlen? Damit rollten wir zum Start.

    Knappe zwei Stunden blieben wir in der bewegten Luft. Turbulenzen schüttelten uns bisweilen unsanft durch. Während dichte Wolkendecken das Zentralland verhüllten, herrschte in Orissa Sonnenschein. Wir flogen auf das dunstblaue Meer hinaus, fanden beidrehend die Küste wieder und steuerten die erdbraune Linie entlang. Zuletzt schwenkten wir landeinwärts, um in Bhubaneshwar aufzutreffen, wo uns 35 Grad Celsius empfingen.

    Mit mir die Sitzreihe teilten sich zwei junge Missionarinnen, Entwicklungshelferinnen einer großen deutschen kirchlichen Institution. Sie bereiteten sich vor, gingen Unterlagen durch. Gern hätte ich sie angesprochen, denn ich war neugierig, mehr zu erfahren, fühlte jedoch sehr wohl, dass ich sie mit meinen Fragen nur gestört, wenn nicht gar belästigt hätte.

    Solcherlei Unternehmungen stand ich von jeher sehr skeptisch gegenüber, trotz des sichtbaren Erfolges, der sich vordergründig einstellte, denn Hilfe schaffte auch Abhängigkeit; es vollzog sich ein einseitiger Wertetransport. Lieber wäre es mir gewesen, wenn sie indische Organisationen mit ihrem Wissen jedweder Art unterstützt hätten.

    Gerade vor dem Hintergrund, dass weite Teile Orissas unerforschtes Stammesland waren, indigene Völker, unter ihnen sogar Kopfjäger, die abgeschieden selbst von der Moderne Indiens lebten, nährte das in mir gewisse Befürchtungen. Diesen jungen Frauen und ihrer Organisation wollte ich dabei keineswegs Negatives unterstellen.

    Dennoch war ich an die evangelikalen Sekten der USA erinnert. Unter denen gab es aggressive Missionarsdienste, die sich rühmten, das Neue Testament in den entlegensten Hinterwald getragen und in den urtümlichsten Dialekt übersetzt zu haben. Der behutsamen Erforschung der Sitten, der Bräuche und des Sprachguts jener Völker hat das nie gedient, sondern hat vielmehr oft die Forschungsarbeiten der Wissenschaftler behindert, wenn nicht zunichte gemacht.

    Auf meinen Reisen, in erster Linie in Südamerika, hatte ich ein paar Mal die Gelegenheit gehabt, direkt mit evangelikalen Missionaren zu sprechen. Ich habe sie als naive Weltretter in Erinnerung, die aufgebrochen waren, die Welt vor dem Unglauben zu retten. Sie sagten mir offen, ihre Art, die christliche Nächstenliebe zu praktizieren, sei die Bekehrung. Sie begründeten das damit, dass ausschließlich durch Jesus Christus die Menschenseele gerettet werden könne. Und dazu seien manchmal strengere Mittel und Methoden der einzige Weg. Immer zum Wohle der besuchten indigenen Völker.

    Schon damals hatte mich das sehr traurig gestimmt. Nach dem Artensterben durch Raubbau und Monokulturen verloren diese unsere Erde und die Menschheit weitere Schätze von unschätzbarem Wert. Es gingen ihr die meisten Sprachen verloren, ihre Kulturen mit Folklore, Gedankengut und Legendenschatz. Wir verloren den größten Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und das Vermächtnis unserer Vorfahren, das Jahrzehntausende zurückreichte.

    Inzwischen wartete ich mit all den anderen, auf dass mein Gepäck auf dem Rollband erschien. Kofferträger strichen um uns herum und boten nimmermüde ihre Dienste an. Einer fragte mich wohl ein Dutzend Mal. Während ich stur steif dastand, damit, wie ich glaubte, mein Nein unterstreichend, tauchte der Kopf des kleinen Mannes bald links, bald rechts von mir auf, ein richtiger Kindskopf, der jedes Mal auf das Neue mit erstaunlicher Naivität anfing: »Sir! Please! No need help your baggage?« Es war, als habe er mit jedem neuerlichen Fragen völlig vergessen, dass er genau dasselbe eine halbe Minute zuvor schon einmal gefragt hatte, exakt dieselbe Tour. Wie froh war ich da, gerade auch für ihn, als er schließlich jemanden anderes fand, eine überaus korpulente Frau, mit der ich, ohne sie gesehen zu haben, ganz automatisch die enorme Anzahl Gepäckstücke assoziierte, die sich nachher als richtig erwies. Da musste der kleine Mann richtig ranklotzen.

    »So sieht also ein moderner Hofstaat aus«, dachte ich und räsonierte weiter, durchaus hämisch: »Nicht nur, dass dicke Menschen dick sind, auch ihr Umfeld ist aufgeblähter, ihren üppigeren Bedürfnissen und Wünschen angepasst. Sie haben ein größeres ›Einzugsgebiet‹«.

    Es gab einige Empfangskomitees, stellte ich fest. Der Umweltminister wurde empfangen, die Missionarinnen; der größte Staat aber wurde einem europäischen, wohlbeleibten Ordensmitglied der Krishna-Bewegung bereitet. Draußen auf dem Vorplatz wartete seine blassrosagewandete Schar mit einem Ständchen auf. Immer wieder traten Anhänger vor, um von ihm gesegnet zu werden. Während jeder demutsvoll den Kopf senkte und mit einem Knie den Boden berührte.

    Meine bescheidene Ankunft indes wurde, wenn überhaupt, von den wenigen Taxifahrern wahrgenommen. Den Gedanken, mit einer Fahrradrikscha ins Zentrum zu gelangen, hatte ich spätestens dann zugunsten eines Taxis verworfen, als ich erfuhr, wie weit es sei.

    Mein Taxi steuerte die breiten Alleen mit ihren Tamarindenbäumen entlang und schwamm mit im dichten Verkehr. Die Stadt machte einen gefälligen Eindruck, schien nicht überaus ärmlich zu sein und war dennoch mit einem Gürtel von Armensiedlungen umgeben, wenngleich das nicht so krass ins Auge fiel wie in so vielen Städten in Indiens Norden, beispielsweise in Lucknow. Das wollte jedoch nicht heißen, dass es nicht auch hier schreiende Armut gegeben hätte.

    Bereits im Zentrum, bogen wir zuletzt in eine der Seitenstraßen ein. Im Hotel, welches ich angegeben hatte, war ein einziges Zimmer übrig, und dieses auch nur bis morgen früh. Ich müsse es vor acht Uhr räumen, weil eine Gruppe vorbestellt habe. Darauf ließ ich mich nicht ein, und schon gar nicht, als ich das Zimmer gesehen hatte. »Für diesen Preis finde ich auch etwas anderes«, behauptete ich, zahlte den Fahrer aus und schulterte meinen Rucksack.

    Während ich die Hauptstraße entlangwanderte und die, laut meines Indienhandbuchs, in der Nähe gelegenen Absteigen abklapperte, geriet ich gehörig ins Schwitzen. Einige dieser Quartiere existierten längst nicht mehr, andere wiederum waren schlichtweg abstoßend. Eines war sogar der Gipfel aller Schäbigkeit. Und ausgerechnet für dieses Etablissement hatte ich zudem fast mein Leben aufs Spiel gesetzt. Mit wachsender Verzweiflung hatte ich endlich eine winzige Lücke im Verkehrsfluss entdeckt und war, wie vom Teufel gejagt, über die Straße gehetzt, knapp bevor ich von einem heranrauschenden Rudel Autos erlegt werden konnte. Viel hatte wirklich nicht gefehlt. Und dennoch war alles vergebene Mühe. Ein Stall sondergleichen war das gewesen, ein muffiges Loch. Deshalb dieselbe Übung riskanter Straßenüberquerung noch einmal in der entgegengesetzten Richtung.

    Das siebente Hotel hieß »Baghavan Niwas«. Entdeckt hatte ich es in einem Hinterhofgelände in der Nähe eines großen Restaurants. Hier pflegten Pilger abzusteigen, warum dann nicht auch ich, dachte ich, und haute keck auf die Tischglocke, obwohl die Rezeption besetzt war. »Ping!«

    »Yes, Sir? Room, Sir? Good room, Sir! Welcome Sir!«

    Bei so viel Sir schrieb ich mich gern ein. Aber erst, nachdem ich den Preis ein wenig zu drücken vermocht hatte. Das Personal war freundlich. Die auf der Empfangstheke stehende Hausgottheit hielt ein Räucherstäbchen in einer ihrer vier Hände und blinkte dazu stereotyp mit ihren roten Diodenaugen. Während der betörend süßliche Duft mich einlullte und mit der Hektik von vorher da draußen versöhnte. Ich atmete durch. Nach 20 Stunden Anreise war ich glücklich angekommen.

    Mein Zimmer lag im dritten Stock direkt unter dem Dach. Vor den Fenstern gurrten die Tauben. Eine Dusche war hochwillkommen, und nachdem ich mein Moskitonetz installiert hatte, ruhte ich mich eine volle Stunde aus, ließ guten starken Schwarztee mit Milch und Zucker kommen und studierte Wissenswertes über Bhubaneshwar.

    Später machte ich mich auf zum Tempelbezirk. Vielmehr glaubte ich das. Dass ich in die ganz falsche Richtung unterwegs war, erfuhr ich erst, als die erhofften Tempel ausblieben, weshalb ich einen Passanten fragte. Mein Irrtum war nicht schlimm und würde sich mit einer Rikscha korrigieren lassen.

    Zunächst aber kehrte ich in das erstbeste Straßenlokal ein, welches, wie so oft in Indien, auf der ganzen Breite zur Straße hin offen war, und zu dieser Zeit wie erwartet voll besetzt. Ich fand meinen Platz an einem wackeligen Tischchen im Eck, von wo aus ich das lebendige Straßenbild beobachtete, den ewigen Zug aus buntem Fußvolk, Fahrrad- und Motor-Rikschas und irrlaufenden Kühen. In beiden Richtungen.

    Der Zeitungsjunge sah vorbei und drückte sich stumm bittend zwischen den Tischen herum. Wie mein Nachbar, der seinen Schmerbauch an der Tischkante einklemmte, um besser an seine fetttriefenden Curryspeisen heranzukommen, nahm ich ihm ein Exemplar der Hindu Times ab, der englischen Ausgabe allerdings. Die ich dann halbherzig zur Hälfte las und für den nächsten Gast liegenließ. Inzwischen hatte spürbar die Hitze nachgelassen. Das Licht war klarer geworden, Grund genug, mich wieder dem Schmutz der Straße anzuvertrauen. Und ich winkte eine Rikscha herbei.

    Mein Rikschafahrer war ein schmächtiges drahtiges Männlein in kurzen Hosen. Unermüdlich trat er die lange Straße bergauf über eine Hügelkuppe und ließ danach zwei Kilometer ausrollen. Hier war die Gegend buschig grün. Die ersten Tempelbauten zeigten sich, quasi nur zur Einstimmung, denn wir rauschten an ihnen vorbei. Sie schienen nicht das begehrte Ziel zu sein, weder für die Pilger noch für die Touristen. Umso mehr nährten sie meine Erwartungen, gerade was die anderen Tempelanlagen betraf.

    Am Ufer eines sehr weitläufigen Teiches war die Fahrt zu Ende. »Bindu Sarovara«, sagte der Rikschamann, als ich ihn auszahlte. Der Bindu Sarovara, auch Bindu Sagar, war ein künstlich angelegter Wasserspeicher und diente den Pilgern für ihre rituellen Waschungen, einstmals wie heute. Eingefasst war er von steinernen Geländern und den Ghats, den uferfüllenden Treppenstufen, die den Pilger sicher ins Wasser geleiteten, sogar bei variierenden Wasserständen, zur Monsun- wie zur Trockenzeit.

    Aus der Mitte erhob sich eine Insel aus dem schillernden Wasser. Was auf den flüchtigen Blick wie Felsen aussah, waren die bröckelnden, von Bäumen durchsetzten Gemäuer eines Wasserpavillons.

    Einmal im Jahr macht die Tempelgottheit des Lingaraja, des größten Tempels von Bhubaneshwar, einen Ausflug zu diesem Jala mandir. Während des religiösen Festes wird dort das Bildnis des Lingaraja, des Königs der Lingams, rituell gebadet und gereinigt. Wobei generell der Lingam Symbol für das formlose universelle Bewusstsein von Gott Shiva ist, und oft als zylindrischer Säulenstumpf dargestellt wird.

    Der Bindu Sarovara ist gewiss ein ganz besonderer See. Es steht geschrieben, er erziele die besten Reinigungseffekte, was die Sünden anbelangt. Warum? Weil er Wassertropfen aus jedem heiligen Strom, See oder Tümpel der Erde enthält, der Himmels- und selbst der niederen Welten. Und nicht nur das, auch Nektar und heiliges Ghee.

    Sah ich ihm das an? Wohl kaum. Als westlicher Mensch kam ich nicht einmal auch nur auf die Idee, den kleinsten meiner Zehen in diese Brühe zu tauchen, in der die Algen so gut gediehen, auf den die Sonne täglich herniederknallte, sodass der Geruch von Schlick, Moder und Fäulnis in der Luft hängenblieb wie ein feiner Schleier, den keine Hand vermocht hätte, beiseitezuschieben. Was, wie ich mit eigenen Augen sehen konnte, fromme Pilger nicht davon abhalten konnte, hier in den Abendstunden ihr reinigendes Bad zu nehmen.

    Aber heißt es nicht, dass der Unreine seine Mitwelt ebenfalls als unrein erfährt? Vielleicht war ich einfach noch zu wenig geläutert, als dass ich hier, wie mancher Pilger, göttlichen Nektar, Milch und Honig gesehen hätte.

    Und wenn jetzt jemand glaubt, allein dieses auf Schlick gründenden, algenbefrachteten Teiches wegen hätten die Menschen der Vergangenheit diese Stadt Bhubaneshwar gegründet, indem sie die stattliche Zahl von nicht weniger als 7000 Tempeln um das Wasser herum errichteten, nebst allen Einrichtungen, denen ein Pilgerrummel bedarf, dem sage ich offen ins Gesicht: Gewiss, so ist es.

    Es muss ein heiliger Platz von höchster religiöser Bedeutung sein, dass die Menschen so viele Tempel »auffahren«, um wem zu huldigen? Der Name der Stadt verrät es bereits. Es ist Shri Bhubaneshwara, und der ist nichts weniger als der »Herr der Welt«. Strenggenommen und eigentlich sogar Shri Tribhubaneshwara, »Herr über die drei Welten«. Und dieser Herr der Welt ist niemand anderes als Shiva.

    Was Shiva nun mit dieser Stadt Bhubaneshwar verbindet und was überhaupt Bhubaneshwar so besonders macht, das gehörte für mich unbedingt zum Begleitwissen meiner Besichtigung. Ich möchte es an dieser Stelle näher ausführen:

    Bereits im ausgehenden Altertum war Bhubaneshwar das Ziel der Pilgerscharen gewesen. Die Brahma-Purana-Schriften erwähnen den Ort als Ekamra Kshetra. Das Sanskritwort Ekamra meint Mangohain. Kshetra heißt besondere Stelle, besonderer Platz; ein Bezirk, der entweder der Wohnsitz einer Gottheit ist oder in der Vergangenheit durch eine Gottheit oder ein heiliges Ereignis gesegnet und gereinigt wurde.

    Tirtha hingegen meint Furt und ist immer mit Wasser verbunden, ein heiliger Strom, Fluss, Teich, See, eine Quelle oder sogar eine Stelle am weiten Ozean. Die heiligsten Kshetras, die viele Tirthas beinhalten, sind Dhamans, Stätten. An allendiesen besonderen Stellen ist es für den Pilger besonders leicht, die letztendliche Befreiung zu erlangen, Moksha, sich aber auch von Krankheiten und sonstigen Hindernissen im Leben zu befreien, Läuterung zu erfahren. Eine Furt, Tirtha, ist im weltlichen Sinne eine Stelle am Fluss, die den Übergang vom einen zum anderen Ufer erleichtert. Metaphysisch betrifft das hier den Übergang von Samsara ins Nirvana. Eine Tirtha kann demnach als Berührungspunkt der verschiedenen Seinsebenen betrachtet werden, Übergänge von der irdischen Welt in die feinstoffliche und in die Kausalwelt, Bhur, Bhuvah, Svaha. Wo sich die Seinsebenen berühren oder durchdringen, sind sie durchlässig, auch für Gottheiten, die sich dann in unserer Welt manifestieren können.

    Am Bindu Sagar: Brahma-Tempel (oben);

    Blick hinüber zum Ashtashambhu-Shiva-Tempel

    Sideshwara-Tempel (oben);

    Zebus, Buckelrinder

    Bevor wir an dieser Stelle fortfahren, sollten wir ein wenig über die Puranas Bescheid wissen. Die Puranas, wörtlich: »alte Geschichten«, entstanden überwiegend zwischen dem 4. und 10. Jahrhundert, gehen jedoch auf viel ältere Überlieferungen zurück.

    Durch die Puranas erfuhr das Aufkommen der Kshetras eine Vermehrung und damit einhergehend das der Tirthas, deren Zahl in die Tausende ging. Ein Umstand, der Indien ab dem 4. Jahrhundert seinen bis heute anhaltenden Pilgerrummel bescherte und vom 6. bis 10. Jahrhundert enorme Tempelstätten und Tempelstädte hervorbrachte, unter ihnen gerade auch Bhubaneshwar und das benachbarte Puri. Es darf als gesichert gelten, dass diese bereits heilige Stätten waren, lange bevor die Bautätigkeit höchste Blüten erfuhr.

    Im vierten Jahrhundert begannen Indiens Dichter und Poeten, den Reichtum an Geschichten und Legenden im Lande aufzusammeln, zusammenzustellen und zu verschriftlichen, der über die Jahrtausende nur mündlich tradiert worden war. Dass dabei munter hinzugedichtet und blumenreich ausgeschmückt wurde, war in Poesie und Dichtkunst weit verbreitet; weshalb in der historischen und archäologischen Forschung die Puranas als Quelle nur zögerlich herangezogen werden. Zu vage und zeitlich nicht einordenbar ist das, was uns schriftlich vorliegt. Überhaupt, was ist Mythos und was beruht auf historischen Tatsachen?

    Unumstritten ist, dass durch die Puranas in Indien eine Bewegung in Gang gesetzt wurde, die zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert zu einer Hochblüte des Tempelbaus an den in den Puranas erwähnten besonderen heiligen Stätten führte. Die Zahl der Tirthas wurde geradezu inflationär; nicht so sehr die der Kshetras, aber auf einem Kshetra kann es durchaus zehn oder mehr Tirthas geben.

    Das benachbarte Puri ist ein ebensolch ganz besonderer Kshetra. Es ist der Platz Krishnas, ursprünglich als Purushottama Kshetra erwähnt, der Platz des höchsten Wesens. Shiva, von seinem Kshetra aus, wacht über Krishnas Platz, um ihn mit all seinem Vermögen und seiner Hingabe zu schützen.

    Die Geschichte, wie Shiva zum Herrn der Welt, Bhubaneshwara, an der Stelle »Ekamra Kshetra« wurde, indes liest sich vordergründig, als sei Shiva Krishna vom Rang her untergeordnet. Das aber ist die Sichtweise der Anhänger des Vishnuismus, also der Vaishnavas. Die Shivaiten hingegen, die Anhänger des Shivaismus also, sehen das bestimmt nicht so. Warum? Ganz einfach, weil es das erste Mal gewesen wäre, dass Menschen einer Religion folgen, von der sie nicht annehmen, sie sei die höchste Wahrheit, der höchste Gott. Wir Menschen funktionieren so, dass wir uns im Grunde unseres Herzens nicht mit dem Zweitbesten zufriedengeben. Es sei denn, wir hielten es für das Beste, weil wir es nicht anders wissen oder fest daran glauben.

    Hierarchien haben von jeher etwas Egohaftes, dem Stolz und Überheblichkeit anhaften. Demnach schreiben die Vaishnavas Shiva Überbleibsel von Ego und somit Unvollkommenheit zu, womit sie ihn zu einem Halbgott degradieren. Will sagen, wir sehen uns diese Geschichte am besten einmal näher an.

    Eines Tages entbrannte zwischen Brahma und Vishnu ein heftiger Streit, wer von beiden der Größere sei. Sie kamen zu keinem Ergebnis, als plötzlich Shiva in Gestalt einer Feuersäule erschien, die sich quer durch das Universum erstreckte.

    »Im Grunde ist es ganz einfach«, sprach Shiva, »der größere von euch beiden ist selbstverständlich der, der zuerst eines der beiden Enden dieser Säule findet.«

    Da nahm Brahma die Gestalt eines Schwans an und flog in die eine Richtung, während Vishnu zum Eber wurde und in die andere Richtung verschwand. Wie weit sie auch gelangen mochten, es zeigte sich immer dasselbe Bild: Die Säule nahm und nahm kein Ende. Und da sie kein Ende finden wollten, kehrten die Kontrahenten schließlich ergebnislos zurück. Kleinlaut mussten sie sich eingestehen, dass ihr Streit etwas Egohaftes hatte und vor allem, dass nur das, was keinen Anfang und kein Ende besaß, das Größte sein konnte, und das war Shiva.

    Der Lingam symbolisiert das formlose allumfassende Bewusstsein, den Urgrund, aus dem sich das sichtbare Universum immer wieder manifestiert und in den es sich wieder auflöst. Nur im Sinne des schöpferischen Aktes lässt sich verstehen, dass Religionswissenschaftler den Lingam gern auf einen primitiven Phalluskult des Zeugens reduzieren. Und das greift selbstverständlich zu kurz. Er ist vielmehr der formhafte Ausdruck des Formlosen und zeigt dieses Paradoxon.

    Für die Vaishnavas ist, wie erwähnt, Vishnu die höchste Gottheit, und Krishna einer der zehn Avatare Vishnus. Als Vollinkarnation Vishnus nimmt Krishna sogar eine Sonderstellung ein. Shiva hat man in das System einfach mit aufgenommen und integriert.

    Vor langer Zeit hatte Shiva seinen Kshetra nebst Tirtha in Kashi am heiligen Ganges. Kashi ist der alte Name für Benares, und Benares heißt heute Varanasi und ist eine der heiligsten Stätten Indiens und das Zentrum des Shivaismus. Der Kashi Dham beherbergt den Kashi-Vishwanath-Tempel, in dem einer der zwölf über ganz Indien verteilten Jyotirlinga wohnt. Jyotis bedeutet Licht, was Bezug auf die Legende mit der unendlich großen, alle drei Welten durchmessenden Feuersäule nimmt.

    In Kashi herrschte einstmals ein König, der Shiva so sehr verehrte, dass er sich die strengste Askese auferlegte, um Shiva zufriedenzustellen. Seine wahren Beweggründe verbarg er. Er wollte Krishna besiegen und würde das nur mit Hilfe der Macht Shivas erreichen. Und tatsächlich: Shiva war sehr zufrieden mit den Huldigungen und Opfergaben, die er erfuhr. Also zeigte er sich dem König und versprach ihm, er werde ihm einen lang gehegten Wunsch erfüllen.

    Am Bindu Sagar (oben);

    Altstadtgasse in Bhubaneshwar;

    > Aishanyeshwara-Shiva-Tempel (13. Jh.), Nähe B.M.C Hospital

    Wie erschrak Shiva, als er vernahm, er solle dem König helfen, gegen Krishna zu Felde zu ziehen und diesen vernichtend zu schlagen. Andererseits war er an sein gegebenes Versprechen gebunden und durfte es nicht brechen. Daran sieht man, wie töricht es ist, jemandem etwas kategorisch zu versprechen, ohne zu wissen, auf was man sich da einlässt.

    So kam es unweigerlich zum Kampfe. Doch Krishna wehrte sich. Als Avatar Vishnus war er im Besitz von dessen Sudarshana chakra, der fürchterlichsten Waffe des ganzen Universums. Krishna setzte dieses Waffenrad frei, welches, scharf wie ein Rasiermesser und irrsinnig schnell rotierend, auf die Gegner losflog und zuerst dem König das Haupt vom Rumpfe trennte und dann allen anderen aus des Königs Gefolge und den Anhängern Shivas. Von der Stadt Kashi blieb kaum einer übrig, die zahllosen Leichen zu beklagen und zu verbrennen. Kashi war wie ausgelöscht.

    Und Shiva? Er hatte den Pashupata astra freigesetzt, seine sternartige Waffe, die ebenfalls Verheerungen anrichten konnte, jedoch dem Sudarshana chakra hoffnungslos unterlegen war. Am Ende bekam Shiva es mit der Angst zu tun. Wohin aber sollte er fliehen? Kein Platz im Universum hätte ihm Schutz oder Versteck geboten, nicht vor Vishnu, dem Allerhöchsten. Als ihm dies ins Bewusstsein dämmerte, gab der Halbgott auf. Er unterwarf sich Krishna und gelobte, ihm fortan selbstlos zu dienen. Nun brachte er selbst Opferungen und Huldigungen dar. Worauf auch ihm ein Wunsch gewährt wurde. Vielmehr hatte Shiva den Wunsch nicht direkt geäußert, sondern eher klagend gefragt, wohin er denn nur solle, jetzt, wo sein Wohnort Kashi zerstört war.

    »Passet auf, o Shiva«, sprach Krishna, »ich kenne da einen Kshetra gar nicht fern von meinem eigenen gelegen. Nimm diesen Ekamra Kanan als dein Eigen, werde der Beschützer und Wächter meines Purushottama Kshetra, und man wird dich als den Herrn der Welt verehren und preisen.« So geschah es, dass Shiva diesen Mangogarten als sein Eigen nahm und zum Beschützer der heiligen Plätze wurde, zum Kshetrapala. Als dieser findet er gerade auch bei den Vaishnavas Verehrung, die Vishnu und insbesondere seinen Avatar Krishna als den höchsten Gott verehren, als den all-einen Gott. Für sie sind Shiva, Brahma, Indra und alle anderen nur Halbgötter, jedoch als diese unbedingt verehrungswürdig, weil sie selbstverwirklicht sind und dem Höchsten dienen.

    Hier wäre diese Geschichte eigentlich zu Ende erzählt, denn wir wissen nun, warum an diesem Ekamra Kshetra seither und bis auf den heutigen Tag Shiva gehuldigt wird. Ab dem fünften Jahrhundert wurden hunderte Lingam-Schreine errichtet, jedes Mal größere Tempelanlagen für die wachsenden Pilgerzahlen gebaut und gestiftet. Die Heiligkeit des Ortes war weithin sichtbar, und wo der Ort unsichtbar war, dorthin verbreitete sich der Ruhm.

    Bhubaneshwar war die Hauptstadt des Kalinga-Reiches. Die hier vom 5. bis 9. Jahrhundert ansässige Kesari-Dynastie und die nachfolgenden Ganga-Könige förderten den Kult und den Tempelbau nach Kräften, denn es war nicht zuletzt ihrem und des Reiches Prestige dienlich. Zudem bescherte es hohe Einnahmen.

    Auch die Stadt Kashi fand nach und nach zu altem Glanze zurück. Shiva wurde dort nach wie vor verehrt, sodass dieser fortan zwischen zwei Wohnsitzen pendelte, etwas, was uns modernen Menschen nicht fremd ist. Eines guten Tages nun enthüllte Shiva seiner Gattin Parvati, er ziehe Ekamra Tirtha Kashi vor. Da wurde Parvati neugierig, zumal ihr Gemahl seine Zeit immer öfter dort verbrachte. Sie begab sich also an diesen Ort. Was sie dort erblickte, war ein riesiger Lingam, der Maha-Lingam, dem sie sofort ein Opfer darbrachte.

    Am nächsten Tag beobachtete sie etwas Befremdliches. Eine Herde aus hunderten Kühen tauchte aus einem See auf und machte sich auf den Weg zum Maha-Lingam, diesen mit der Milch ihrer Euter zu übergießen. Danach umwandelten die Kühe viele Male den Maha-Lingam und verschwanden schließlich, wie sie gekommen waren.

    Als sich am folgenden Tag das Schauspiel wiederholte, nahm Parvati die Gestalt einer Kuhhirtin an und folgte den Kühen. Dabei wurde sie von den beiden Dämonen Kriti und Vasa gesehen¹. Der Anblick der anmutigen Mädchengestalt verzauberte diese so sehr, dass beide Dämonen um die Hand der gopalini anhielten. Die Kuhhirtin lachte, mischte sich unter die Kühe und verschwand. Sie war zu Shiva zurückgekehrt, um ihm zu berichten.

    Shiva machte sich nun selbst auf den Weg und beobachtete in der Gestalt eines harmlosen Kuhtreibers die beiden Dämonen. Sobald er Kriti und Vasa ansichtig wurde, enthüllte sich ihm die Wahrheit über die beiden Gesellen. Sie waren die gefährlichen Söhne des weitaus schrecklicheren Dämonen Rakshasa Drumila. Jener hatte sich durch das Anbeten vieler Halbgötter deren Segen erschlichen. Ihm wurde der Wunsch erfüllt, seine Söhne würden durch keine Waffe der Welt getötet werden können. Sofort kam dem listigen Shiva die Idee, und er bat Parvati: »Du wirst zurückkehren und die beiden Dämonen töten, denn nur du allein bist dazu imstande, ganz ohne Waffengewalt.«

    Die bezaubernde Kuhhirtin war mit ihren Kühen nicht lange allein. Bald hatten Kriti und Vasa die Schöne zwischen sich genommen und ihren Heiratswunsch wiederholt, keine Bitte, sondern eine Forderung. Die Kuhhirtin jedoch lachte abermals. Dann sagte sie: »Ihr beiden prachtvollen Burschen wollt mich also heiraten. Gut, einverstanden, aber unter einer Bedingung: Leider kann ich nur jemanden zum Manne nehmen, der stark genug ist, mich auf seinen Schultern oder seinem Kopfe zu tragen.«

    »Nichts ist leichter als das«, freuten sich die Dämonenbrüder siegessicher und prahlten, es gäbe keine Stärkeren als sie auf der Welt. Dann halfen sie dem Mädchen auf ihre Schultern hinauf. So schritten sie denn eine Weile als Dreigespann einher, Kriti und Vasa nebeneinander, die zarte Kuhhirtin zwischen sich genommen, ein Füßlein auf Kritis, das andere auf Vasas Schulter abgestellt. Wie die Dämonen da triumphierten! In ihrem Überschwange wollten sie sich zunächst nicht eingestehen, dass ihre Last mit jedem Schritt drückender wurde. Parvati indes machte sich schwerer und schwerer. Am Ende war sie so schwer geworden, dass die Dämonen jäh zusammenbrachen und zu Boden gedrückt wurden. Rasch hatte Parvati ihre Füße auf der beiden Häupter gestellt und die Dämonen unter ihrer Last endgültig zerquetscht. Auf diese Weise hatte Parvati tatsächlich, ohne eine Waffe anzurühren, Kriti und Vasa erledigt.

    Aber die Sache war anstrengend gewesen, und darüber war Parvati mächtig müde und durstig geworden.

    Shiva, als er dies sah, bohrte mit seinem Dreizack ein Brunnenloch oben in einen nahen Hügel. Aber seine Göttergattin war nicht zufrieden und sagte: »Mich verlangt es nach Wasser aus einem Teich, der auf ewige Zeiten hier bestehen wird.« So schuf Shiva denn mit Hilfe seines Reitstieres Nandi diesen See Bindu Sarovara. Vielmehr bereitete er dem See das Bett. Noch war es leer. Nun kamen auf sein Geheiß alle heiligen Flüsse und Tirthas der drei Weltgegenden und spendeten ihr Wasser Tropfen für Tropfen, Bindu für Bindu. Dann nahmen alle Gottheiten und Halbgötter ein rituelles Bad und segneten den Ort.

    Daraufhin bezogen Shiva und Parvati beide hier Wohnstatt, die als Kritivasas oder Lingaraja bis heute Verehrung findet, oder eben als Bhubaneshwar, was sich als »Wohnsitz des Herrn der Welt« übersetzt.

    Und da lag dieser See bis heute. Das jenseitige Ufer des Bindu Sarovara spiegelte sich samt seiner Tempelumrisse im Wasser wider. Ein Bild, das in mir Begeisterung entfachte. So in etwa hatte ich mir diesen Besuch ausgemalt. Vergessen war das eher negative Bild, das ich vom Zentrum Bhubaneshwars gewonnen hatte, ein Bild überwiegend trostloser, staubiger und ärmlicher Färbung. Es war wohl eher der neuerlichen Konfrontation mit Indien entsprungen, der mangelnden Gewöhnung an das heiße Klima, zuzuschreiben auch der Müdigkeit und nicht zuletzt meiner Einsamkeit seit dem Abflug.

    Ich setzte mich auf die Geländermauer und ließ für eine Weile alles auf mich einströmen. Dann tat ich einige Schritte bis zum Ende des Sees, wobei ich die von der Spätnachmittagssonne angestrahlten Fassaden der Häuser bewunderte, sowie alle die vielen buntgekleideten Menschen, die mir entgegenschritten oder auf großen schwarzen Fahrrädern entgegenschaukelten. Viele lächelten mir zu, ein Bild dörflichen Friedens, ein Kontrast zur eher nervösen Hektik im Zentrum der Stadt.

    Hinter einer hohen Mauer machte ich einen bis zur Spitze mit steingemetzten Ornamenten ausgestatteten Tempelturm aus. In der Mauer gab es einen schlichten Zugang, der von zwei steinernen Tieren bewacht wurde. Die Torsos waren so verwittert, dass sich ihre Gattung nur mehr erahnen ließ. Tatsächlich waren es Löwen.

    Nachdem ich meine Schuhe draußen in einer Ecke geparkt hatte, schlüpfte ich durch das steinerne Portal in einen Tempelhof. Ein Junge hatte mich dazu ermuntert und begleitete mich nun mit hinein. Seitdem blieb er im Inneren des Tempels verschwunden, wohin ich ihm nicht nachfolgen wollte. Vielmehr umrundete ich jetzt staunend das phallusartige Bauwerk, fotografierte hier und dort, vor allem den großen lingam-förmigen Tempelturm des Ananta-Basudeva-Tempels, der über und über mit Figuren und Rosetten verziert war.

    Auf der Hinterseite standen steinerne Hütten, in denen all die Sadhus und Asketen hausten, wenn sie nicht, wie zu dieser Zeit, im Tempel beschäftigt waren. Zwei traten heraus, und ich wurde herangewinkt.

    Einen Moment lang zögerte ich, kam ihnen dann entschlossen entgegen, fand meinen Weg zwischen steinernen Trögen und Bodenrinnen hindurch, in denen es nach gegorener Milch roch. Der Boden war schmutzig von Asche, Fett und Tran.

    Die Asketen hatten ihre nackten ausgemergelten Oberkörper mit weißer Asche bemalt. Ihr langes Haar war verfilzt und zottig. Einer hatte seine wirren Zotteln in blutroter Opferfarbe getränkt. Sie alle hatten ihr Leben ganz der Verehrung Shivas gewidmet.

    Im Tempelinneren angekommen sah ich mich neugierig um. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte ich fest, dass der Deul, der Tempelturm, innen bis weit unter die Spitze hohl war.

    Es gab mehrere, ineinander übergehende Kammern. In der zweiten bereitete man gerade Prasad auf einer offenen Feuerstelle. Flammen schlugen aus dem Bodenloch und züngelten um den verrußten Pott herum. Nur innerlich widerstrebend ließ ich mir von der heiligen geweihten Speise aufdrängen, bekam von der grünen, überraschend wohlriechenden Pampe auf die rechte Hand geklackst. Ich bedankte mich artig, ballte jedoch die Hand behutsam zu einer Faust, wie um die heilige Speise zu schützen. Dabei war ich entschlossen, den schmierigen Brei nicht zu essen. Den hygienischen Verhältnissen misstraute ich gründlich, wollte aber gleichzeitig niemanden beleidigen. Also verbeugte ich mich in Richtung des Schreines, einer mit Blumen bedachten schwarzen Götterstele in der hinteren Kammer. Wobei ich offenbar zwei Schritte auf die Gottheit zuging. Prompt wurde ich von zwei der Jüngeren zurückgehalten, die den Asketen zur Hand gingen. Sie hatten wohl befürchtet, ich könnte in das Heiligtum eintreten wollen.

    Keine Sorge, ich gedachte nicht, den Ort zu verunreinigen, dadurch dass ich kastenlos war oder ein Glaubensfremder. Ich verbeugte mich noch einmal tief und ehrerbietig vor dem ältesten der Yogis und verließ den Tempel auf der anderen Seite, nicht ohne einige Münzen gespendet zu haben. Eine solche Gabe wurde erwartet, und man blickte mir nach.

    Draußen beim Bindu Sarovara versuchte ich, meine Hand an einem Felsen abzuwischen, was mir einigermaßen unbeobachtet gelang. Den Gedanken, meine Hände im heiligen Wasser zu reinigen und ihm dabei gleichzeitig und zwangsläufig Prasad zu opfern, hatte ich als ziemlich dreist verworfen.

    Nach dieser kleinen Begegnung setzte ich meinen Weg fort, inzwischen im rötlichen Schein des Abends, der den gesamten Bezirk in ein angenehmes Licht tauchte. Unablässig kamen mir bunte Gestalten entgegen. Da gab es weißgewandetes Pilgervolk mit Bettelstab, aber auch Anwohner, Kinder und Frauen in farbenfrohen Saris. Und abgemagerte Kühe. Es war ein Strom, der nie abreißen wollte.

    Dazu passte auf der einen Straßenseite die glitzernde Seefläche hinter der niedrigen Mauer aus weißem Stein. Auf der anderen Seite warteten Tempelbauten, rötlich verputzte hohe Häuser und Schreine. Die Fassaden der letzteren waren mit Szenen aus der hinduistischen Mythologie plastisch ausgestaltet, eine mit dem pausbäckigen Affengott Hanuman.

    Altstadt Bhubaneshwar: Bindu Sagar Road trifft Rath Road (oben wie unten);

    > Ananta-Vasudeva-Tempel (13. Jh.)

    Das Sträßchen führte mich auf einen weiten Platz, in dessen Zentrum ein uralter Baum stand. Seine mächtigen Äste waren so weit in den Platz hineingewachsen, dass er ihn eindeutig beherrschte. Alles in diesem Rund schien er unter seine Fittiche genommen zu haben, er hielt seine belaubten Schwingen wie zum Schutz ausgebreitet. So war der Baum denn ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt, seit er zu diesem Zweck schon vor Generationen mit Sitzsteinen eingefasst worden war.

    Rund um den Platz herum gruppierten sich kleine Läden, Stände und Buden; mit Esswaren, Getränken und, unausbleiblich, allerlei Pilgerbedarf wie Heiligenbilder, Blumen, Opferfarben und Räucherwerk. Der berühmte Lingaraja-Tempel lag unweit hinter einer hohen Mauer, welche die Tempeltürme wie Köpfe über sich aufragen ließ.

    Da wurde ich angesprochen, ob ich den Lingaraja denn gegen einen Obolus sehen wolle.

    »Wie denn«, gab ich zurück, »wenn Nichthindus der Eintritt verwehrt ist?« Tatsächlich existierte diese steile Treppe hinauf auf eine Plattform oben auf der Mauer. Leider war das Gegenlicht für Fotos nicht ideal, weshalb ich die Burschen auf morgen früh vertröstete, gleich wie diejenigen Leser, die mehr über den Tempelkomplex zu erfahren hoffen.

    Nachdem ich mir an einem der Stände eine Limca-Limonade gegönnt und einen Schwatz gehalten hatte, stand wenigstens die Umrundung der von der hohen Mauer ringsherum eingeschlossenen riesigen Tempelanlage an. Einer der Gassen folgend genoss ich immer wieder unverstellte Ausblicke auf die grandiosen Tempeltürme. Einige waren von abenteuerlichen Gerüsten eingerahmt. Es wurde restauriert und weggeputzt, was der saure Smog hinterlassen hatte. Der höchste Lingam jedoch stand vollkommen frei. Er maß an die 60 Meter, und auf seinem abgeflachten Haupt wehte träge eine rote Fahne, das Banner Vishnus.

    Besonders entzückte der dörfliche Charakter des Umfelds, weil sich Bhubaneshwar hier verlor, in den Feldern mit ihren Bewässerungsgräben, den Hecken und den Palmenhainen. Hinter manch einem sattgrünen Reisfeld ragte ein kleinerer Lingam-Tempel auf, ein schlichter, Shiva geweihter Bau aus der Frühzeit der Bauperioden. Er hatte aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert überdauert, und noch heute huldigte ihm die Dorfbevölkerung wie einst.

    Ziellos streunte ich weiter durch das Tempelviertel, bis es merklich dämmern wollte. Hier erstreckte sich die Altstadt mit ihren bröckelnden Lehmmauern, den kargen Grasnarben, welche die Buckelrinder ungern ungeschoren ließen, ihren Wohnhäusern, die der Buntheit nur wegen der hier und dort aufgeleinten Wäsche nicht entbehrten. Dazwischen gesät einfache Pilgerherbergen, willkommenes Obdach für greise Pilger.

    Ich bemerkte sie kaum mehr. Sie gehörten eben zum Alltag, die auf die Knochen Abgemagerten mit schwarzer Haut wie Leder, barfuß, nur einen Dhoti um die Lenden gewickelt und einen Tuchfetzen um den Kopf geschlungen. Ich schnupperte bald hier, entdeckte bald dort, wurde selbst neugierig beäugt, nie jedoch argwöhnisch.

    An einer der Hauptstraßen überraschte ein baufälliges Haus, das mit einer Art Jugendstilfassade aufwartete, Ornamentik mit hinduistischen Motiven, Beweise vergangener Blütezeiten. Die drei Buckelrinder davor glotzten, mechanisch wiederkäuend, der sinkenden Abendsonnenscheibe nach, die wie ein blutroter Ball über den Dächern stand. Die Tiere verschönerten das Bild, ohne es jemals zu wissen.

    Auf dem Rückweg schaukelte ich, neuerlich in einer Rikscha sitzend, an weiteren Tempeln vorüber. Diese gedachte ich, morgen früh in näheren Augenschein zu nehmen. Zunächst hatte ich das Angebot des freundlichen Fahrers ausgeschlagen, mich dann jedoch umbesonnen, nachdem er eine Weile neben mir hergeradelt war und wir uns unterhalten hatten. Zehn Kinder wollte er haben. Er schien mir sehr stolz zu sein, und ich dachte nur an seine arme Frau, die Gebärmaschine.

    Wir machten einen kleinen Abstecher ins Hinterland, vorbei an einigen Tempeln und stilvollen Häusern, die in verwilderten Gärten standen. Der besonders formschöne und kompakte Tempel Parashurameshwara besetzte den Platz zwischen zwei riesigen Pipalbäumen. Hier ließen wir uns ein Weilchen auf einem Mäuerchen nieder, in der ebenso lauen wie schwülen Abendbrise. Und ich ließ mich bereitwillig ausfragen.

    Den Platz für mein Abendessen fand ich in einem Hotelrestaurant ganz in der Nähe meiner Bleibe. Ich bestellte diverse nordindische Currys. Das Gericht kam so, wie ich es am liebsten hatte, wenngleich mir ob der Schärfe der Speisen der Schweiß aus allen Poren trat. Bald war mein T-Shirt sichtbar durchtränkt, und die Papierservietten wollten gar nicht ausreichen, die salzige Soße aufzusaugen, die da von meinem Haaransatz troff und mir über Stirne und Wangen rann. Mit erfrischender Lime Soda, Limetten-Limonade, die mit einigen Prisen Salz versetzt war, löschte ich wenigstens meinen Brand.

    Lange blieb ich später ausgestreckt unter meinem Moskitonetz auf meiner Pritsche liegen und lauschte der fremden Geräuschwelt, dem unterschwelligen Gebimmel der Rikschas draußen auf den nimmer-ruhigen Straßen, zwangsläufig auch den Geräuschen der Bewohner des Hauses, wenn Wasser plätscherte oder einer lautstark rotzte, verschiedenen Fernsehapparaten und nicht zuletzt den diskutierenden Gästen. Das Haus lebte. Obwohl ich übermüdet war, dauerte es lange, bis ich endlich in tiefen Schlummer versank.

    > Ghats und Pilger am Bindu Sagar;

    >> Tempel: Hanuman (l.o.), Parashurameshwara (r.o.),

    Sampurnajaleshwara (l.u.), Subarnajaleshwara

    BEI DEN TEMPELN UND HÖHLEN VON BHUBANESHWAR

    Bhubaneshwar: 20. Februar 1997: Am Morgen war ich wieder dort, bei den Tempeln, ganz früh, etwas oberhalb der Stelle, wo ich gestern zuletzt mit Besichtigungen aufgehört hatte. Es war dies ein Tempel, der auf einem gepflegten, eingezäunten Areal stand, mit kurzgeschnittenem Rasen und einer Reihe sorgsam gestutzter blühender Sträucher. »Under archeological survey of India«, meinte dazu ein Schild wie als Entschuldigung dafür, dass das Umfeld des Tempels nicht ganz so herausgeputzt aussah.

    Am Eingang zur Straße saß in einem Häuschen ein Ticketverkäufer. Der Preis, so lächerlich gering er für mich war, dürfte dennoch die meisten Inder davon abgehalten haben, den Tempel zu besuchen, es sei denn, ihr Interesse hätte dem Tempel selbst gegolten und nicht etwa der Bettelei und der Geschäftemacherei, seien es nun Ansichtskarten oder sonstiger Tand, eine Bilderreihe zum Aufklappen etwa, die Stellungen aus dem Kamasutra zeigt. Letztere wurden dem Besucher meist verstohlen unterbreitet und dabei zugeraunt: »Pst, Kamasutra!« Was war so Verwerfliches daran? Und falls es noch kein Wort dafür geben sollte, präge ich es hiermit: »Indischer Neopuritanismus«, ein Erbe aus Britannien, das sich überall breitgemacht hat.

    Das Tempelgebäude selbst, Raja Rani mit Namen, barg an seinen Fassaden vollendete Skulpturen, die mit unschuldiger Erotik nicht geizten. Deshalb wurde das Bauwerk oft Liebestempel genannt, ursprünglich jedoch Indreshwara.

    Für die Ruhe und die Erhaltung sorgte hier, wie gesagt, der Staat. Leider mussten ausgerechnet jetzt Teile des Haupttempels eingerüstet sein. Ein Gestell aus dicken Bambusrohren, verknotet mit Tauen, nahm eine ganze Seite für sich ein. Aber hey, in meinen Augen war solch ein exotisches Gerüst durchaus fotogen. In europäischen Gefilden hätten sich jeder Bauaufsicht die Nackenhaare gesträubt, außer vielleicht in Griechenland oder in Süditalien.

    Gegenwärtig wurde der Tempel von oben bis unten abgeschruppt, die Figuren von Smog und Ruß befreit. Im Zuge dessen wurden auch Flechten und Moose entfernt, die sich in den Nischen eingenistet hatten. Und nicht zuletzt der ätzend aggressive, unablässig den Sandstein zersetzende Vogelkot.

    Dennoch waren etliche der erotischen Figuren meinem lüsternen Kameraauge zugänglich. Zwei der Handwerker machten mich sogar eigens auf besonders schöne Exemplare aufmerksam. »Kamasutra«, sagten auch sie dazu und deuteten dabei nach oben, wo es besonders viele Mithunas gab, Liebespaare in Szenen geschlechtlicher Vereinigung, die vielleicht absichtlich dem von unten aufschauenden Auge ein wenig entrückt waren.

    Diese Männer mussten es wissen, wo es die schönsten Szenen gab, schließlich wuschen sie jede Figur einzeln mit ihren Schwämmchen ab, fuhren die Kurven aller erhaltenen Körperteile nach, berührten sanft die erogenen Zonen, strichen den Damen mit ihren Bürsten über den unverhüllten Leib. Vielleicht dachten sie dabei an ihre Ehefrauen. Oder an eine ihrer Nachbarinnen. Oder an die adrette junge Gemüsefrau an der Ecke. Gewiss hatten sie in der Behandlung entblößter weiblicher Körperteile große Übung. Jedenfalls nahm ich das an, nachdem mich einer dabei erwischte, wie ich ihm bei der Arbeit zusah, ausgerechnet als er gerade eine üppige Brust behandelte, sie mehrmals sanft mit dem Schwämmchen umfuhr. Er lächelte zu mir herunter, in einer Weise, als erriete er meine verwerflichen Gedanken und stimme ihnen uneingeschränkt zu. »Mit der Bürste über die Brüste fahren«, dieses Wortspiel aus einem Buchstabendreher konnte ich ihm nicht erklären.

    Als er herunterkam, um frisches Wasser zu holen, zeigte er mir die acht Dikpalas, die Schutzgottheiten des Tempels, je zwei für jede Haupthimmelsrichtung. Ich wusste bereits, dass Raja-Rani König-Königin heißt. Da überraschte es, dass der Name nichts mit einem Königspaar zu tun hatte, sondern dieser besondere goldrötliche Sandstein Rajarania genannt wird. Ich lernte außerdem, dass der Tempelturm Shikhara heißt und Himmel und Erde miteinander verbindet, auch symbolisch. Alle vier Tempelteile waren dicht gedrängt ineinander gebaut und organisch zu einer Einheit verschmolzen, als da waren: Mandapa, Maha-Mandapa, Garbha-Griha und Shikhara -, Halle, große Halle, Heiligtum und Turm.

    Erst im achten Jahrhundert hatte man begonnen, dem Hauptheiligtum, also der Cella beziehungsweise Garbha-Griha mit dem sie überwölbenden Shikhara, auch Deul, eine Halle beizugesellen, eine Mandapa für Musik, Tanz und Versammlung. Aus der Mandapa wurde eine große, eine Maha-Mandapa, als man vor sie eine Vorhalle stellte, eine einfache Mandapa. Die Maha-Mandapa kann auch Nata-Mandir heißen: Tanztempel. Mitunter gab es Nebenhallen, Ardha-Mandapas, nicht zu vergessen zwischen Cella und Maha-Mandapa angedeutet ein Vestibül, das Antarala.

    Hier in Bhubaneshwar hieß das noch ein wenig anders. Ich betrat den Tempel durch die Säulenhalle - Bhoga-Mandapa - drang über die Tanzhalle-Nata-Mandir - weiter in die Versammlungshalle - Jagamohan - vor. Wenn ich mich im schummrigen Lichte, das kaum Details erkennen ließ, bis ganz nach hinten vorgetastet hatte, stand ich in der Prasada, im eigentlichen inneren Heiligtum, mitten im Zentrum des Mandalas, wo der Gottheit die geweihte Speise - prasad - dargereicht wurde.

    Über diesem und somit über meinem Kopf wölbte sich der Tempelturm in den Himmel, der Shikhara, der Deul. Von innen betrachtet oder besser gesagt der Betrachtung ganz entzogen, war das nichts als ein leerer schwarzer Raum, den ich für mich als das ungeschaffene, nichtmanifestierte Universum interpretierte: Brahman.

    Ein Tempel besetzt immer einen heiligen Platz, der zuvor von Astrologen und Yogis exakt ausgemessen und gereinigt wurde. Hier wird die Erschaffung des Universums nachgebildet. Der Deul symbolisiert den Weltenberg Meru, im inneren Heiligtum wohnen die Götter und sind während des religiösen Rituals anwesend.

    So, da war ich also anwesend. Und ich war allein, sah kaum meine Hand vor Augen, wusste mich einsam hier drinnen, weil die Tempelgottheit fehlte, schon seit Jahrhunderten abwesend war, vielleicht niemals eingezogen war. Es gab kein Kultbild oder sonst eine symbolische Form oder Darstellung von ihr. Und wenn es sie denn gegeben hätte, so wäre es mir sicherlich untersagt gewesen, den Eindringling zu mimen.

    Wieder draußen sah ich zuoberst auf dem Shikhara tonnenschwer den Abschlussstein thronen, den Amalaka. In den Hauptturm eingearbeitet war eine Vielzahl kleinerer Begleittürme, die dasselbe Aussehen wie der Hauptturm hatten. Jeder dieser Urshringa hatte wiederum seinen eigenen Amalaka.

    Den Kopf vollgepfropft mit allerhand Sanskrit-Architekturvokabular machte ich mich wieder auf den Weg. Zu Fuß die Straße zurück, bog ich kurzentschlossen in den erstbesten Weg ein. Dieser verschlungene Pfad führte mich durch eine Brache hohen verdorrten Grases, drückte sich an vergessenen Ziegelmauern vorbei und schattenspendenden Bäumen. Bis er mich, - gerade hatte ich gezweifelt und gedacht, falscher könne ich nicht sein -, auf eine belebte Straße zurückbrachte.

    Hier wusste ich mich auf der richtigen Fährte. Diese Straße berührte weitere Tempelanlagen, unter ihnen zwei der bedeutendsten, nämlich den Siddheshwara- und den Mukteshwara-Tempel. Ersterer grenzte sogar direkt an die Straße. So strebte ich denn an seiner Außenmauer entlang auf den Haupteingang zu, meinen Blick stets auf die beiden Tempeltürme geheftet, zu denen so perfekt die beiden Brahmanen im Vordergrund passen wollten. Die Männer, die im Schatten eines uralten Baumes standen und sich unterhielten, waren ausgemergelt, mit nicht viel mehr als einem Lendenschurz bekleidet. Ihr graues Haar war lang und struppig, weiße Barken Shivas waren ihnen auf die braune Haut auf Oberarmen und Wangen gemalt. Es war dies das klassische Bild, wie es vor tausend Jahren nicht anders ausgesehen haben mochte. Und hätten nicht Rikschas in meinem Rücken gebimmelt, vielleicht wäre ich durch eine ganz andere Zeit gestapft.

    Vor einem der lingam-förmigen Tempeltürme, die den klassischen Bienenkörben vielleicht am ähnlichsten sahen, wartete, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, ein junger muskulöser Brahmane. Sein Haar war schwarz und lang, sein Lächeln breit, seine dunklen Augen leuchtend. Der Brahmane geleitete mich ins Innere des Tempels. Dort war es stickig und düster, bis auf eine Flamme, die schattenhaft den Raum erhellte. Sie flackerte vor einer schwarzen Gottheit, die kaum Details erkennen ließ, weil ich respektvoll Abstand hielt.

    Da erhob der Brahmane seine Stimme, sang volltönend lange Sanskrit-Slokas. Dann lauschte ich seinen Erklärungen, die sich mir ob seines schräg akzentuierten, von Sanskrit durchsetzten Englischs, kaum erschlossen. Immerhin folgte ich seinen ausschweifenden Gesten, die mir bald diese, bald jene Figur erläuterten. Außer der Flamme im Inneren und der Gottheiten, die der unruhige Schein flüchtig beleuchtete, vermochte mein Auge leider nichts zu erkennen. Umso mehr nahmen mich die Stimme des Brahmanen und die Stimmung im Tempelinneren gefangen.

    Ich bedankte mich für dieses Erlebnis und hinterließ eine Spende, für die er mir einen fetten roten Thika zwischen die Augenbrauen drückte. Nun war ich gesegnet worden und mit meinem halblangen Haar und dem Bart und dem Thika schien ich tatsächlich bald selbst hierherzugehören. Aber wie gewonnen so zerronnen, denn leider zerfloss mir in der Hitze bald das Werk. Es sickerte, lief, tropfte mir der Schweiß nur so vom Haaransatz herunter, und mit einer einzigen unachtsamen Handbewegung hatte ich mir das Farbmal über die Stirne gewischt. Die letzten Reste von Röte trocknete ich mit meinem Schweißtuch auf.

    Ich setzte meinen Weg fort, bewunderte weiterhin die unzähligen Figuren, die die Tempel bevölkerten. Da gab es Nymphen, Zwerge und andere seltsame Wesen. Beim Mukteshwara-Tempel fand ich den Torana, einen Rundtorbogen im buddhistischen Stil, der so ästhetisch, so vollkommen, so einmalig dastand, eben wie hingegossen, dass er gern ohne den Tempel hätte auskommen mögen, der freilich nicht minder perfekt war. Hätte der Tempel jedoch gefehlt, dann hätte das so ausgesehen, als sei das Darumherum längst von der Zeit weggefressen worden. Das Tor wäre mir dann deplatziert und sinnlos erschienen, weil es den, der es durchschritt, nirgendwo anderes hingeführt hätte, als dorthin, wo er sich ohnehin bereits befand. Aber das war nur wieder so ein sinnlos dummes Gedankenspiel von mir. Denn immerhin hätte das Tor mich dann zu mir selbst geführt.

    Eines war augenfällig: Damals waren die Religionen offenbar enger beieinander; jainische, buddhistische, shivaitische und vishnuitische Einflüsse hatten sich hier ganz selbstverständlich gemischt. Lagen ihnen letztendlich nicht dieselben Erkenntnisse zugrunde?

    Ich besuchte den Kedargauri-Tempel und ließ auch den weiter entfernten Brahmeshwara-Tempel mit seinen erotischen Darstellungen nicht aus. Und da ich schon einmal dort war, nahm ich die Tempel Megeshwara und Baskareshwara gleich mit. Jede Tempelanlage für sich genommen war zu Stein gewordene Poesie, wie hätte ich mich da auf einen als den Schönsten festlegen mögen?

    Aber ich wollte noch einmal den Lingaraja-Tempel besuchen. Auf dem Weg dorthin kam ich erneut an dem vielleicht perfektesten Tempel vorbei, dem kleinen Parashurameshwara aus der Mitte des 7. Jahrhunderts, bei dem ich gestern Abend so hübsch unter dem Pipalbaum auf dem Mäuerchen gesessen hatte. Heute fotografierte ich ihn völlig ungestört und verweilte wieder einige Zeit auf dem Mäuerchen unter dem dichten Blätterdach des Baumes und betrachtete die Form des Tempelturmes, seine vier Seiten, die wohlgerundet in einem Scheitelpunkt zusammenliefen, welcher eine Diskusscheibe darstellte.

    > Steinmetzarbeiten am Rajrani-Tempel;

    > > Lingaraja-Tempel

    Der Weg führte an sattgrünen Reisfeldern vorbei, von diesen getrennt durch einen Bachlauf mit hohem Schilfgras. Kunstvoll aufgeschichteten Steinhäufen gleich, hatten hier einige der ältesten Shiva-Tempel ohne die überreiche Zierde der Steinmetzkunst späterer Jahrhunderte überdauert. Hinter den Feldern reckten sich weitere Lingam-Türme über die Haine. Die Landschaft war von ihnen geradezu durchsetzt. Sie stammten aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert, was in mir die Frage aufwarf, was damals die Initialzündung dafür gewesen sein mochte, hier im Umfeld so viele Tempel zu errichten.

    Einer war über das Wasser gebaut worden. Dort traf ich drei Frauen, die eben ihre Wäschestücke im klaren Wasser eines der Bewässerungsgräben klarspülten, unter den verwitterten Augen eines bröckelnden Shiva, der in Resten hoch oben in der Tempelmauer stand.

    Der Lingaraja-Tempel verbarg sich vor den Augen der Unberührbaren hinter einer hohen Mauer. Für Leute meines Schlages wartete dieses Podest, eine Aussichtsplattform, auf die mich eine Flucht steinerner Stufen hinaufführte. Aber erst, nachdem ich unten gefälligst diesen Obolus entrichtet hatte, in etwa denselben Betrag, den mich die erfrischende Limonade am selben Verkaufsstand kostete.

    Das Podest hatten die Engländer hingestellt, damit sie beobachten konnten, was auf dem Gelände vor sich ging. Politischer Widerstand geht oftmals von religiösen Zentren aus. Hier war dem jedoch nicht so. Im Hinduismus fehlt das Pendant eines christlichen Pfarrers oder islamischen Vorbeters, Predigergestalten, die ihrer Gemeinde sozusagen die Leviten lesen, bisweilen nicht nur im übertragenen Sinne, die ihre Schäfchen politisch auf etwas einschwören, im Namen Gottes oder eines heiligen Krieges für eine gerechte Sache sich zu erheben, gegen eine herrschende Klasse oder gegen Andersgläubige aufzustehen, notfalls Gewalt einzusetzen.

    Von hier oben überblickte ich die gesamte Anlage. Zu dieser Stunde erschien sie mir verlassen, abgeschottet von der Außenwelt. Eine von hohen Mauern rechteckig eingefasste Enklave beherbergte dort drinnen ein kleines Gebirge aufragender Dome aus verwittertem Sandstein.

    Aus ihrer Mitte hatten diese den sie alle überragenden Hauptgipfel hervorgebracht. In Ausdruck und Beschaffenheit sah er allen anderen gleich. Und überstrahlte dennoch alle in seiner Größe. Der Vergleich mit den anderen, der für jedes Auge sichtbar war, machte diesen umso mächtiger. Er war der König aller hier versammelten Shiva-Lingams, war der Lingaraja. Drunten in seinem Herzen, im Innersten seiner Mauern, barg er den wahren Shiva-Lingam. Auf einem dreistufigen Pyramidenstumpf weilte eine 20 Zentimeter hohe, zweieinhalb Meter durchmessende Zylinderscheibe aus glattpoliertem edlem schwarzem Stein. Das war das eigentliche Sanctum Sanctorum. Das war Shiva selbst.

    Eine Motorrikscha brachte mich am frühen Nachmittag an den Fuß des Hügels Dhauligiri am Rande der Stadt. Dort gab es die Höhlen von Udayagiri und Khandagiri zu bewundern.

    Bereits 150 Jahre vor unserer Zeitrechnung meditierten nachweislich Jain-Mönche in den in den Berg geschnitzten Klausen. Wahrscheinlich waren die Jain nicht einmal die ersten Bewohner gewesen. Als Unterstützer der Jain-Religion und selbst Jain, ließ Kharavela, der große König, der das Kalingareich

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