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Pro tribunal: Wenderoman
Pro tribunal: Wenderoman
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eBook974 Seiten13 Stunden

Pro tribunal: Wenderoman

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Über dieses E-Book

Drei apokalyptische Reiter ritten den Osten samt neuem Gesellschaftssystem in den Sumpf; einer hat die DDR ruiniert, einer verriet sie, und dann wurde sie beseitigt. Dieser These stimmen ebenso viele Zeitzeugen zu wie ihr widersprechen. Authentisch-biografisch geht dieser Roman ihr nach - akribisch, minutiös und ehrlich.
Ein junger Mensch wird kurz vor der Wende regulär zur Armee eingezogen, durchlebt in Berlin an der Nahtstelle der zwei Weltsysteme die Tumulte 1989 und 1990, und parallel vollzieht sich verdeckt und wirksam Weltpolitik von Washington bis Moskau, von Bonn bis Berlin. Anhand umfassend-relevanter Zeitzeugnisse entrollt sich das komplette "Wende"-Panorama. Erklärungen und reale Hintergründe vor dem unbestechlichen Blick der Fakten werden sichtbar und gewogen - und in Zusammenhang gestellt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Mai 2021
ISBN9783347306776
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    Buchvorschau

    Pro tribunal - Arno Legad

    Vorbemerkung

    Gegen diese Partitur wird man allerlei ins Feld führen, denn sie bezieht Stellung. Man wird unter „philosophischer Rubrik anrücken, unter historiographischer. Man wird sagen, die „Zeitmaschine sei auf „Protokoll gestellt, aber es entstand keine reine Chronik, sondern ein… beliebiger Roman. Oder: Die Niederschrift enthielte für eine Geschichte zu viele Tatsachen und verbürgte Zitate… zuviel Tendenz. Es sei ein literarisches Politikum: geeignet oder nicht. Nun, vielleicht ist es ein Kanon. Es ist nicht beliebig, sondern Verdichtung und zielgerichtete Erfragung und Interpretation historischer Ereignisse, auf dass eine Gesamttendenz deutlich werde in dem was war – dem der diese sehen will. Und doch ist es noch eher als ein Roman ein langer Brief, ein ungewöhnlich langer. Aber er hat auch einen ungewöhnlichen Gegenstand. Wir hören über die Wende, um endlich ein subtiles Angebot zur Meinungsbildung zu schaffen; einem Ereignis – so man sehen und glauben mag – von menschheitshistorischem Gewicht. Warum kommt dies dreiunddreißig Jahre nachdem? Aber alles hat seine Zeit, manches größere hat größere Zeit, die es braucht, die man ihm gar nicht zubilligen möchte. Es gilt zudem: Viele melden sich zu Wort und wissen nichts Richtiges und Wichtiges zu sagen, auch dies aber braucht Zeit. Zudem muss Geduld walten, ob vielleicht das versprochene „Ende der Geschichte durch freundliche Herrschaft noch käme… Dies durchschwebte konturlos Äonen aus Raum und Zeit; von irgendjemand, zufällig vorübergehend, verschriftlicht. Und der Menschheit stehen Gräßlichkeiten bevor, gegen welche manche bisherigen Katastrophen und Heimsuchungen sich ausnehmen, wie ein sehr gelinder Nieselregen gegen die Sintflut. Um dies alles noch ein wenig durchzustehen und zu überstehen, wird sie sich neu zu finden und ordnen haben. Sie benötigt einen Zugang ihrer selbst – einen Zugang.

    Prolog

    Wozu geht ein Mensch im Mondlicht auf und ab? Wozu geht er trüb einem irgendgearteten Tagwerk nach, lässt sich ärgern, geht nach Hause, schläft, um wieder nachzugehen… Wozu ist der Mensch? Wer nicht völlig verloren ist – sich und der Welt – legt sich irgendwann diesen Gedanken vor, während er in mehr oder minder trüben Momenten im Mondlicht geht, im Blicke Bewegungen der Wolken wie die willenlosen Gebilde des Sandes oder einen Vogelflug…

    In Ausnahmen, etwa historischen, kommt es dazu, dass auch sehr junge Leute sich vor Überlegungen dieser Art sehen, die schwer wiegen. Falls es lohnenswert ist, das Außergewöhnliche oder auch das für gewöhnlich Verschwiegene, das außergewöhnlich Unbekannte zu besichtigen; so gewinnen wir hiermit und aus solchem Grunde ein wenig Einblick in ein Jahr solchen Lebens. Zu nehmen ist dieser als Einladung zu einer Zeitreise; mehr noch: in eine Zeitmaschine, die in verschiedene Richtungen bewegt werden kann. Die Zeitmaschine funktioniert aber nur, wenn jemand sie einstellt, auf sie einsteigt, nötige Muße aufbringt.

    Genausogut wie die meisten aller Einschätzungen, Entscheidungen sowie Handlungen unbestimmt zustande kommen und unbewusst vonstatten gehen, handelt es sich doch um Tatsachen, die folglich bisweilen unerwünscht, unerwartet an uns herantreten; die stören müssen, da sie keiner gewohnten Sichtweise entsprechen. Sie beunruhigen. Gekümmert wird sich dann nicht zwingend darum. Nein, gekümmert wird sich um all das nicht, was uns von anderen erzählt wird, und sei es noch so ambitioniert und nuancenreich und oft und unverändert im Sinne unveränderlichen Interesses vorgetragen – von wem auch immer. Aber wahrscheinlich glaubt man auch die Unwahrheit.

    Vielleicht glaubt man auch die Wahrheit, wenn sie schlüssig und integer, vertrauenswürdig vorgebracht wird. Manchmal weiß man etwas.

    Genausowenig wie man gern stört und beunruhigt, und so gern man sich als Gast anmutig aufführt, ist des Störens und auch Verstörtwerdens bisweilen schlecht steuern – gleich der unerwarteten Wetterlage, die bei einer Bergwanderung über uns hereinplatzt und welche doch zugleich Teil dieser Wanderung ist, zu dieser gehört. Gleichviel – so sagt man dann akzeptierend und nimmt vielleicht noch Anreiz und Frische aus dem, was da unerwartet und ungefragt geschieht. Häufig in der Historie stoßen wir auf das Fremde, Unerwünschte, wo es in der Ecke versteckt saß und indessen auf Entdeckung lauerte und nun hereinbricht, und in frecher Burleske alles was wir so dachten, wieder über den Haufen zu werfen sich anschickt und wenig Rücksicht nimmt – dass wir auf unserer ohnedies unruhigen, unsteten und bergigen Lebenstour nicht rasten und beschaulich wägen dürfen, wie etwas in unseren gewohnten und vertrauten Rahmen passe, und wie wir alles daraufhin fügen. Und der einzige Bewertungsmaßstab bleibt doch am Ende vor dem Schatten deines Todes die jeweilig höhere Moral, der Anstand, die Freundlichkeit in gemeinsamem Sinn und Sein. Geschichte, sagt man stolz, schreibt stets der Sieger. Aber wer ist denn der Sieger über die Geschichte?

    Drei Schlüssel

    Herbstlaub, unsere Geschichte beginnt mit fleckig verfärbten Eichenlaub. Herbst. Wenn die Blätter fallen, steigen die Nebel und die Trübsal. Die Hoffnung sinkt gelinde. Die Zeit wird rund, wenn die Blätter fallen. Ein Ende steht an. Das liest sich so weg. Es ist komplett. Bisweilen ist nächstes Jahr alles anders.

    Seit tausenden von Jahren war der Sommer mild und warm, der Herbst brachte kühle Buntheit und der Winter Schnee. In kurzer Zeit ist hier deutliche Änderung eingetreten. Herbstlaub: In goldenem Sonnenschein wird eine anmutig-mondäne Vorstadt-Siedlung von uns in diesem raschelnden, spröden Beiwerk betreten. Von Siedlung, genau genommen, ist keine Rede. Dazu stehen die hohen respektablen Villen zu pompös hinter zu massiv verschlungen-schmiedeeisernen Zaungittern unter den dunklen und großen, alten Bäumen. Mit uns geht eine graue Gestalt einher. Ringsum herrschen Stille und tiefe Andacht. Es ist der frühe Herbst der Stille, des Beharrens und allmählichen Entschlafens, der frühe Herbst neunundachtzig. Die Gärten liegen verlassen. So tief sinkt Andacht ins verträumte Bild, dass nichts weiter als die graue Gestalt zu erwarten ist, die einen Mantel trägt, eine Schirmmütze; eine Uniform. Niemand begegnet uns, und dennoch: Von einem alten Manne werden wir erwartet, der laubfegend in einer Nebenstraße wie von weither aufsieht.

    Er trägt ein kleines verschmitztes Lächeln um den Mund und die blitzenden Augen, und es scheint Teil seiner Persönlichkeit.

    Jene andere Gestalt im grauen Mantel wirkt etwas preußisch zu nennen, ein wenig streng und unerfreulich; wie ein Todeskünder, was sich in diesen Zeiten seltsam ausnimmt – scheint dem Alten. Der Gedanke an den Herbst liegt ihm in dieser Sekunde fern. Stiefefspitzen gleiten durch tonigbuntes und feuchtes, mattglänzendes schimmerndes, abgestorbenes Blattwerk. Es wedelt auf und wirbelt raschelnd durcheinander, weht und tobt hinweg und fällt auf Gehwegplatten. Eichenlaub, schwer und hart, denkt der graue Mensch, welcher den Alten noch nicht wahrnahm. Eichenlaub, das nicht schnell vergeht, das haltbar ist, wenngleich es nicht mehr lebt. Das ist das Eichenlaub der Wilhelms und des Hitlers. Das nationale Laub bleibt und klebt. Warum sind unsere Mützen, Auszeichnungen eichenlaubgeziert? Was symbolisiert der zähe Abfall? Ein nie endendes Ende?

    Verwesung, die auf sich warten lässt?

    Es ist ein junger Mann, der’s sich fragt. Wollen wir einem jungen Menschen auf der Suche seine Überlegungen nicht anstreichen! Vielleicht weiß er es nicht besser. Mit diesem Übereinkommen lässt sich nachsinnen und Geschichte verstehen; unsere Geschichte. Er geht allein. In steingrauem Uniformmantel, unter der – silbrig eichenlaubberankten – Mütze, wird er zur wandelnden Statue, zum Komtur, dessen Wesen in irgendetwas gerinnt, vielleicht nur in EINER Aufgabe. Dieser junge Mann gehört einem Militärverband an, einer Elitetruppe, die hier in der Nähe ein weites Kasernengelände unterhält, rings ummauert, mit mehreren Torzufahrten und Schranken, mit einer breiten Hauptzufahrt, einem hohe und breiten Wachgebäude mit Außentreppe, durchaus erinnernd an mittelalterliche Wachstuben in Stadtmauern.

    Er ist etwas über mittelgroß, schlank und von herbstlich-elegischem Gemüt; ein später Jugendlicher der Achtziger. Er ist alt zugleich. Denn er trägt einen ausgeprägten skeptischen Zug um den Mund und hat abseitige, dunkle Gedanken, müde Augen. Es ist ein Achtziger-Jahre-DDR-Jugendlicher, leicht schwermütig und grüblerisch, einer derjenigen denen die Alten sagen: Euch geht’s zu gut! Er hat gesehen und eingesehen, was zu schauen und einzusehen war. Es kam bis hierhin wie es kommen musste, und er überlegt wie alles hierhergeraten war; grübelt wie er für drei unendlich lange Jahre seiner Jugend in die Armee hatte gelangen können, in „das Regiment".

    Seine Schuldirektorin sieht er vor sich, seinerzeit auf ihn einredend, glaubhaft und nicht überzeugend: Wer es einsehe, dass man den Frieden verteidige, dass Staat und Gesellschaft zu schützen sind – diese trockene Werbung widerte ihn ebenso an wie er von der Strenge im Tonfall beeindruckt ward –, entscheide sich bewusst, statt der anderthalb Jahre Pflichtübung Wehrdienst… für drei Jahre! Lieber hätte er ihren Part übernommen. Denn natürlich stimmte, was sie dort sprach. Gerade dass dies alles stimmte und mit dürren harten Worten und dürrem Inhalt von einer aufgezogenen mechanischen Puppe vorgetragen ward, machte ihn damals grausen.

    Es gibt kein geistiges Leben mehr, hätte er ihr entgegnen mögen. Wer schützt uns alle vor Technokraten wie Sie? Wer weckt uns zu neuer Tat, anstatt einzuschläfern? Zwangsläufig hatte er abgelehnt, um sein Bekenntnis gegen diese Figur abzulegen. Zwangsläufig hatte er später zugestimmt, weil die Figur hier nichts zur Sache tat. Zwangsläufig wurde gesucht, geirrt, gefunden, ging man Wege, probierte, verwarf und versagte.

    Zwangsläufig wurden Sinn und Glaube probehalber in Abrede gestellt, und dann dies letztmögliche Bekenntnis geleistet, und damit das erste verworfen… immer zwangsläufig. Obgleich inzwischen nichts mehr zu leisten war, nichts mehr stimmte und übereinstimmte, und was da an Resten durchaus schützenswert ist, kaum noch vor sich selbst schützbar scheint.

    Nun ist der Herbst Neunundachtzig. Hey, Mister Tambourine Man, play me a song / Hey Mister Tambourine Man, gib was sein muss / gegen Starre und neuen Stuß / gegen Abstand und Überdruß / Hey Apotheker, hast du was / gegen Dummheit in deinem Faß / Hey Mister Tambourine Man, play me a song…

    Er steigt eine gewaltige Freitreppe empor, auf einem antiken Triumph-Monument, unübersehbar weit nach oben führend, welches dabei selbst auf Säulen ruht. Dumpfe Stöße durchdringen das Massiv. Jeder Schritt gerät zögernd, verharrend. Unsicher steigt er auf die unübersehbar gigantische Empore, deren Stand selbst unsicher erscheint, steigt Stufen empor, deren Flanken in der Weite verschwimmen und deren obere Plattform, Endpunkt und Ziel, nicht mehr erkennbar ist. Es bliebe allenfalls ein visionärer Ort als Schlusspunkt zu erahnen für den welcher durchaus schlingernd, schwankend weiter geht. Was ist eine Vision? fragt sich unser Spaziergänger, durch den Herbst in Erkner schlendernd, durchs Eichenlaub im hochgradig bürgerlich situierten Berliner Vorort.

    Eine Vision ist ein Trugbild.

    Die Vision besteht nicht in einer Weltanschauung, welche den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vertritt, besteht nicht in Wissenschaft. Vision ist nicht Erkenntnis, sondern Unkenntnis der Wirklichkeit. Oder auch: Verständnis und Begriff – dies ist nicht Vision. Und was treibt den Wissenschaftler – wenn nicht eigene Subjektivität, wo sie auf objektiven Erkenntnissen baut: Er muss doch forschen wollen! Das Trugbild besteht vielleicht auch in diesen respektablen Berliner-Vorort-Villen, in der bürgerlichen Behaglichkeit, sosehr diese wirklich sind. Es liegt im trügerischen Pomp kunstvoll schmiedeeisern geformter Zäune. Die Vision besteht aus Selbstabschluss, Selbstbegrenzung. Das Trugbild ist zugleich der Glaube, man erstiege eine Treppe indem man steht, ohne ein Ziel begreifen zu müssen, ohne ankommen zu sollen. Sie ist ein Irrglaube, angekommen zu sein, der Wahn zu gehen indem man bereits schwankt. Wilde dunkle Wolken jagen. Die riesigen Säulen unter dem eigenen Boden knirschen donnernd; die endlos breiten Stufen, auf denen wir kaum weiter steigen, reißen auf, zerspringen zerklüftet… zeigen tiefe, gezackt und dröhnend aufreißende Spalten.

    Es gibt einen Widerspruch zwischen Sein und Werden. Da es aber immer Vorstellungen gibt, muss man trennen zwischen negativen Ideen wie reiner Furcht, alles möge wieder verlorengehen, und positiven Vorstellungen wie vernünftiger Utopie. Niemand mehr geht. Keiner ist in Wirklichkeit mehr da, Honecker kaum, kaum Maier und kaum Hinz. Er allein versucht es immerhin noch, wenn er auch schwankt…

    Aus der Ferne sieht der alte Mann vor seinem efeuüberwachsenen dunklen Portal am Fuße dreier Stufen dem seltsamen Spaziergänger in Erkner zu. Er bemerkt die nachdenkliche Haltung. An diesem heiteren Nachmittag mischt sich ein leiser Unternehmergeist in die gewohnte melancholische Heiterkeit eines der letzten Herbste, dem letzten Herbst. Den Draht-Besen zur Seite an die dunkle Hausmauer lehnend, festigt er eine Idee.

    Er fasst einen Entschluss. „He!" ruft er halblaut.

    Der Graue im voluminösen Uniformmantel, dem eine gewisse Überraschung anzumerken ist, nähert sich raschen Schrittes. Einem langen gewundenen Gang ist man gefolgt, der um aller Verheißung willen nicht lichter, klarer und deutlicher wurde. Im schwersten Moment, als ringsum wenig mehr als das Besterreichte und auch dies nicht mehr ganz glaubhaft war, hatte man einen Eid geleistet, nur der Form halber, einer Schablone gemäß.

    Hätte man diesen Eid – trotzend allem was dazu nötigte – nicht schon längst geleistet, wäre man nicht hier.

    „Ja!" bestätigt er halblaut. Der alte Mann amüsiert sich, wie sich stets der alte Mensch über die Ahnungslosigkeit des jungen gegenüber Leben und Tod belustigen kann: Er kann es sich leisten. Es kommt ihm schon nicht mehr darauf an. Am geöffneten schmiedeeisernen, doppelflügligen Gartentor bleibt die fremde graue Gestalt stehen. Zehn Schritte trennen den Soldaten nun von dem alten Manne, der unbewegt im Halbschatten unter dem kleinen klassizistischen Vordache steht.

    „Sie haben Ausgang. Sie haben Zeit"

    „Ja, antwortet der Steingraue. „Morgen habe ich Zeit.

    „Nein, kommen Sie nur. Sie trinken einen Kaffee mit mir. Bitte…"

    Der Hausherr geht drei Stufen zum Portal und schließt die Haustür auf, die ganz erwartungsgemäß leise knarrt. Er schaut gespannt, als hätte er den Eingeladenen vergessen, in die dunkle Stille, durch das schwere Ticken einer Standuhr in viele kleine Momente geteilt, die mit bronzenem Gewicht im kleinen Vorraum steht.

    „Ich habe heute keine Zeit, sagt der Uniformierte unlustig. „Denn ich suche einen Schlüssel. Doch er steht bereits an der Treppe.

    „Sie sind auf der Suche nach einem Schlüssel? fragt der Hausherr. „In Wirklichkeit ist das Schwierige oft nicht so sehr, den Schlüssel zu finden, sondern ihn zu benutzen! Vielleicht sind es auch mehr Schlüssel, die Sie brauchen. Vielleicht sind’s drei.

    Er wedelt in Richtung Wohnraum. „Nach Ihnen! Hier geht’s nach Dienstgrad!"

    Der graue Gast lässt sich hineinschieben und widerspricht belustigt: „Ich bitte Sie!"

    Im Zimmer herrschte ein dämmeriges Halbdunkel, gefüllt mit den Utensilien der Vor-Schrankwand-Periode: einem bunt überdeckten Tisch, einem Büfett an der Wand, zwei bis zur Decke reichenden Bücherregalen. An den Wänden hängen schwarz-weiße Fotografien in schmalen Rahmen und bunte, großflächige jugendstilartige Darstellungen hinter Glas. „Man kann auch für sich selbst überraschende Dinge tun, spricht der Hausherr der, nachdem seine Wetterjacke abgelegt ist, in einem olivgrünen Rollkragenpullover gemütlich wirkt. „Das Alter hofiert immer die Jugend, fühlt sich durch deren Gunst erfrischt… Das ist spannend. Denn jeder Mensch wird zunächst hofiert, je kleiner und jünger er ist, desto mehr. Aber bald wird er alt. Dann lernt er, dass sein Alter und Dienstalter gar nichts auf sich haben. Je älter er wird, desto weniger. Man sucht um Gunst, rennt hinterher, bettelt um Aufmerksamkeit. Man bemüht sich, was natürlich sein Gutes hat. Natürlich suchen Sie einen Schlüssel. Genau genommen haben Sie aber keinen Schimmer! Sie wissen nicht, wozu. Sie wissen nicht: Brauchen Sie nur einen oder drei… Sie brauchen drei. Ich beobachte Sie übrigens schon seit einigen Wochen. Manchmal sind Sie auch zu dritt unterwegs. Sie gehen in den Lindengarten?

    „Jawohl. Wer geht nicht in den Lindengarten. Übrigens: Was haben Sie gegen den Lindengarten?"

    Sich die Hände reibend fragt der Alte verschmitzt: „Sie haben dort was verloren?" Er stellt sich mit dem Rücken gegen einen Heizkörper unter dem Fenster.

    „Ja, vielleicht. Etwas unentschieden steht der Gast mitten im Zimmer, sieht sich um. Er weiß nicht weiter und sagt: „Wenn ich überlege, scheint mir als ob Sie die Frage anders stellen wollten: WAS haben Sie dort verloren?

    „Nein bitteschön. Ich bin auch selbst manchmal da. Mein Lieber, ich habe keinen Schatten. Ich bin geistig gesund. Ja, es geht um die Zeit – wie man sie nutzt. Glauben Sie bloß nicht, ich sei wunderlich. Ich langweile mich nur ein bisschen. Deshalb möchte ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten. Sprechen wir ein wenig. Trinken wir einen Kaffee!"

    „Ich habe nicht viel Zeit."

    „Sie haben bis Null Uhr Ausgang – nicht wahr?"

    „Ja. Aber ich habe nicht viel Zeit."

    „Sie haben recht. Der alte Herr reißt sich vom Heizkörper los. „Bitte geben Sie mir Ihren Mantel!

    Er nimmt dem Jüngeren Mantel ab und Schirmmütze, die gewohnheits- und vorschriftsmäßig unter dem linken Arm klemmte, Schirm nach vorn, und schafft beides in den Flur. Als er zurückkommt, deutet er auf einen sachlich-modernen Stuhl am großen ovalen Tisch: „Setzen Sie sich!"

    Leicht nach vorn gebeugt lässt sich der Jüngere in gespannter Haltung nieder. Er legt beide Arme auf den Tisch mit der bunten Decke und wirkt in der klassischen Uniformjacke mit dem bis oben geschlossenen, silberumrandeten Kragen mit Kragenspiegeln und glänzenden Schulterstücken sehr preußisch.

    „Werchosch, murmelt der Hausherr. „Mein Name: Werchosch. „Thomas Arndt"

    „Wissen Sie, sagt Herr Werchosch in das Halbdunkel über den Tisch, „Ich nehme an, Sie meinten es metaphorisch: Ich habe wenig Zeit. Die meisten würden es wohl missverstehen. Ich habe es vielleicht richtig verstanden. Aber ich bin mir nicht sicher.

    „Nein, nein. Der andere lächelt, wendet den Kopf und richtet den Blick aus dem Fenster – zurück in die Weite aus welcher er kam. „Sie haben vielleicht Witz! Es ist nur so unmittelbar zu verstehen wie gesagt.

    Der Gastgeber wartet. Ins schwere Ticken der großen Uhr spricht der jugendliche Gast: „Sie wissen nicht, wen Sie sich da hereingeholt haben! Leider bleibt mir ganz besonders wenig Zeit. Ich weiß dummerweise, dass sie genau jetzt genutzt sein will und weiß noch dümmerermaßen nicht, wie ich sie nutzen soll. Und nur eines weiß ich: dass ich sie nicht zu nutzen verstehe."

    Der Alte schweigt. Beider Zeit tickt und tröpfelt hinweg.

    Die Jugend ist grausam und trostreich zugleich. Die Jugend ist durch ihre Grausamkeit trostreich. Denken wir in Widersprüchen. „Das geht natürlich vielen so, setzt der Gast unruhig fort. „Aber wem dieses Bewusstsein fehlt, der hat auch keinen Blick dafür, dass er mit seiner Zeit – sich selbst verliert.

    „Ich bin zweiundachtzig Jahre, spricht der Gegenüber. „Wie alt sind Sie?

    Der Gast schmunzelt über den Tisch: „Im Vergleich dazu stehe ich natürlich uralt da, weil ich zeitlos bin. Weil ich kaum Zeit besitze, auf die ich blicken kann, weder vergangene noch künftige. Ich habe davon nichts. Sie hat auch nichts von mir. Ich bin ein Nicht-Nutz."

    „Damit wollen Sie sagen, dass man mit Zwanzig weder Erinnerung noch Hoffnung besitzt und langsam zu sterben beginnt? Das glaube ich nicht."

    „Sagen wir’s anders: Ich habe den Verdacht: Man kommt nicht mehr in Betracht. Unserer Zeit wurde lauthals ein Sinn gegeben; welcher ihr dann heimlich wieder genommen wurde… Sie dagegen können sich noch immer und überall äußern."

    Der Hausherr lacht. „Sie haben aber auch Witz. Wollen Sie behaupten, das wirklich zu glauben?"

    „Nein! Was ich wirklich glaube, steht auf einem andern Blatt. Dazu fehlt mir der Wirklichkeitssinn. Ich bin nur zu skeptisch, ich wollte nur sagen, dass mancher mit Vierzehn schon ziemlich alt ist, da er Teil einer großen Erwartungshaltung wurde, mit zwanzig mehr Abweichung von alldem geschluckt hat als erwartet, während das andere warten lässt und nicht teilhaben lässt. Und im Ergebnis dessen beginnt man wieder, kindisch zu werden. Mit dreißig ist man so sehr Teil des Bestehenden geworden, einer Wirklichkeit die man nicht weiter erfasst, weil zu erfassen sich diese kaum lohnt, dass man leise am Bestand seiner selbst zweifelt. Man hat die Zeit weder zurückgelassen noch gewonnen. Es drängt nichts mehr – so sehr, dass es drängend werden kann, bedrückend."

    Er überlegt und sieht an die helle Zimmerdecke. „Sehen Sie sich bloß unsere Regierung an!"

    „Aha! Man stirbt also – doch ein wenig! Man stirbt geistig! Das meinten Sie?"

    „Nein! Man ist Teil geworden, aber von etwas das nicht mehr lebt; dem man darum nicht angehört als man lebt, und insofern angehört als man Teil ist. Gut, schön, es handelt sich dabei wohl um geistiges Leben, aber mein eigener persönlicher Geist ist nicht tot. Ich bin kein untoter Vampir. Diese Trinität offiziöses, kollektives und persönliches Leben ist ineinander verflochten. Keines ist ohne das andere denkbar. Diese stehen nur in scharfem Widerspruch zueinander. Das erfasse ich genau… mein Geist."

    „Das sollte nicht so sein, murmelt Gastgeber Werchosch. „Aber: ohne Widerspruch – keine Entwicklung.

    Er erhebt sich abrupt. „Wenn Sie gestatten…"

    „Ohne Widerspruch – keine Veränderung! wirft Arndt ein. „Das ist nicht dasselbe!

    „…sehe ich mir mal den Kaffee an! Der Gastgeber schlurft in den dunklen Flur. „Man ist etabliert, ruft Arndt hinterher. „Man hat sich eingerichtet. Aber auf eine Art, die mit der Einrichtung von der man mal sagte, sie sei unsere, nichts mehr zu zu tun hat. Gut, es gibt schon einen Gemeinschaftsgeist. Aber daran denkt man kaum! Es geht einem gut im herkömmlichen Sinne, nach Maßstäben des Kapitalismus ist man versorgt. Jedem in der DDR geht es insoweit gut bis sehr gut. Der Haken ist nur: Die DDR – das ist eben kein Kapitalismus. Dieser Maßstab darf hier nicht angelegt werden, wird aber… Wenn man den Maßstab des Gestern ans Heute anlegt, wird das Heute zum Gestern!"

    „Ja, die Zeit, grummelt der Gastgeber, mit einer bauchigen Großmutter-Kanne wieder erscheinend. „Das Heute wird doch wohl ohnehin zum Gestern?

    Er entnimmt dem Büfett zwei goldrandglitzernde „Sammel-Tassen mit buntdekorierten Untertellerchen. „Die Zeit ist wirklich alles. Besser gesagt, alles steckt in ihr. Man kann auch sagen… Er gießt den Kaffee in die bunten Tassen. „Wenn man den Zeitbegriff untersucht, stößt man auf zwei genuine Punkte: eine Phase – und die Wandelbarkeit der Dinge. Dabei sind beide jeweils Bestandteil des anderen. Die Wandlung schafft die Phasen. Diese Phasen befestigen die Wandlung, machen sie unumkehrbar, unwiederholbar. Alles hat Prozesscharakter. Alles unterliegt dem Zahne, was nicht nur heißt; alles altert und vergeht. Zugleich entsteht anderes und tritt an dessen Stelle. Drittens müssen wir immer entscheiden, ob wir teilnehmen, selber bewusst mit allem altern und vergehen und neu teilhaben, oder so tun als gehörten wir nicht dazu, uns abseits halten und trotzdem altern und vergehen. So ist tatsächlich alles der Zeit unterstellt, unterworfen, auch der Charakter eines Prozesses selbst."

    „Die Frage ist immer noch, sagt der andere, „in welcher Richtung dieser wirkt und sich auswirkt!

    Beide nippen an den Tassen. „Das tut gut, bestätigt anerkennend der akkurat am Tische sitzende Gast. „Wird ja langsam kühl draußen.

    „Ja, es wird kalt, bestätigt der fremde Hausherr ihm zunickend. „Drüben haben sie da immer solche Mode-Wellen, die ständig Veränderung und Abwechslung bringen, damit keiner merkt, dass alles immer dasselbe bleibt… Das ist sehr geschickt. Jetzt haben sie eine Mode-Philosophie, die heißt Positiv denken! Hiernach würde man sagen: Es wird frisch! Das klingt doch positiv, wie? Arndt schmunzelt wieder und lacht sogar ein wenig. „Fahren Sie manchmal ’rüber? Werchosch nickt. Arndt überlegt und sagt, den Alten aufmerksam betrachtend: „Die sind eben geschickter als wir.

    Ebenso aufmerksam, fast scharf blickt der Gastgeber zurück.

    „Würden Sie sagen: Sie sind wirklicher als wir?"

    „Stimmt. Sie sind immer Wirklichkeit. Die treibt etwas ganz Konkretes immer weiter: Die einen müssen ihren Maximalprofit sichern. Die andern schwimmen mit und versuchen nicht unterzugehen. Das Geschäft muss laufen, die Machtverhältnisse dürfen nicht in Frage gestellt werden. Die wissen alle was sie wollen! Wir nicht!"

    Der Alte gibt sich einen Ruck. „Vielleicht habe ich in Ihrem Alter auch so gedacht. Aber eher nicht. Damals war eine andere… Zeit. Ich habe es vergessen. Jetzt jedenfalls, wo ich älter bin, sehe ich vieles komplexer. Sie werden vermutlich einmal folgende Erleuchtung haben. Das Leben ist ein Provisorium. Es sieht bei uns nur so geordnet aus. Aber das ganze Leben besteht aus Ideen, wie es sein sollte und Umständen, die sich ändern. Als junger Mensch hat man fast unendlich viel Zeit dafür, über die Zeit nachzudenken. Aber man hat so viel davon, dass man es kaum tut. Und deshalb folgen keinen Konsequenzen daraus. Irgendwann ist es wie bei einem alten Stundenglas. Die letzten Sandkörnchen rinnen davon. Da bleibt keine Zeit mehr. Man sucht nur Wirklichkeit, ohne begriffen zu haben, dass diese in der Zeit selbst liegt. Wenn es sich dann einmal nicht verleugnen lässt, wird klar, dass man alt wurde, dass alles was vergeht, nur eingeschränkt wirklich ist. Aber alles vergeht. Man selbst wird ziemlich bald und ziemlich plötzlich abtreten. Man ist nicht mehr. Man wird nicht mehr sein. Das merken Sie sich selber an! Sie sehen den Sensenmann winken, Woche für Woche ein Stück näher. Tag für Tag verfallen Sie, vergehen Sie schon. Jeder Tag der schwindet, ist ein Stück von Ihnen selbst, jeden Tag sehen Sie aufmerksam schwinden. Unumkehrbar schwinden Sie selbst. Sie werden ein Kribbeln spüren. Plötzlich haben Sie keine Zeit mehr für die Zeit. Jetzt sind das nur Ideen, die Ihrem Kopfe entspringen, um folgenlos zu bleiben. Dann aber wird es Sie körperlich verfolgen… und Sie beginnen, sich nicht mehr nach der Wirklichkeit zu sehnen, sondern sie umgehend zu schaffen."

    „Und dann?" fragt der Uniformierte.

    „Dann verfolgt Sie dieser Wunsch, das Dasein zu rechtfertigen – vor sich selbst. Das Leben geht folgendermaßen vonstatten: Als Kind geht Ihnen alles zu langsam; Sie wollen groß und ernst genommen sein. Ruckzuck sind Sie aber kein Kind mehr. Aber noch bleibt das Gefühl der sich endlos dehnenden Zeit; als Jugendlicher und junger Mensch scheint nun wirklich alles bleiben zu wollen. Erste Falten erscheinen, erste weiße Haare. Und plötzlich kommen Sie als Junger gar nicht mehr in Frage. Es gibt keinen Übergang. Plötzlich sind Sie ein alter Mann. Sie denken: Seltsames Leben! Sie wollen ihm noch einen Sinn zu geben. Sie schätzen ab, wieviel Zeit Ihnen verbleibt, teilen sie ein, kalkulieren. Aber auch das ist nur eingeschränkt Wirklichkeit. Denn die Sache ist Ihnen unheimlich – und ungewohnt. Deshalb treten Sie in eine neue Phase: Ihr Geist gewöhnt sich an diesen Zustand. Sie lenken sich ab, werden auch abgelenkt. Der vorherige Zustand tritt erneut ein. Die Gewöhnung und die Gewohnheit an diesen Zustand sind Ihnen vertraut. Es fällt leicht, sich ihm anzuvertrauen. Der Gedanke an den eigenen Tod gewinnt Natürlichkeit. Der tritt zurück, während er immer näher rückt. Das ist gut. Da am Tod nur ein wenig Gutes ist, soll er zurücktreten. Aber damit schwindet ein Stück Wirklichkeit. Das ist schlecht. Alles ist endlich; damit ist die Endlichkeit zwar Teil jeder Wirklichkeit. Das aber steht nicht zur Disposition; durch seine Selbstverständlichkeit. Es ist nicht weiter zu beachten. Eigene Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit werden erneut missachtet. Man lebt unbewusst. Das ist der Jammer. Vielleicht weil man es nie anders gelernt hat."

    „Ich denke, Zeit ist nur Veränderlichkeit und Endlichkeit der Dinge, wendet der junge Mann ein. „Das wäre mit Vernunft beherrschbar, man kann es verwalten! Man muss es nur tun. Jeder. „Natürlich, ganz richtig. Man muss sich emanzipieren über die Zeit. Das geht nur indem sie als Kategorie ernst zu nehmen ist. Mit dem Vernunftbegriff nur für sich kommt man da nicht weit. Der Gegner Tod ist ernstzunehmen. Dann erst kann man ihn schlagen. Der Gastgeber stockt. „Sagen Sie mal: Wie ist der Dienst, mit einem Wort gesagt?

    Schweigen.

    „Gefällt Ihnen die Gegend hier? Und Berlin? Wie sind Sie überhaupt in dieses Regiment geraten? Der Gast Thomas Arndt schweigt. Munter teilt der Gastgeber Werchosch mit: „Wissen Sie, wie Sie und Ihresgleichen genannt werden? Rotkehlchen! Wegen des roten Streifens!

    Der Besucher pustet in den Kaffee und lässt sich Zeit. Dann sieht er dem andern in die Augen und spricht langsam: „Rotkehlchen… Wir sind Kinder einer seltsamen Zeit! Entschuldigung… eines seltsamen gesellschaftlichen Rahmens. Als Kind hatte man die diffuse Vorstellung, auf der Welt zu irgendeinem Besten und Nutzen zu sein. Denn alles ringsum war geordnet. Man erhielt Bescheid: Tu dies! Tu’s so! Tu das nicht! Dies ist gut – jenes ist falsch! Man konnte sich der Welt zum eigenen Besten und Wohlgefallen fügen, indem man sich zum Besten der Welt fügte. Das alles gilt ab einem bestimmten Zeitpunkt den man uns nicht verrät, nicht weiter. Wir aber stolpern weiter dahin und haben plötzlich weder Ziel noch Orientierung."

    „Na, ja. Schon richtig. Aber das ist doch nichts Neues. Es galt und gilt seit es Menschen gibt. Glauben Sie mir, der ich viel Lehrgeld zahlen musste: Die Gewohnheit und die Grübelei – und die Gewöhnung an die Grübelei, mein Freund – das ist unser Feind. Vor dieser Arroganz von Jenseitigkeit müssen wir uns hüten, wir brauchen das Diesseits im Kopf. Natürlich brauchen wir auch Zukunftsideen, aber unser Urteil gehört hierher. Zuerst sind wir Teil des Diesseits der Welt. Wahrscheinlich gilt dies immer stärker, immer weiter zunehmend. Wir urteilen jedoch falsch, weil wir eben außerhalb der Zeit urteilen. Wir sind zu geduldig mit uns, mit unserem Urteil. Außerhalb der Zeit zu urteilen, heißt Fragen so zu klären als seien sie außerhalb der Bedingungen unserer Zeit lösbar."

    Ein wenig ängstlich betrachtet er seinen Besuch. „Und dann… ist es seltsam mit dieser, mit unserer Zeit bestellt. Weil wir uns lieber von ihr beherrschen lassen als sie zu kontrollieren, als sie untertan zu machen, steht man mit ihr regelmäßig allein da. Sozusagen. Beherrschen kann man sie nur gemeinsam. Beherrscht wird man allein. Es kommt leider immer darauf an, dass nicht nur die richtige Entscheidung fällt, sondern dass sie jetzt oder zur richtigen Zeit fällt. Hastig, als käme er zu spät, setzt er hinzu: „Das ist der erste Schlüssel.

    Ein Beweis dafür, dass dieser Sozialismus nicht funktioniert

    Der Gast sieht sich im Raum um. Dem Gastgeber angemessen wirkt er leicht altertümelnd: Vor dem Hintergrund einer zurückhaltend hell pastellen gestreiften Tapete stehen die dunkelbraunantiken Relikte staubiger Bourgeoisität, eingepflegt und umhegt von Attributen der sozialistischen Moderne, zwei helle, glattflächige Schrankvitrinen, ein Sekretär – Auszeichnungen einer neuen Zeit vor dominanter Kulisse des Alten, das nicht überwunden, kaum aufgehoben wird. Den harten Dielenboden mildert ein ausgedunkelter orientalisch anmutender Teppich, welcher nahezu den gesamten großflächigen Boden deckt. Die größte Wandfläche zieren drei asiatische Frauenfiguren, träumerisch schwebend in schmalen schwarzen Rahmen: ästhetisiert-stilisierte Gestalten in fliegendem Gewand und fein gezeichnetem Haar.

    Der alte Mann rührt gedankenvoll mit einem silbernen Löffelchen in seiner barocken Kaffeetasse, deren dunkler Inhalt sich beige färbt. Dann steht er langsam auf, geht zum Buffet, entnimmt diesem eine Flasche „Goldbrand" und stellt sie auf den Tisch.

    „Sind Sie verheiratet? Oder haben Sie eine Freundin?"

    Der Gast lächelt still und öffnet den obersten silbrigen Knopf seiner Jacke. Den Weinbrand in der Hand, fragt Werchosch weiter: „Wollten Sie eigentlich zu dieser Truppe?" Noch immer erfolgt keine Antwort.

    Er wartet, bis der Gast die Flasche nimmt, sich aus dieser die Kaffeetasse auffüllt und etwas daran nippt.

    „Oder dürfen Sie nichts sagen, Genosse Unteroffizier?"

    Feixend erhebt sich der Unteroffizier Arndt. Er geht einige Schritte bis zum Fenster; dann zur Tür: Er durchwandert den Raum quer von den asiatischen Schönheiten zum Bücherregal und nimmt es in Betracht. „Ich weiß nicht. Ich denke kaum darüber nach. Es ist Diesseits und Wirklichkeit, aber steht berechtigt außer jeder Frage. Da gibt es nicht viel zu bedenken. Es wurde auch nicht verboten, mit Ihnen darüber zu sprechen was man da tut, und wie man zum Wachregiment kommt. Das einzige was wir unterschrieben haben, war eine Verpflichtung, nichts nach außen zu tragen; wie es drinnen aussieht. Da geht’s wohl um militärische Dinge; wie stark die Belegung, die Bewaffnung ist."

    „Das gibt’s in jeder Armee der Welt…"

    „Ja, es ist ziemlich unspektakulär. Also folgendermaßen… Ich lebte vor allem in meiner eigenen Welt. Diese Welt war zauberhaft, durchsättigt von Büchern. Eines späten Nachmittags standen zwei nette Männer vor der Wohnungstür. Bis dahin gab es das noch nicht in meiner beschaulichen Welt, etwas Offiziöses, Dienstliches. Da standen also die zwei in Anzügen und Krawatten. Eine Ahnung durchschwebte mich – aufgrund der vielen Krimis natürlich. Ich hatte eine Assoziation wie: Ach je, Kripo! Und dann zücken die auch tatsächlich diese schmalen Ausweise, diese Dinger von denen mir erst hinterher aufging: Das sind die berühmten ‚Klappfixe’!"

    Freundlich nickt der Gastgeber, gespannt erwartungsvoll.

    „Komisch, ich habe gerad auf dem Weg durch Erkner darüber nachgedacht. Man ahnt ja wirklich nicht, wie schnell man mit der Wirklichkeit konfrontiert ist. Ja, da standen sie. Zurückhaltend, nicht einfach höflich, sondern sehr freundlich, fast ein wenig verschämt. Man merkte sofort, die wollen etwas was sie nicht unbedingt kriegen würden.

    ,Wir würden gern mal mit Ihnen sprechen. Dürfen wir hereinkommen?’ Wissen Sie, man hat ja keine Angst. Irgendwie kennt man alles. Man kennt sich, sogar wenn man sich nicht kennt. Warum also nicht? Dann saßen sie still und bescheiden an unserem runden Tisch, rührten in ihrer Kaffeetasse – so wie Sie jetzt – und vollführten ihre Schau: ‚Sie werden ja schon gemerkt haben, dass von der Arbeit des MfS, der Staatssicherheit nie was in Fernsehen oder Kino kommt… Man sieht mal etwas von der Arbeit der Kriminalpolizei und von der Armee. Aber die Staatssicherheit wird nie beleuchtet. Können Sie sich vorstellen, warum das so ist?’ – Übrigens, können Sie es? – Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Denn irgendwas könnte man ja bei aller Vorsicht doch bringen. Wurde ja auch schon gemacht. Sogar ganz spannend wie Das unsichtbare Visier. Dann hieß es: ‚Also müssen wir persönlich vorbeikommen.’ Na gut, aber was wollten sie nun? ‚Sie werden sich nun fragen, was wir eigentlich wollen. Haben Sie mal etwas vom Wachregiment gehört? Nein, das hatte ich wirklich nicht.

    ,Ja, also dem Ministerium ist eine eigene militärische Einheit unterstellt, das Regiment Feliks Dzierzynski. Sie haben sich für drei Jahre verpflichtet. Die können Sie normal bei der NVA verbringen. Aber wir wollten Ihnen eine andere Möglichkeit anbieten. Wenn man zum Wachregiment kommt, ist der Werdegang dem in der normalen NVA ähnlich: Man hat die Grundausbildung. Danach folgen Wach- und Sicherungsdienst, und ab und zu mal ein interessanter Einsatz. Können Sie sich vorstellen, dass es für Sie in Frage käme?’

    Ich konnte. Natürlich! Jeder kann das. Das war die bekannte Stimme der Welt, die zu ihrem und unserem Besten die Dinge plant und für uns ins Auge fasst und fügt."

    Thomas Arndt geht zum Tische. Er nippt am Kognak-Kaffee und liest weitergehendes Interesse in den Augen des Herrn Werchosch. Einen Augenblick überlegt er: Moment! Was treibe ich denn hier? Der wird mich wohl nicht ausholen? Nein! Soviel Menschenkenntnis, soviel Gespür hat man auch mit Zwanzig. Man weiß vielleicht nicht, ob es so ist. Aber wenn man spürt, dass es nicht so ist, besteht darauf Verlaß.

    „Ehrlich gesagt, lief es bei meiner Verpflichtung nicht ganz so im Selbstlauf. Von Natur her bin ich kein militärischer Typ. Wenn ich auch bereit bin, Vorgaben zu folgen – soweit es vernünftige Vorgaben sind –, so sagt es wenig darüber aus, ob ich innerlich geneigt bin. Und dann gehen mir die militärischen Tugenden ziemlich ab. Körperliche Belastung war mir eher fremd. Ich bin ja ein fauler Träumer, ein Melancholiker. Glücklicherweise war ich auch immer ein drahtiger Typ; hatte mein Sportpensum bislang erfüllt. Aber dieser preußische Befehlston bei der Armee! Diese starr-hölzerne Logik, diese stupid eindimensionale! Na gut, man ist ein sozialistischer Staat; hier gelten irgendwo sicher Humanismus, Verantwortung und Solidarität. Aber für die wirkliche Überwindung des Sergeanten Waurich bei der NVA hätte ich meine Hand nicht ins Feuer legen mögen… Hinzu kam etwas anderes, worüber man viel nachdenken und streiten kann. Ohne weiteres hätte ich mich – trotzdem ich von Hause aus kein Sportler bin – aus moralischem Beweggrund der Verteidigung des Sozialismus verschrieben, sicher unter Einsatz sogar des Lebens. Aber hier wird’s schwierig. Denn dieser Sozialismus ist zwar grundsätzlich mein Sozialismus, in vielerlei Hinsicht von Wirklichkeit aber auch nicht mein Sozialismus. Der große Menschheitsentwurf, das historische Projekt absoluter Zukunft für jeden denkenden Menschen, alles was in den Siebzigern noch so stabil war und unumstößlich schien, hat ja mit Beginn der Achtziger eine andere Gestalt angenommen. Und zwar sichtbar! Trotzdem ist es so: keine Bettler und Obdachlosen, kein öffentliches oder geheimes Elend, immer noch hoffnungsvolle Menschheitsperspektive von Frieden und so weiter."

    Langsam ergänzt der alte Gastgeber: „Keine Inkassoinstitute die einem auf die Pelle rücken… Kreditbetrüger die einen übers Ohr hauen und mit der Not anderer ihr Geschäft machen."

    Arndt stutzt: „Inkasso-was? Dann spricht er weiter: „Aber diese neue Funktionärskaste! Diese steife ängstliche Verhinderung und sture Ablehnung von Kritik und Debatte! Diese Langeweile im gesellschaftlichen Leben! Zunächst war da ein feiner Nebeldunst in den sich die frohen Erwartungen von Fortschritt auflösten; allmählich und schemenhaft traten im vertraut behaglichen Lebens, im alltäglichen Einerlei die Umrisse einer unglaublichen Stagnation hervor. Was nicht weitergeht, geht aber über in Agonie! Was nicht vorankommt und wächst – und wenn wir von Menschheitsentwürfen reden auch deutlich im internationalen Maßstab – das bleibt kaum! Kann doch nicht bleiben! Es fällt moralisch. Was moralisch fällt, bricht mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt zusammen. Es muss zerfallen! Denn die Gegenbewegung erstarkt proportional, und zwar ist es noch nicht mal eine einfache Proportionalität.

    Gast Arndt geht zum Fenster und sieht hinaus in den sanft bläulichen Herbsttag, pastellbunt laubdurchflimmert. „Was ich fragen wollte: Was sind Sie eigentlich von Beruf? Gespannt und mit hellwachem Blick auf den Lippen seines Gastes hat der alte Mann gelauscht. „Lehrer! erwidert er munter. „Ich war immer Lehrer. Zunächst kam ich natürlich aus dem Krieg. Ich hatte unglaubliches Glück, war bei der Flak, dann in Frankreich. Dann noch im Osten. Ringsum sind meine Kameraden gestorben. Ich kam durch. Nur meine Knochen sind kaputt. Ich hatte mehr Glück als Verstand. Sonst wäre ich damals längst übergelaufen. Während des Aufbaus war ich Neulehrer, später in der pädagogischen Weiterbildung und dann wieder Lehrer bis zur Rente. Ich habe immer gern mit jungen Menschen gearbeitet. Aber Sie waren noch nicht fertig, glaube ich. Ich nehme an, ich weiß was Sie meinen. Woran merkten Sie es genau?"

    Thomas Arndt am Fenster muss sich besinnen. Er lächelt. Ich habe mich selbst aus dem Konzept gerissen! So kommt man natürlich nicht voran!

    Er schüttelt den Kopf, als wundere er sich plötzlich über feinen Dunst über eben noch klarem Bilde. „Es ist immer wieder unfassbar für einen jungen Menschen, mit jemandem zu sprechen, der noch selber im Krieg war. Es ist ein Gefühl als träfe man einen Jura-Überlebenden, der Dinosaurier mit eigenen Augen sah. Laut lacht er auf. „Entschuldigen Sie!

    Der alte Gastgeber jedoch lacht ebenfalls. „Das Gewicht der Vergangenheit lastet auf der Gegenwart. Es formt sie zu deren Besten. Vielleicht beschädigt es sie zugleich. Er wartet ab. Arndt sieht in den blauen Herbst und auf leise fallende Blätter im Garten. „Es muss heißen: Woran ist es zu merken? Es geht doch nicht um mich… Sehen Sie’s denn nicht?

    Gastgeber Werchosch wartet ab.

    Arndt schüttelt wiederum verwundert den Kopf. „Woran, woran… Nichts wird mehr ernst genommen. Nichts ist mehr ernstzunehmen. Diese beiden Männer von der Staatssicherheit waren die einzigen staatlichen Repräsentanten die ich in den letzten Jahren erlebte, die ihre Sache noch wirklich ernstnahmen, Fernsehen, Zeitung und Rundfunk inbegriffen. Die haben Ambition und Intuition bewiesen. Sonst: In allen Betrieben, auf den Plätzen und in den Nachrichten zu hohlen Phrasen verkommene, lange vergilbte Bekenntnisse und Losungen von vor Jahren und Jahrzehnten, die wirtschaftlichen Daten geschönt. Die Presse öde bis zum Umfallen… Die Schuldirektoren und Staatsbürgerkundelehrer missbrauchen die erschöpften Kinder für end-, freud- und sinnlose Reden. Das alles mochte ich nun nicht unbedingt noch bis zum Umfallen mit der Knarre verteidigen, unter Rückstellung eigener Persönlichkeit. Da fehlte mir nun die Freude – die sie uns ausgetrieben haben."

    „Sie haben sich aber schließlich doch aufgerafft!"

    „Ja, das ist das richtige Wort. Aber es reicht auch nicht ganz aus. Es reicht nur zum Teil. Nach einer Seite hin war ich ja bereit, für Sozialismus – auch für den schlechtesten – einzustehen. Nach der anderen kam Anpassung wieder ins Spiel, der Konformismus. Uns wohnt immer Unterordnung inne. Nennen Sie es wie Sie wollen. Man hat das Bedürfnis, sich einzupassen, anzupassen, Teil zu sein. Das geht bis zur Unterordnung unter den offiziellen Wunsch; zumal der auch gesellschaftlicher Wunsch zu sein scheint. Na schön, sagen wir Interesse. Vielleicht wird der Wunsch von niemandem mehr subjektiv so empfunden. Objektiv jedoch, als objektives Interesse ist das gegeben. Es der reale vertraute Ruf der Welt die uns wohlmeint, indem sie für sich sorgt und für uns sorgen lässt. Beide Seiten vermischten sich."

    Arndt geht zum Tisch, nimmt einen Schluck und geht wieder zum Fenster, und schaut in den Herbst, auf durcheinander taumelndes Laub.

    „Da gibt’s die kleinbürgerlichen Spießer, die Aktenhengste und Zahlenliebhaber. Die haben das Bedürfnis, einen für drei Jahre zu den bewaffneten Organen melden zu können. Dann stimmt ihre Statistik. Die haben nie etwas von Sozialismus begriffen, ahnen kaum was das ist. Aber diese Leute verkörpern heutzutage Macht, auch wenn sie im Einzelnen keine Macht repräsentieren und nur die Masse sie mächtig macht. Und das freundliche Auge der Macht hat gewisse Kraft. Natürlich ist dieser freundliche Blick bei uns in der DDR nicht zwingend, nicht notwendig. Wäre es nur dies gewesen, hätte ich wohl widerstanden. Denn am freundlichen Auge dieser Pappfiguren liegt mir wenig. Bekanntlich muss man nicht drei Jahre zur Armee; auch nicht Studiums oder Arbeitswünsche wegen. Nebenbei: Die Macht wird vertreten von Pappfiguren, die den ganzen Sozialismus verhunzen. Im Gegenteil: Es hätte mich gefreut, denen den dicken Daumen zu zeigen. Es war eben nicht nur das."

    Thomas Arndt verlässt den Fensterplatz und setzt sich an den ovalgeformten Tisch mit der bunten Decke. Der alte Mann sieht ihn so nachdenklich an, dass Arndt fragt: „Wollen Sie etwas ergänzen?"

    Werchosch ergänzt: „Die Macht wird nur vertreten, haben Sie gesagt. Die bewusste Macht liegt vielleicht bei diesen Figuren. Die unbewusste aber reale Macht hat bei uns trotz allem das Volk, haben sie auch gesagt. Es weiß es nur nicht mehr. Auf dessen leisesten Impuls hin, ist alles denkbar."

    „Ja, das mag sein. Man übersieht nicht alles. Ich dachte: Vielleicht erfährt die letzte aber wesentliche Bastion, der REST Sozialismus – die ökonomische und soziale Basis – seine größte Bedrohung letztlich nicht durch diese Figuren? Wer kann das genau wissen? Absurderweise hätten sie mit ihrem formalistischen Zum-Dreijahresdienst-bei-der-Armee-Überreden gerade dann recht und wären dann gerechtfertigt, wenn der ausschlaggebende Angriff auf uns nicht von ihnen selbst, sondern eben doch von außen eintritt? Das entspricht immerhin jeder historischen Erfahrung. Wer konnte und kann es also ausschließen? Da ich mir ein Gewissen zugestand, durfte ich mich ganz opportun der formalistischen Vorgabe fügen." –

    Gastgeber Werchosch setzt freundlich fort: „Und Sie hatten beides: Die Anerkennung vom Amtsschimmel und gerade damit auch ein sauberes Gewissen! Fakt ist aber: Wenn es so läuft, ist es falsch."

    Beglückt lächelt Arndt. Der alte Mann zeigt keine Regung. „Ich weiß aber nicht, die Stimme knarrt leicht, „ob Sie recht haben. Es ist und bleibt schwierig für alle Zeit, denkt der Arndt. Er schließt den obersten Knopf der steingrauen Jacke, so dass die Kragenspiegel hervortreten und trinkt im Stehen übergangslos die Kaffeetasse samt Weinbrand aus. Er geht zur Tür, unter welcher er stehenbleibt und wartet.

    Der alte Lehrer erhebt sich ebenfalls.

    „Welches Buch lesen Sie gerade", fragt der Gast.

    „Weshalb?"

    „Ich beweise es Ihnen! Falls es ein aktuelles Buch ist."

    Der junge Arndt dreht sich um eine halbe Wendung dem Alten zu. Beide lächeln sie. Sie stehen sich gleichrangig gegenüber. Es geht nicht nach Dienstgrad. Es geht nicht nach Lebensalter. Es geht nicht nach Lehrer-Berufung und Rechthaben. Es geht um Wahrheit. In einem Punkt sind beide gleich jung oder gleich alt – im seelischen Wesenskern. Seele altert nicht. Sozialismus ist Sozialismus, auch wenn er inzwischen verhunzt aussieht.

    Es sind zwei gleicherweise nachdenkliche und somit gleichwertige Menschen. Hat der Mensch eine Wertigkeit? Oder zählt nicht vielmehr das Leben selbst? Wir werden sehen. Es ist der frühe Herbst des Jahres Neunundachtzig. Alles ist noch ruhig in der Parität der Weltsysteme ausgeglichen, die Balance der Menschheit scheint noch stabil. Das Krachen im tiefen Gebälk nehmen nur die besonders Hellhörigen wahr.

    Rasch geht der Alte in den Flur und kehrt mit einem schmalen Band in der Hand zurück. „Haben Sie davon gehört? Das ist ein Aufreger bei uns!"

    Er schlägt auf und rezitiert: „Wir sprechen viel davon, dass die Welt des Monopolkapitals in der Defensive sei, und das ist richtig so. Sie hat ihre Zukunft verloren und kann nur noch eine krisenhafte Gegenwart bewahren. Wir sprechen aber viel zuwenig von dem großen Einfluss, den diese Welt des Monopolkapitals heute noch auf die sozialistischen Länder ausübt. Ich hoffe, das wird ganz anders ein, wenn Du diese Briefe lesen wirst, obgleich dann der Einfluss des Monopolkapitals auf die Welt des Sozialismus bereits viel geringer geworden sein wird. Ich meine mit diesem Einfluss natürlich nicht nur die verfehlte Nachahmung des so unsinnig schnellen Modewechsels in der Kleidung, der übrigens ganz glänzend in die Welt des Kapitals passt, weil er wesentlich zur Profitsteigerung beiträgt, während er uns jährlich sinnlose Millionenausgaben verursacht. Nein, ich meine zum Beispiel und vor allem die gewaltigen Rüstungsausgaben, die uns das Monopolkapital zu unserer Verteidigung, zur Verteidigung der Zukunft der Menschen aufzwingt. Ich bin überzeugt, dass wir ohne die Notwendigkeit der Rüstung zur Verteidigung des Sozialismus nicht nur, wie heute, eine stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität, sondern während des letzten Jahrzehnts jährlich in der Industrie eine doppelt so schnelle und in der Landwirtschaft eine dreimal so schnelle Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht hätten. Ich bin überzeugt, dass der Hunger in den Entwicklungsländern durch unsere Hilfe in den letzten zehn Jahren weitgehend beseitigt worden wäre."

    „Wer schreibt?" fragt der Gast, unter der Wohnraumtür stehend.

    „Der Mann heißt Jürgen Kuczynski, ein weltbekannter Wissenschaftler. Haben Sie von ihm gehört?"

    Der Besucher nickt. „Belassen wir es dabei. Es ist sicher gut gemeint vom Kuczynski. Klingt das arrogant? Aus jedem Wort spricht Betulichkeit. Da spricht ein geheimer Wunsch; es möge schon so gehen. Es geht dabei aber nicht mehr."

    „Ist das die vielgerühmte Objektivität? fragt der alte Werchosch, und ein Schmunzeln sitzt in den Mundwinkeln. Es wirkt ein wenig spöttisch. Arndt hebt die Schultern. „Das ist sie. Die liegt ja nur daran, ob ich mich selbst in Frage stellen kann. Wie oft soll ich mich noch in Frage stellen? Sehen Sie, die falsche Gewissheit springt einem ja schon sprachlich ins Auge. Wie war das: Ich hoffe, es wird besser sein, obgleich es dann viel besser geworden sein wird? Es klingt ja wie aus dem ND abgeschrieben. Was soll das ‚obgleich’? Folglich ist doch die Gewissheit falsch! Es ist eine trügerische Sicherheit, die uns der Mann vorgaukelt. Eine beschworene Selbsttäuschung! Und wie war das mit der Mode? Mode ist ihrem Wesen nach Blödsinn weil sie Ausdruck eines Wandels ist, den es im Übrigen noch gar nicht gibt. Drüben gibt es den Blödsinn, und uns kostet die Wiederholung des Blödsinns Millionen? Sind wir denn überhaupt gezwungen, Blödsinn zu wiederholen, obendrein denselben? Kann es nicht zumindest eigener Blödsinn sein? So müsste man die Frage stellen. Und siehe da: Wenn die Mode Ausdruck wirklicher gesellschaftlicher Veränderung ist, wenn sie echte Dynamik widerspiegelt, und das von uns ausgeht, dann steht’s anders herum: Wer – Wen? Nicht wahr? Übrigens war man schon mal da, wie bei der internationalen Weltraum-Mode der Fünfziger, die von der Sowjetunion ausging und ihren Ausgangspunkt in den Spitzentechnologien der Russen hatte.

    Der alte Lehrer öffnet die Lippen, wie zu einer Entgegnung. Aber dieser junge Thomas Arndt wedelt den kommenden Einwand hinweg. Er zeigt sich unwillig und unduldsam. Es ist der Unwille einer Jugend, die nicht zu ihrem Rechte kam sich einzumischen, obgleich sie es doch hatte tun sollen in diversen Kinder- und Jugendorganisatoren, obgleich sie es hätte tun wollen Alles zerbricht. Im Untergang herrschen Unwille und Willkür. Die Moral fällt. Es geht nach Dienstgrad. Es ist zu spät. Wir sind zu alt geworden. Wir haben keine Zeit mehr. Wir alle.

    „Da drüben steht der Wolf und will uns DDR-Schafe fressen. Ich bezweifle auch, dass von siebzehn Millionen DDR-Bürgern sechzehn auch nur ahnen, was sie unter ‚Steigerung der Arbeitsproduktivität’ verstehen sollen! Was ist das? Demonstrativ reibt Arndt Daumen und Zeige- und Mittelfinger. „Es klingt so wie: Nun arbeitet mal etwas mehr! Und genau diese sechzehn Millionen die nicht wissen, dass sie gerade weniger arbeiten müssten wenn die Arbeitsproduktivität stiege – entscheiden. Sie entscheiden durch Nichtstun. Statt sich Gedanken um produktivere Arbeit zu machen um ihrer selbst willen, fällt ihnen nur ein, jetzt sofort weniger zu arbeiten. Aber warum ist das so? Weil ND und Kuczynski im Chor behaupten, die Arbeitsproduktivität stiege ‚stetig’! Die geben doch den Idioten recht!

    Der alte Herr Werchosch staunt innerlich. Da steht er – der deutsche Unteroffizier. Er war nie weg. Irgendwo steckt er tief drin. Überraschend für seinen Gast, welcher schon am Regulator, an der Haustür steht, lächelt er diesem zu. Die weise Gelassenheit des Alters ist auch schon lange da. „Das Buch heißt ‚Dialog mit meinem Urenkel’. Ich leihe es Ihnen gern mal, zu nochmaliger Lektüre. Vielleicht fällt Ihnen noch was anderes auf. Übrigens würde ich mich freuen, wenn Sie bald wieder vorbeisehen würden. Ich lebe nur noch allein. Man freut sich über Gesellschaft. Der Gast hat den Mantel mit dem silbrigen Winkel des „Unteroffizier auf Zeit übergezogen.

    Nach einem kurzen Zögern steckt er das Büchlein in die Mantel-Innenntasche. „Ich weiß. Es war ja wirklich Thema wie Sie sagen, tauchte als Geheimtipp auf. Es ist nur eine große, gut gemeinte Halbheit! Der Mann lebt in der sicheren Gewissheit, mit seinem Zuspruch, mit seinem Gut-Zureden samt wohldosierter Kritik den nicht optimalen Zustand optimal zu stabilisieren und damit die Grundlage, das Fundament für kommende – woher auch immer wundersam kommende – Besserungen zu festigen. Und das ist der Irrtum. Einen zugegebenermaßen nicht optimalen Zustand befestigen zu wollen, heißt, Fehler zu zementieren. Wenn es ihm darum geht, von der guten Grundlage zu überzeugen, dann gibt er ja zu, dass diese Überzeugungsarbeit nach Jahrzehnten notwendig ist, wohl zunehmend notwendig. Befestigt wird die Grundlage in diesen Dimensionen durch Skepsis und Kritik der Praxis! Was er bietet, ist nicht der Weg der nur im Gehen sichtbar und wirklich zum Weg wird, sondern der Abweg, ein Irrweg des Glaubens und Hoffens. ‚Ich hoffe’… In Kuczinskis Irrglauben steckt der Wunsch, etwas Gutes zu tun. Ja, ich weiß schon; es ist keine unmoralische Überzeugung. Es geht ihm nicht um sich selbst, er will sich kein Denkmal setzen, will weder Ruhm noch Nachruhm. Aber er stellt den kritikwürdigen Zustand unter Kritik, NACHDEM er ihn lobt. Halbheit und Urgroßvater-Beschwichtigung helfen keinem. Er tut’s in der falschen Gewissheit, etwas Gutes zu tun. Etwas Gutes zu tun – ist aber keine Gewissheit! Etwas gut zu tun braucht Gewissen, ebenso wie Gewissheit falsch ist. Er beschwört und merkt nicht, dass seine Beschwörung fauler Zauber ist. Und glaubt zu beschwören reiche aus! Nur das richtige Verhältnis von Anerkennung des Bestehenden und Kritik reiche aus, um es nicht nur zu erhalten, sondern womöglich zu verbessern. Nutzen von Kritik entscheidet sich nicht nach ihrem ausgewogenen Maß, sondern allein daran, ob sie weiterhilft. Kuczynski steht beispielhaft."

    Er senkt den Blick. „Dialog…"

    „Er ist Statistiker", eröffnete der alte Mann erklärend.

    „Na bitte! Er klammert wohl das Soziale und Psychische einfach aus."

    Draußen geht der Unteroffizier Arndt die drei Stufen herab. Er dreht sich dem Hausherrn zu und sagt von unten: „Danke übrigens für den Kaffee. Der war noch besser als bei uns im Zimmer. Man glaubt’s kaum, wir dürfen eine Kaffeemaschine haben. Man denke sich: eine deutsche Soldatenbude mit eigener Kaffeemaschine!"

    Der alte Lehrer lächelt. „Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie beispielhaft für viele Funktionäre, insbesondere Parteifunktionäre? Aber das sind doch alles Spießer? Wissen Sie, vorhin habe ich ganz kurz gedacht: Das ist die typisch brutale Großsprecherei eines Kleinbürgers in Uniform. Sie haben mir viel zum Nachdenken aufgegeben! Ich glaube auch… der Kleinbürger, auch der in Uniform, war schon mal weiter zurückgedrängt als heute. Das war etwa um 1970."

    „Ja, spricht der Arndt langsam in den kühlen hellen Herbst hinein. „Ja, es geht uns allen zu lange schon zu gut. Wir haben den Ernst verlernt. Und dann gibt’s ein Wort wie Dialog, das leidergotts nur unecht ist. Das ist die Krankheit unserer Zeit, die Fäulnis unseres Sozialismus: Der Dialogpartner kommt ja gar nicht zu Wort! Das ganze Buch besteht nur aus Fragen, die von Kuczinski gestellt und der Einfachheit halber gleich selbst beantwortet werden. Daran krankt alles; dass man aus Sicherheitserwägungen und Ergebenheit jede offene Debatte zu führen verlernt hat. Natürlich ist es schädlich, wenn ein Gegner jeden Fehler bemerkt und kennt. Aber zentrale Fragen dürfen doch deshalb nicht vertagt werden. Eher müsste es heißen: Soll er es merken! Jetzt können die anstehenden Fragen nicht geklärt werden, weil man nicht wagt, sie überhaupt noch anzusprechen. Natürlich ist es schwer, zu entscheiden was die zentralen ausschlaggebenden Fragen sind. Nur: Dass eine Gesellschaft ein Zukunftsbild von sich selbst braucht, dem nachzustreben ihr lohnenswert erscheint, versteht ein Siebenjähriger. Dass man dahin kommen muss, wenn sie’s nicht hat – auch. Was soll denn nicht verraten werden? Das was jeder merkt und weiß! Und es merkt und weiß jeder. Die Illusion vollkommener Sicherheit führt vollkommen sicher zum Ende der Illusion. Gut, aber was kommt dann? Was soll man da tun?

    Der alte Mann blickt in eine unbestimmte Ferne. „Kommen Sie aber wirklich wieder! Am besten nachmittags wie heute. Da bin ich meist zu Hause. Denken Sie daran: Sie haben erst einen Schlüssel von dreien! Aber setzen Sie ihn auch ein! Nutzen Sie ihre Zeit! Werden Sie konkret!"

    „Was heißt denn das?"

    „Sehen Sie sich in Ihrer eigenen Zeit! Innerhalb Ihres eigenen Vergehens, bevor Sie brüchig und morsch sind. Das ist allein Ihr legitimes, notwendiges Eigentum: ihre Zeit! Nichts anderes."

    „Aber was heißt denn das?"

    Von weitem konnte man denken, es handele sich um sehr vertraute Personen, etwa Vater und Sohn, welche keinen Abschied finden.

    „Jeder Stunde, jeder Sekunde wohnen verschiedene Ausgangsmöglichkeiten für die Zukunft inne. Das ist alles ihr Besitz, ihr Eigentum. Was davon sich entfaltet, liegt bei Ihnen, bei Ihnen selbst. Bleiben Sie nicht darauf sitzen! Setzen Sie ihre Zeit ein! Dieser Einsatz bringt ganz sicher Gewinn. Werden Sie produktiv! Durchdenken Sie die konkreten Bedingungen ganz konkret. Und deren Veränderung auch."

    „Sehr gut. Ich werde dies konkret durchdenken."

    Der Her Werchosch lacht. „Sagen Sie es! Sprache und Denken – das zählt nur zusammen.Teilen Sie es mit!"

    Der Alte reicht Arndt die Hand. Er schaut die Stufen herab, dem langsam schwindenden Gast hinterher. „Nehmen Sie den ersten Schlüssel! Kämpfen Sie! – „Kämpfen…, ruft der Unteroffizier Arndt zurück. „Das haben wir nicht gelernt."

    Schritte in der Dämmerung und der bordeauxrote Klassenkampf

    Er geht. Raschelndes Eichenlaub. Haltlos sind die Gedanken und rege, tröpfeln und laufen auseinander, verdunsten und kondensieren neu und schlagen nieder: Zweitens wissen wir in diesem Nebel nicht mehr, wo der Gegner steckt. Drittens: Wozu?

    Paradox! denkt er, während die Stiefelspitze buntes, trockenes Laub durcheinander wirbelt. Ja! Wofür? Für ein mildes sanftes Leben, für ein- und zuträgliche Atmosphäre? Für sorgenfreies Sein? Das ist ja noch lange kein Lebenssinn. Es ist blanker kapitalistischer Ökonomismus. Der Kampf ums Sein, um Ernährung, Kleidung… die Sorge ums Sein verschwindet doch im Sozialismus, und ist verschwunden. Etwas anderes muss an deren Stelle treten, trat aber nicht. Paradox! Und nebulös! Diese Leerstelle ist eigentlich der Gegner. Wo wurzelt dieser Gegner genau? In Berlin, auf dem Stuhl des Staatsratsvorsitzenden? Vielleicht. In Bonn? Nein, die Lakaien sind bedeutungslos. In irgendwelchen Agenturen, Geheimdienst-Zimmern? Sicher… zumindest indirekt. Nett ist dieser Herbst des Jahres 89! Angenehm – und paradox. Sicher meint es der alte Mann ehrlich. Aber Kuczynski meint es ja ebenfalls ehrlich. Oder? Treibt er ein doppeltes Spiel? Macht er in seinem Innern Konzessionen an den Apparat, an die Schreiberseelen, den Staatsratsvorsitzenden? Passt er sich an? Natürlich. Wozu hat er jedoch solches Buch geschrieben? Doch nicht um sich anzupassen? Etwas bewegt ihn doch! Ginge es ihm hierbei um Reputation, so ist der Text zu wenig angepasst. Der unklare, widersprüchliche Stil legt Anpassung aber nahe. Was ist das überhaupt für ein Kriterium: ehrlich meinen? Ist man’s – oder man ist nichts. Anpassung ist niemals ehrlich.

    Natürlich glaubt er, zu stabilisieren, zu stärken, zu befestigen. In homöopathischen Dosen. Aber die halbe Wahrheit hat zur anderen Häfte die Lüge. Dies kann schädlicher sein als die ganze Unwahrheit, da es die ganze Wirklichkeit scheinbar bestätigt. Was voran führt, liegt am Wissen, an der Einsicht in die ganze Wirklichkeit. Und die ist bei uns eben vernebelt, trübe faul… fäulnishaft, denn sie ist vernebelter Teil der Wirklichkeit. Das alles ist nicht mehr nicht gedankenvoll, nicht orientiert, gedankendurchdrungen, nicht geistvoll. Ein revolutionärer Geist fehlt.

    Ein Geist wirft keinen Schatten. Aber Verehrtester! Es ist ja offenkundig! Hier bei uns herrscht bürgerliches Denken: Meine neue Schrankwand oder eingebaute Sauna. MEIN Studium, mein Auto, meine neue Volvo-Staatskarosse in welcher ich meinen Staatsgast empfange. Meine Meinung zählt, deine nicht. Und wer dies so stabilisiert wie es ist, verhindert Reifung, weil er Reibung verhindert. Dieser bekämpft uns objektiv, weil Fortschritt Reibung braucht. Wer besiegt wen? Das gegnerische Denken überfällt, herrscht und überkommt. Das egoistische – seit Jahrtausenden anerzogene, aufgezwungne – Denken herrscht auch bei uns wieder; und zwar seit langem zunehmend. Obgleich es nicht mehr erzwungen ist! Und wir haben nun die paradoxe Lage, dass diejenigen die am Schutz des Sozialismus subjektiv wie objektiv interessiert sind, in genau den Organisationen zu Boden geredet, überstimmt und verschwiegen werden, die ihr Interesse organisieren wollen, sollten und müssten. Jene müssen sich privatim treffen, fast konspirativ.

    Wer – Wen? Wer übertrifft wen in der Herrschaft der Gedanken? Wer täuscht wen? Wer besiegt wen? Das Paradoxon wird in grotesker Brillanz gespiegelt in der Verpflichtung, die anderthalb Jahre Grundwehrdienst auf Dreijahresfrist zu erhöhen, was durch kaum einen Jugendlichen erwünscht ist. Indes ist es Brauch seit etlichen Jahren: Wer sich zu Staat und Sozialismus deutlich bekennt, verpflichtet sich für länger als nur seine Pflicht abzudienen. Die meisten tun’s nicht. Das ist seltsam, aber niemandem aufgefallen: Liegt ihr Bekenntnis nicht vor? Stört das keinen? Gibt es zu keiner Schlussfolgerung Anlass? Oder liegt es nur nicht deutlich genug vor und fristet ein kümmerliches Schattendasein? So! Warum? Die meisten fühlen sich doch dem Frieden und auch dem Sozialismus durchaus wohl verpflichtet; solches zu schützen erscheint wohl sinnvoll. Aber nicht länger mag man als die minimale Gesetzesfrist vorsieht; ein offenkundiger Ausdruck philisterhaften Vertrauens in das sozialistische Gesetz das den Sozialismus der Praxis wohl gar nicht bestätigt, als Bestätigung vielmehr dient eigener unsozialistischer Bequemlichkeit, die typisch sozialistisch erscheint. Und es bleibt eine zentrale Fragestellung: Lebt man für etwas Richtiges oder lebt man fürs eigene Leben allein? Die Zeit sei der Schlüssel. Wir haben sie nicht verstanden und nicht zu nutzen gewusst, unsere Zeit.

    In den langen Prüfungswochen des Schulabschlusses zur Verpflichtungszeit war ihm kokett aufgegangen, dass ein bestimmter Charme in der Konstellation lag: Er – dem es insbesondere wenig lag – verpflichtete sich zu drei Jahren Waffendienst, um zu schützen was insbesondere ihm kaum mehr als schützbar erschien.

    Er lächelt.

    Wir sind unbesiegbar. Der unüberschaubar riesige, stufenweise Aufstieg vollzieht sich nicht mehr. Aus tiefsten Gründen dringt ein dumpfes Grollen, tiefer als Menschensinn zu erfassen vermag. Der Aufstieg endet – ist lange vorüber. Es ist keiner dieser Träume: Die Stufen rings schwingen unter donnernd mächtigen Stößen der Tiefe. Sie knirschen, reißen und krachen. Abgründe öffnen sich. Vernunft, Menschenliebe zu Dasein und Welt, die Fröhlichkeit allen Seins verwehen schon. Wissenschaft und Kunst wollen enden; kaum noch sind sie unterscheidbar vom Westen. Denken endet. Der weiße Tempel Zukunft, noch stehend, erzittert unter den wirkmächtigen Stößen der neuerwachten Vergangenheit, zerbirst und splittert zerspringend. Wer wen? Immer neue Sprünge und Löcher reißen auf im weißen ewigen Marmor. Er bröckelt, neigt sich und zerfällt. Dröhnend fallen Trümmer. Die Größe eines solchen Endes erdrückt jede Würde. Wer sah solches. Namenloser Schrecken kennt keinen Anspruch, kennt keine Form. Alles wird unkenntlich und verschwimmt. Noch steht der weiße mächtige Bau, allem Donnern und Bersten trotzend. Noch besteht Vernunft, während sie verfällt, zerreißend, zerplatzend. Die Säulen fallen und krachend zerbersten. Ringsum erbebend schlingert die Welt.

    Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! sprach die uralte Großtante wohl einmal. Was hatte sie mit dem Sozialismus zu schaffen? Nun, genaugenommen nichts: Sie lebte darin.

    Da er als Kind zu Besuche in der uralten Villa weilte, den großen verwilderten Garten besichtigt hatte, herrschte die beginnende Dämmerung der mittleren achtziger Jahre. Wenn man die geheimnisvolle Dachkammer mit den uralten verstaubten Truhen, Gläsern und emaillierten Reklametafeln der Zwanziger-Jahre-Gastwirtschaft besichtigt hatte, und dann bei Kuchen zusammen saß am riesig-ovalen, damastgedeckten Tische, wurde die Zeitlichkeit allen Umfelds spürbar, noch ohne feste Konturen zu haben.

    Die Rede allerdings war von einer Bekannten und deren schwerer Krankheit gewesen, wobei der Schrecken darin liegt, dass das Ende selbst kein Ende nimmt. Nur: Manche Sinnsprüche prägen sich ein, melden sich auf nähere Betrachtung und Prüfung wieder und wieder. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Unser junger, alter Mann Arndt war als größeres Kind mit dem seltsamen Eindruck aufgewachsen, ein wenig verloren zu sein und etwas verloren zu haben – weniger als Individuum als Vertreter einer ganzen verlorenen Generation, die ihren Glauben an die Zukunft derer sie so behaglich lebte, nicht mehr besaß.

    Es war doch zu seltsam: Man glaubte kaum mehr an etwas, wovon man doch überzeugt war. Denn eben das was sich als dessen Repräsentanz verlautbarte, konnte immer noch weniger glaubhaft sein und weniger und noch weniger, wurde kurzatmig und

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