Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder: Roman
BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder: Roman
BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder: Roman
eBook844 Seiten12 Stunden

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es ist 1964 in dem kleinen idyllischen Städtchen Zephyr, wo die Bewohner entweder in der Papierfabrik am Tecumseh River oder in dem örtlichen Milch­betrieb arbeiten. Es ist ein einfaches Leben, aber doch voller Wunder für den zwölfjährigen Cory Mackenson.
Eines Morgens werden er und sein Vater Zeuge, wie ein Auto vor ihnen von der Straße abkommt und in einem See versinkt. Am Steuer aber befand sich ein nackter, geschundener Körper, mit Handschellen an das Lenkrad gefesselt. Mit der Zeit vergessen oder verdrängen die Bewohner des Ortes den seltsamen Vorfall, doch Cory und sein Vater wollen dem Geheimnis auf die Spur kommen. Ihre Suche führt sie in eine Welt, wo Unschuld und Bosheit aufeinanderprallen und Magie und Fantasie mit der Realität zu verschmelzen scheinen …
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum18. Apr. 2024
ISBN9783958354876
BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder: Roman

Ähnlich wie BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder

Ähnliche E-Books

Coming of Age-Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder - Robert McCammon

    EINS

    Die Farben des Frühlings

    Vor Sonnenaufgang

    »Cory? Wach auf, mein Sohn. Zeit, aufzustehen.«

    Ich ließ mich von ihm aus der dunklen Höhle des Schlafes hochziehen. Ich schlug die Augen auf und sah zu ihm hoch. Er war schon angezogen, trug seine dunkelbraune Uniform mit seinem weiß auf die Brusttasche gestickten Namen, Tom. Ich roch Eier und Speck, und in der Küche spielte leise das Radio. Eine Pfanne klapperte und Glas klirrte; Mom war ganz in ihrem Element, so unbeirrt, wie eine Forelle in der Strömung steht. »Zeit zum Aufstehen«, sagte mein Vater, knipste die Lampe neben meinem Bett an und ließ mich mit den letzten Bildern eines verblassenden Traums im Kopf blinzelnd allein.

    Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es war Mitte März und durch die Bäume vor meinem Fenster blies ein kalter Wind. Als ich meine Hand an die Scheibe legte, konnte ich den Wind fühlen. Mom, die wusste, dass ich wach war, als mein Vater zu seiner Tasse Kaffee in die Küche kam, drehte das Radio etwas lauter, um die Wettervorhersage zu hören. Vor zwei Tagen war Frühlingsanfang gewesen, aber in diesem Jahr besaß der Winter scharfe Krallen und Zähne und er hielt die Südstaaten in seinen Klauen wie eine weiße Katze. Schnee hatten wir nicht gehabt – wir hatten nie Schnee –, aber der Wind war kalt und blies aus den Lungen des Nordpols.

    »Einen warmen Pullover!«, rief Mom. »Hörst du?«

    »Ich höre!«, antwortete ich und holte meinen dicken grünen Pulli aus meiner Kommode. Das hier ist mein Zimmer, in gelbes Lampenlicht getaucht, während der Raumheizkörper brummt: Ein Indianerteppich so rot wie Cochises Blut, ein Schreibtisch mit sieben geheimen Schubladen, ein Stuhl, der mit einem samtig blauschwarzen Material wie Batmans Umhang bezogen ist, ein Aquarium mit winzigen Fischen, die so durchsichtig sind, dass man ihre Herzen schlagen sieht. Die bereits erwähnte Kommode ist voller Aufkleber aus Revell-Modellflugzeugbausätzen, es gibt ein Bett, dessen Steppdecke eine Verwandte von Jefferson Davis genäht hatte, einen Schrank und die Regale. Ach ja, die Regale. Schatzkisten von Regalen. Auf den Brettern stehen Stapel von mir; hunderte von Comic-Heften – Justice League, Flash, Green Lantern, Batman, The Spirit, Blackhawk, Sgt. Rock and Easy Company, Aquaman und Die Fantastischen Vier. Da sind Boy’s-Life-Zeitschriften, dutzendweise Berühmte Monster der Filmgeschichte, Screen Thrills und Popular Mechanics. Es gibt eine gelbe Wand aus National Geographics, und ich werde rot und gestehe, dass ich weiß, in welchen jedes Bild von Afrika ist.

    Die Regale erstrecken sich meilenweit. Meine Murmelkollektion im Einmachglas. Meine getrocknete Zikade wartete darauf, nächsten Sommer wieder zu singen. Mein Duncan-Jo-Jo, das pfeift; bloß ist die Schnur gerissen und Dad muss es reparieren. Mein kleines Album mit Stoffmustern für Anzüge, das mir Mr. Parlowe vom Stagg Shop for Men geschenkt hat. Die Stoffstücke verwende ich in meinen Flugzeugmodellen neben den Sitzen, die ich aus Pappe ausschneide, als Teppich. Meine Silberkugel, vom Lone Ranger für einen Werwolfjäger gegossen. Mein Knopf aus dem Sezessionskrieg, der von der Uniform eines Südstaatlers abriss, als Shiloh gestürmt wurde. Mein Gummimesser, mit dem ich in der Badewanne Killerkrokodilen nachspüre. Meine kanadischen Münzen, glatt und eben wie die nördlichen Prärien. Ich bin unermesslich reich.

    »Frühstück ist fertig!«, rief Mom. Ich zog den Reißverschluss meines Pullis zu, der von der gleichen Farbe wie Sgt. Rocks zerrissenes Hemd war. Meine Bluejeans hatten Flicken an den Knien wie Ehrenabzeichen für Auseinandersetzungen mit Stacheldraht und Kies. Mein hochrotes Flanellhemd hätte einem Stier Einhalt geboten. Meine Socken waren weiß wie Taubenflügel und meine Keds schwarz wie Mitternacht. Meine Mutter war farbenblind und mein Vater fand, dass kariert und kariert gut zueinander passte. Es war okay.

    Es ist lustig, wenn man manchmal die Menschen betrachtet, die einen auf die Welt gebracht haben, und sich so eindeutig in ihnen wiederfindet. Man erkennt, dass die Natur bei jedem Menschen auf der Welt einen Kompromiss eingegangen ist. Ich war schmal wie meine Mutter gebaut und hatte ihre welligen, dunkelbraunen Haare, aber mein Vater hatte mir seine blauen Augen und seine scharf gemeißelte Nase vererbt. Ich hatte die langfingrigen Hände meiner Mom – Künstlerhände, sagte sie immer, wenn ich mich beklagte, dass meine Finger so lang und dünn waren – und die buschigen Augenbrauen und das kleine Grübchen im Kinn meines Dads. In manchen Nächten wünschte ich mir, einzuschlafen und als ein Mann wie Stuart Whitman aus Cimarron Strip oder Clint Walker aus Cheyenne wieder aufzuwachen, aber Tatsache war nun mal, dass ich ein dünner, unbeholfener Junge durchschnittlicher Größe und durchschnittlichen Aussehens war. Wenn ich die Augen zumachte und den Atem anhielt, konnte ich mit der Tapete verschmelzen. In meiner Fantasie dagegen war ich mit den Cowboys und Detektiven, die jeden Abend über unseren Fernsehschirm flimmerten, hinter Gesetzesbrechern her. Und draußen im Wald, der bis an unser Haus heranreichte, half ich Tarzan, die Löwen zu rufen und erschoss Nazis in einem einsamen Krieg. Ich hatte eine kleine Gruppe Freunde, Jungs wie Johnny Wilson, Davy Ray Callan und Ben Sears, aber ich war nicht das, was man beliebt nennen würde. Manchmal wurde ich nervös, wenn ich mit anderen sprach, und meine Zunge kam ins Stolpern. Daher blieb ich lieber still. Meine Freunde und ich waren ungefähr gleichgroß, gleichen Alters und Temperaments; wir gingen allem aus dem Weg, gegen das wir nicht ankämpfen konnten, und wir waren allesamt erbärmliche Kämpfer.

    Ich glaube, das ist, wo das Schreiben seinen Ursprung hatte. Das Zurechtschreiben könnte man auch sagen. Das Zurechtschreiben der äußeren Umstände, das Umformen der Welt in das, was sie hätte sein sollen, wenn Gott nicht schielen würde und keine Hasenzähne hätte. In der echten Welt besaß ich keine Macht; in meiner eigenen Welt war ich Herkules ohne Ketten.

    Ich weiß, dass ich etwas von meinem Granddaddy Jaybird, dem Vater meines Dads, geerbt habe: seine Neugierde über die Welt. Er war sechsundsiebzig und so zäh wie Beef Jerky, und er fluchte ständig und hatte ein noch verfluchteres Temperament, aber er war ständig im Wald um seine Farm herum unterwegs. Er brachte Dinge nach Hause, bei denen Grandmomma Sarah ohnmächtig wurde: Schlangenhäute, leere Wespennester, selbst tote Tiere, die er fand. Er schnitt so etwas gern mit seinem Taschenmesser auf und sah sich an, wie es von innen aussah, breitete die blutigen Innereien auf Zeitungspapier aus. Einmal hängte er eine tote Kröte an einen Baum und lud mich ein, mit ihm dabei zuzusehen, wie die Fliegen die Kröte fraßen. Er brachte einen Jutesack voller Laub ins Haus, leerte ihn im Wohnzimmer aus und untersuchte jedes einzelne der Blätter mit einer Lupe, wobei er die Unterschiede in eines seiner Hunderter Notizbücher schrieb. Er sammelte Zigarrenstummel und trocknete ausgespuckten Kautabak, den er in Glasfläschchen aufbewahrte. Er konnte stundenlang im Dunkeln sitzen und den Mond betrachten.

    Vielleicht war er verrückt. Vielleicht nennt man all diejenigen verrückt, in denen noch Magie steckt, wenn sie längst kein Kind mehr sind. Aber Granddaddy Jaybird las mir die Sonntagscomics aus der Zeitung vor und erzählte mir Geschichten über das Haus in seinem Heimatdorf, in dem es spukte. Granddaddy Jaybird konnte gemein und dumm und engstirnig sein, aber in mir hat er ein Licht des Staunens entflammt, und mit diesem Licht konnte ich weit über Zephyr hinausschauen.

    An jenem Morgen vor Sonnenaufgang, als ich mit meinem Dad und meiner Mom am Frühstückstisch in unserem Haus in der Hilltop Street saß, schrieben wir das Jahr 1964. Große Veränderungen lagen im Wind, der um die Erde wehte, Dinge, derer ich mir nicht bewusst war. In jenem Moment wusste ich nur, dass ich noch ein Glas Orangensaft wollte und dass ich meinem Vater auf seiner Route helfen würde, bevor er mich zur Schule brachte. Nachdem wir gefrühstückt hatten und der Tisch abgeräumt war, ging ich nach draußen in die Kälte, wünschte unserem Hund Rebel einen guten Morgen und gab ihm sein Gravy Train zu fressen. Mom gab Dad und mir einen Kuss, ich zog mir meine gefütterte Jacke an, holte meine Schulbücher, und wir fuhren in dem alten stotternden Pick-up los. Rebel, aus seinem Zwinger hinten im Garten befreit, folgte uns eine Weile, bis er an der Kreuzung von Hilltop und Shawson Street das Herrschaftsgebiet von Bodog betrat, dem Dobermann der Ramseys. Auf den Trommelwirbel aus Gebell hin trat er seinen strategischen Rückzug an.

    Und nun lag Zephyr vor uns, die noch still träumende Stadt, der Mond eine weiße Sichel am Himmel.

    Hier und da brannte Licht. Aber nur in wenigen Häusern. Es war noch nicht fünf Uhr. Die Mondsichel glitzerte in der langsamen Biegung des Tecumseh River, und falls Old Moses dort schwamm, dann küsste sein ledriger Bauch den Schlamm beim Schwimmen. Die Bäume entlang Zephyrs Straßen hatten noch keine Blätter und ihre Äste bewegten sich im Wind. Die Ampeln – alle vier an den sogenannten Hauptkreuzungen – blinkten gelb in regelmäßigem Takt. Im Osten überspannte eine Steinbrücke mit schaurigen Steinfiguren die breite Mulde, durch die der Fluss rann. Manche Leute sagten, dass die Gesichter der in den 1920er Jahren gemeißelten Figuren verschiedene Generäle der Südstaatenarmee darstellten – gefallene Engel, sozusagen. Gen Westen wand sich der Highway durch die bewaldeten Hügel auf andere Städte zu. Eisenbahngleise durchschnitten Zephyr im Norden, mitten im Bruton-Viertel, wo die Schwarzen lebten. Im Süden war der Stadtpark, in dem eine Orchesterbühne stand und wo ein paar Baseballplätze in den Boden geschnitten worden waren. Der Park war nach Clifford Gray Haines benannt, Zephyrs Gründer, und es gab eine Statue von ihm, wie er mit dem Kinn in die Hand gestützt auf einem Felsbrocken saß. Mein Vater fand, dass es aussah, als hätte Clifford ständig unter Verstopfung gelitten und weder sein Geschäft erledigen noch vom Klo aufstehen konnte. Weiter südlich verließ die Route Ten Zephyrs Stadtgrenze und schlängelte sich wie eine schwarze Schlange an sumpfigen Wäldern, einem Mobilheimpark und Saxon’s Lake vorbei, der in unbekannte Tiefen abfiel.

    Dad bog auf die Merchants Street ab und wir fuhren durch Zephyrs Stadtzentrum, wo die Geschäfte waren. Entlang der Straße, die hier Gehwege hatte, gab es den Dollar’s Barbershop, den Stagg Shop for Men, Zephyrs Futtermittel- und Baumarkt, den Piggly-Wiggly Lebensmittelladen, Woolworths, das Lyric-Kino und andere Attraktionen. Viel zu sehen gab es allerdings nicht; wenn man ein paarmal blinzelte, war man schon an allem vorbei. Dann lenkte Dad uns über die Schienen, danach noch zwei Meilen weiter und durch ein Tor, über dem stand: GREEN MEADOWS DAIRY. Die Milchwagen standen am Verladungsdock und wurden beladen. Hier war viel los, denn Green Meadows Dairy machte früh auf und die Milchmänner hatten ihre vorbestimmten Strecken zu fahren.

    Manchmal, wenn mein Vater besonders viel zu tun hatte, bat er mich, ihm beim Ausliefern zu helfen. Mir gefielen die Stille und Ruhe dieser Morgen. Ich mochte die Welt vor der Sonne. Mir gefiel es herauszufinden, welche Leute von der Molkerei Milch bestellten. Warum, weiß ich nicht; vielleicht war es Granddaddy Jaybirds Neugierde in mir.

    Mein Dad ging die Liste mit dem Vorarbeiter durch, einem großen Mann mit kurzrasierten Haaren namens Mr. Bowers, und dann fingen Dad und ich an, unseren Pick-up zu beladen. Hier kamen die Milchflaschen, die Kartons mit frischen Eiern, Becher mit Hüttenkäse und Green Meadows‘ besonderen Kartoffel- und Bohnensalaten.

    Alles war noch kalt vom Kühlraum und unter den Scheinwerfern des Verladungsdocks glitzerte Frost an den Milchflaschen. Die Papierdeckel waren mit dem Gesicht eines lächelnden Milchmanns und den Worten Gut für dich! bedruckt. Während wir arbeiteten, kam Mr. Bowers zu uns herüber und sah uns mit dem Klemmbrett in der Hand und dem Stift hinterm Ohr zu. »Na, was denkst du, Cory? Willst du auch ein Milchmann werden?«, fragte er mich, und ich antwortete: »Vielleicht.«

    »Milchmänner wird die Welt immer brauchen«, fuhr Mr. Bowers fort. »Stimmt’s, Tom?«

    »Aber sicher doch«, sagte mein Dad; eine Floskel, die er benutzte, wenn er nur halb hinhörte.

    »Bewirb dich, wenn du achtzehn bist«, sagte Mr. Bowers zu mir. »Wir finden etwas für dich zu tun.« Er schlug mir auf die Schulter, dass mir fast die Zähne klapperten. Doch das Klappern übernahmen die Flaschen, die ich auf einem Tablett trug.

    Dann stieg Dad hinter das große Lenkrad, ich setzte mich neben ihn, er drehte den Schlüssel in der Zündung, der Motor sprang an und wir fuhren mit unserer milchig-sahnigen Ladung vom Verladungsdock weg. Vor uns versank der Mond. Am Rand der Nacht funkelten die letzten Sterne.

    »Was hältst du davon?«, fragte Dad. »Milchmann zu werden, meine ich. Interessiert dich das?«

    »Es würde Spaß machen«, sagte ich.

    »Nicht wirklich. Na ja, es ist okay, aber kein Beruf macht einem jeden Tag Spaß. Ich glaube, wir haben noch nie darüber gesprochen, was du mal werden willst, oder?«

    »Nein, Sir.«

    »Also, ich finde, du solltest nicht Milchmann werden, nur weil ich einer bin. Ich hatte übrigens nicht vor, Milchmann zu werden. Granddaddy Jaybird wollte, dass ich ein Farmer werde, wie er. Grandmomma Sarah wollte, dass ich Arzt werde. Kannst du dir das vorstellen?« Er warf mir einen Blick zu und grinste. »Ich, ein Arzt! Doktor Tom! Nein, danke. Das war nichts für mich.«

    »Was wolltest du denn zuerst werden?«, fragte ich.

    Mein Dad schwieg für einen Augenblick. Er schien über die Frage nachzugrübeln. Mir kam der Gedanke, dass ihn das vielleicht noch nie jemand gefragt hatte. Er umklammerte das Lenkrad mit seinen Männerhänden und steuerte die Straße hinunter, die sich vor unseren Scheinwerfern abspulte, und sagte dann: »Ich wollte der erste Mensch auf der Venus sein. Oder ein Rodeoreiter. Oder ein Mann, der ein leeres Grundstück begutachtet und in Gedanken das Haus sehen kann, das er da bauen will, bis hin zum letzten Nagel und zur letzten Dachschindel. Oder ein Detektiv.« Mein Dad machte ein leises Lachgeräusch in seiner Kehle. »Aber die Molkerei brauchte noch einen Milchmann, und da bin ich nun.«

    »Ich hätte nichts dagegen, Rennfahrer zu werden«, sagte ich. Mein Dad nahm mich manchmal zu den Stockcarrennen auf der Rennbahn bei Barnesboro mit, wo wir Hot Dogs aßen und zuschauten, wie beim Zusammenkrachen von verbogenem Metall die Funken flogen. »Oder ein Detektiv zu sein wäre auch okay. Dann könnte ich Rätsel und so was lösen, wie die Hardy Boys.«

    »Ja, das wäre gut«, stimmte mein Vater zu. »Allerdings weiß man nie, was es am Ende wird, und das ist die Wahrheit. Man zielt so genau wie ein Pfeil auf etwas ab, aber bevor man das Ziel erreicht, erwischt dich der Wind. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der das geworden ist, was er in deinem Alter werden wollte.«

    »Ich würde gern jeder Mensch auf dieser Welt sein«, sagte ich. »Ich möchte eine Million Mal leben.«

    »Na« – und hier nickte mein Vater auf seine weise Art – »das wäre ein toller Zaubertrick, was?« Er zeigte nach vorn. »Hier ist unser erster Halt.«

    In diesem ersten Haushalt musste es Kinder geben, denn sie bekamen neben ihren zwei Litern normaler Milch auch zwei Liter Schokomilch. Dann fuhren wir wieder los, durch Straßen, in denen der Wind und das Bellen früh erwachter Hunde die einzigen Geräusche waren. Wir hielten in der Shantuck Street an, um jemandem, der wohl alles gern sauer mochte, Buttermilch und Hüttenkäse zu bringen. Wir stellten glänzende Flaschen auf die meisten Treppenstufen der Häuser in der Bevard Lane, und mein Dad arbeitete schnell, während ich die Bestellungen von der Liste strich und die nächsten auf der kalten Ladefläche des Pick-ups heraussuchte. Wir waren ein gutes Team.

    Dad sagte, dass er ein paar Kunden weiter südlich in der Nähe von Saxon’s Lake hatte. Danach würden wir wieder in den Ort fahren, damit wir die restlichen Lieferungen zustellen konnten, bevor meine Schulglocke schellte. Er fuhr uns am Park vorbei aus Zephyr hinaus und an beiden Seiten der Straße schloss sich der Wald.

    Es war fast sechs Uhr. Im Osten, über den Hügeln mit ihren Kiefern und Kudzu, wurde der Himmel langsam heller. Der Wind schob sich durch die Bäume wie die Faust eines Riesen. Uns kam ein Auto in Richtung Norden entgegen und der Fahrer grüßte per Lichthupe. Dad winkte. »Marty Barklee fährt die Zeitung aus«, sagte er zu mir. Ich dachte über die Tatsache nach, dass eine ganze Welt vor dem Sonnenaufgang ihren Geschäften nachging, und dass Menschen, die jetzt erst aufwachten, nicht mit dazugehörten. Wir bogen von der Route Ten ab und fuhren einen Schotterweg hoch, um bei einem kleinen an den Wald geschmiegten Haus Milch, Buttermilch und Kartoffelsalat abzuliefern. Dann fuhren wir weiter in Richtung Süden auf den See zu. »College«, sagte mein Dad. »Ich denke, du solltest aufs College gehen.«

    »Wahrscheinlich«, gab ich zurück, aber es klang Lichtjahre von meinem jetzigen Leben entfernt. Alles, was ich über Colleges wusste, war etwas über College-Football, und dass manche Leute Bear Bryant gut fanden und andere Fans von Shug Jordan waren. Mir schien, dass man sich sein College danach aussuchte, welchen Trainer man besser fand.

    »Um ins College zu kommen, muss man gute Noten haben«, sagte Dad. »Du musst deine Hausaufgaben machen.«

    »Müssen Detektive aufs College gehen?«

    »Schätze ich mal, wenn sie ihren Job professionell angehen wollen. Wenn ich aufs College gegangen wäre, hätte ich vielleicht ein Mann werden können, der auf einem unbebauten Grundstück ein Haus baut. Man weiß nie, was die Zukunft für einen bereithält, das kannst du mir –«

    … glauben, hatte er sagen wollen, aber dazu kam er nicht, weil wir aus einer bewaldeten Kurve kamen und ein braunes Auto direkt vor uns zwischen den Bäumen herausgeschossen kam. Dad schrie auf, als hätte ihn eine Hornisse gestochen, und trat auf die Bremse.

    Als Dad das Lenkrad nach links riss, raste das braune Auto an uns vorbei. Ich sah es von der Route Ten abkommen und rechts von mir die Böschung runterfahren. Die Scheinwerfer waren nicht an, aber es saß jemand am Steuerrad. Die Autoreifen rissen Schneisen durchs Unterholz und dann krachte es über einen kleinen roten Felsvorsprung in die Dunkelheit. Wasser spritzte hoch und mir wurde klar, dass das Auto soeben in den Saxon’s Lake gestürzt waren.

    »Er ist ins Wasser gefallen!«, schrie ich, und Dad hielt den Milchtruck an, zog die Handbremse fest und sprang in das Unkraut am Straßenrand. Während ich noch ausstieg, rannte Dad schon zum Seeufer. Der Wind peitschte und wirbelte um uns herum und Dad kam auf dem roten Felsvorsprung zum Stehen. Im schwachen rosafarbenen Dämmerungslicht konnten wir das Auto im Wasser schlingern sehen. Um den Kofferraum herum stiegen riesige Luftblasen auf.

    »He!«, schrie Dad, der seine Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt hatte. »Klettern Sie raus!« Jedermann wusste, dass Saxon’s Lake so tief wie die Sünde war, und wenn das Auto in die tintenschwarze Tiefe sank, würde es für immer und ewig verloren sein. »He, kommen Sie raus!«, brüllte Dad wieder, aber wer auch immer am Steuer saß, gab keine Antwort. »Ich glaube, der muss bewusstlos geworden sein!«, sagte Dad zu mir, während er sich die Schuhe auszog. Das Auto begann sich auf die Beifahrerseite zu drehen und ein schreckliches heulendes Geräusch drang zu uns hoch, das von dem ins Auto strömenden Wasser kommen musste. »Geh einen Schritt zurück«, sagte Dad. Das tat ich, und er sprang in den See.

    Er war ein guter Schwimmer. Mit ein paar kräftigen Zügen hatte er das Auto erreicht und sah, dass das Fahrerfenster offen war. Er spürte das Wasser an seinen Beinen saugen, während es das Fahrzeug in die unergründliche Tiefe zog. »Kommen Sie raus!«, brüllte er, aber der Fahrer saß einfach nur da. Dad klammerte sich an die Tür, griff ins Auto und packte den Fahrer an der Schulter. Es war ein Mann und er trug kein Hemd. Die Haut war weiß und kalt, und mein Dad spürte, wie ihm selbst eine Gänsehaut über den Rücken lief. Der Kopf des Mannes rollte nach hinten. Sein Mund stand offen. Er hatte kurzgeschnittenes blondes Haar. Seine Augen waren von schwarzen Prellungen zugeschwollen, sein Gesicht von gnadenlosen Schlägen verquollen und verunstaltet. Ein Kupferdraht war um seine Kehle geknotet, das dünne Metall so strammgezogen, dass Haut und Fleisch aufgeschlitzt waren.

    »Oh Gott«, flüsterte mein Vater und trat Wasser.

    Das Auto schlingerte und zischte. Der Kopf fiel wieder nach vorn auf die Brust wie bei jemandem, der betete. Das Wasser stieg dem Fahrer über die unbekleideten Knie. Mein Dad registrierte, dass der Fahrer splitternackt war, ohne jegliche Kleidung. Am Lenkrad glänzte etwas: Er sah, dass das rechte Handgelenk des Mannes an das Steuerrad gefesselt war.

    Mein Vater war vierunddreißig Jahre alt. Er hatte schon tote Menschen gesehen. Hodge Klemson, einer seiner besten Freunde, war im Tecumseh River ertrunken, als sie beide fünfzehn Jahre alt gewesen waren. Die Leiche war drei Tage später gefunden worden, aufgedunsen und wie eine verkrustete uralte Mumie mit gelbem Flussschlamm bedeckt. Er hatte die Überreste von Walter und Jeanine Traynor gesehen, als Walters Buick vor sechs Jahren frontal mit einem Holztransporter zusammengestoßen war, dessen junger Fahrer von Aufputschmitteln high gewesen war. Er hatte den dunklen glänzenden Klumpen gesehen, der von Little Stevie Cauley übriggeblieben war, nachdem die Feuerwehrmänner den zerstörten schwarzen Dragster namens Midnight Mona gelöscht hatten.

    Er hatte die grinsende Totenmaske mehrmals gesehen und den Anblick wie ein Mann ertragen, aber das hier war anders.

    Diese Maske war die eines Mordes.

    Das Auto ging unter. Als der Kühler versank, brachen die Heckflügel aus dem Wasser. Die Leiche hinter dem Lenkrad bewegte sich wieder und mein Vater sah etwas auf der Schulter des Mannes. Einen blauen Fleck auf der weißen Haut. Keine Prellung, nein. Eine Tätowierung. Es war ein Totenkopf, von dessen knochigen Schläfen Flügel nach hinten zeigten.

    Ein großer Strom Luftblasen brach aus dem Fahrzeug hervor, als mehr Wasser eindrang. Der See ließ sich nicht zurückweisen; er würde sich sein Spielzeug nehmen und es in eine geheime Schublade stecken. Als das Auto in der Finsternis zu versinken begann, packte das strudelnde Wasser meinen Vater an den Beinen und zog ihn unter die Oberfläche. Von meinem Standort auf der roten Felsenkante sah ich seinen Kopf verschwinden. »Dad!«, schrie ich. Panik krallte sich in meinen Bauch.

    Unter Wasser kämpfte er gegen die Muskeln des Sees an. Das Auto fiel unter ihm in die Tiefe und als seine Beine in der flüssigen Gruft nach einem Halt kickten, trieben neue Luftblasen nach oben und setzten ihn frei. Er stieg die silberne Treppe aus Luftblasen hoch.

    Ich sah seinen Kopf aus dem Wasser brechen. »Dad!«, schrie ich wieder. »Komm zurück, Dad!«

    »Alles in Ordnung mit mir!«, rief er zurück, aber seine Stimme zitterte. »Ich komme raus!«

    Er begann wie ein Hund ans Ufer zu paddeln, sein Körper plötzlich schwach wie ein ausgewrungener Lappen. Der See brach immer wieder vulkanartig aus, als das Auto sich wie etwas Verdorbenes, das verdaut werden musste, durch seine Eingeweide arbeitete. Dad konnte den roten Felsvorsprung nicht hochklettern und schwamm deshalb an eine Stelle, an der er über Kudzuranken und Steine an Land kam. »Alles in Ordnung mit mir«, sagte er wieder, als er aus dem Wasser stieg und seine Beine bis zu den Knien in Schlamm einsanken. Eine Schildkröte, groß wie ein Suppenteller, kroch vor ihm davon und versank mit einem verdutzten Schnaufen im See. Ich warf einen Blick auf den Milchtruck zurück; warum, weiß ich nicht, aber ich blickte nach hinten. Und auf der anderen Straßenseite sah ich im Wald eine Gestalt stehen.

    Einfach nur in einen langen dunklen Mantel gekleidet dort stehen. Die Falten des Stoffs bewegten sich im Wind. Vielleicht hatte ich die Augen dieser Gestalt auf mir gespürt, die mich beobachtet hatten, während ich meinen Vater beobachtete, als er zu dem Auto schwamm. Ich zitterte etwas; mir war eiskalt. Und dann blinzelte ich ein paarmal, und dort, wo die Gestalt gestanden hatte, war nur noch windgepeitschter Wald.

    »Cory?«, rief mein Dad. »Zieh mich raus, Sohn!«

    Ich ging runter ans schlammige Ufer und half ihm, so gut ein unterkühltes, verängstigtes Kind es konnte. Dann fanden seine Füße feste Erde und er strich sich die nassen Haare von der Stirn. »Wir müssen ein Telefon finden«, sagte er drängend. »Da war ein Mann in dem Auto. Ist runter auf den Grund gesunken!«

    »Ich hab gesehen, wie … ich hab …« Ich zeigte auf den Wald auf der anderen Seite der Route Ten. »Jemand hat …«

    »Komm, jetzt aber los!« Mein Vater überquerte die Straße bereits auf seinen kräftigen, nassen Beinen, seine Schuhe in der Hand. Ich setzte mich in Bewegung und folgte ihm so dicht wie ein Schatten. Mein Blick richtete sich wieder auf die Stelle, an der ich die Gestalt gesehen hatte, aber es war niemand da. Niemand. Nichts.

    Dad startete den Motor des Milchtrucks und stellte die Heizung an. Seine Zähne klapperten und im grauen Dämmerungslicht sah sein Gesicht blass wie Kerzenwachs aus. »Eine verdammte Sache«, sagte er, und das schockierte mich, da er nie in meiner Gegenwart fluchte. »Ans Lenkrad gekettet war er. Mit Handschellen. Mein Gott, was war das Gesicht von dem Mann zerschlagen!«

    »Wer war das?«

    »Weiß ich nicht.« Er drehte die Heizung stärker auf und steuerte dann in Richtung Süden auf das nächstgelegene Haus zu. »Den hat jemand durch die Mangel genommen, das kannst du mir glauben! Mann, ist mir kalt!«

    Rechts zweigte ein Schotterweg ab. Mein Vater folgte ihm. Fünfzig Meter von der Route Ten entfernt stand ein kleines weißes Haus, dessen Veranda mit Fliegengitter eingefasst war. An einer Seite war ein Rosengarten. Unter einer grünen Plastikmarkise standen zwei Autos, ein roter Mustang und ein alter Cadillac, der mit Rostflecken gesprenkelt war. Mein Dad hielt vor dem Haus und sagte: »Du wartest hier.« In seinen nassen Socken ging er auf die Haustür zu und klingelte. Er musste noch zweimal klingeln, bevor die Tür unter dem Klimpern eines Windspiels geöffnet wurde. Eine rothaarige Frau, in die meine Mutter dreimal hineingepasst hätte, stand in einem blauen Nachthemd mit schwarzem Blumenmuster vor ihm.

    »Miss Grace, ich muss dringend Ihr Telefon benutzen«, sagte Dad.

    »Sie sind ja ganz nass!« Miss Graces Stimme hörte sich wie das Kratzen einer rostigen Säge an. Sie umklammerte eine Zigarette und Ringe glitzerten an ihren Fingern.

    »Es ist was Schlimmes passiert«, erklärte Dad ihr, und sie seufzte wie eine rotköpfige Regenwolke und sagte: »Na, dann kommen Sie rein. Passen Sie auf den Teppich auf.« Dad betrat das Haus, die bimmelnde Tür schloss sich und ich saß im Milchtruck, während über die Hügel im Osten die ersten orangefarbenen Sonnenstrahlen brachen. Ich konnte den See bei mir im Pick-up riechen – unter dem Sitz meines Vaters stand eine Pfütze. Ich hatte jemanden im Wald stehen sehen. Ich war mir sicher, dass ich wen gesehen hatte. Oder nicht? Warum war er nicht rübergekommen, um nach dem Mann im Auto zu schauen? Und wer war der Mann im Auto gewesen?

    Ich dachte über diese Fragen nach, als die Tür sich wieder öffnete und Miss Grace herauskam, die nun einen großen weißen Pullover über ihr Nachthemd gezogen hatte. Sie trug Turnschuhe, ihre Fußgelenke und Waden stämmig wie kleine Bäume. In einer Hand hielt sie eine Schachtel mit Lorna-Doone-Keksen, in der anderen die brennende Zigarette. Sie kam an den Milchtruck und lächelte mich an. »Na du«, sagte sie. »Du bist Cory.«

    »Ja, Ma’am«, antwortete ich.

    Miss Grace hatte kein breites Lächeln. Ihre Lippen waren dünn, ihre Nase dick und platt, und ihre Augenbrauen bestanden aus schwarzgestrichelten Linien über tiefliegenden blauen Augen. Sie hielt mir die Lorna Doones hin. »Willst du ’n Keks?«

    Ich hatte keinen Hunger, aber meine Eltern hatten mich dazu erzogen, niemals ein Geschenk zurückzuweisen. Ich nahm mir einen.

    »Nimm zwei«, bot Miss Grace mir an und ich nahm mir einen zweiten Keks. Sie aß selbst einen und sog dann an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus ihren Nasenlöchern. »Dein Daddy ist unser Milchmann«, sagte sie. »Ich glaube, du hast uns auf der Liste. Sechs Liter Milch, zwei Buttermilch, zwei Schokomilch und drei halbe Liter Sahne.«

    Ich sah auf der Liste nach. Ihr Name – Grace Stafford – und ihre Bestellung standen darauf, genau wie sie aufgezählt hatte. Ich sagte ihr, dass ich ihr alles geben würde, und begann die Bestellung zusammenzusuchen.

    »Wie alt bist du?«, fragte Miss Grace, während ich arbeitete. »Zwölf?«

    »Nein, Ma’am. Erst im Juli.«

    »Ich habe auch einen Sohn.« Miss Grace tippte die Asche von ihrer Zigarette. Sie kaute an einem neuen Keks. »Der ist im Dezember zwanzig geworden. Er lebt in San Antonio. Weißt du, wo das ist?«

    »Ja, Ma’am. In Texas. Wo Alamo ist.«

    »Genau. Zwanzig ist er geworden, was heißt, dass ich achtunddreißig bin. Ich bin ein altes Fossil, was?«

    Das war eine Trickfrage, dachte ich. »Nein, Ma’am«, entschied ich mich zu sagen.

    »Na, du bist ja ein kleiner Diplomat, was?« Sie lächelte wieder und diesmal war das Lächeln auch in ihren Augen. »Iss noch einen Keks.« Sie ließ mir die Schachtel da und ging zur Tür, wo sie ins Haus hineinbrüllte: »Lainie! Lainie, beweg deinen Hintern aus dem Bett und komm raus!«

    Mein Dad kam zuerst raus. Im harten Morgenlicht sah er alt aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Ich hab den Sheriff angerufen«, sagte er zu mir, als er sich auf seinen nassen Sitz setzte und seine Füße in die Schuhe quetschte. »Jemand wird sich mit uns an der Stelle treffen, an der das Auto versunken ist.«

    »Wer zum Teufel war es denn?«, fragte Miss Grace.

    »Das konnte ich nicht sehen. Sein Gesicht war …« Er warf einen schnellen Blick auf mich und sah dann wieder zu der Frau hin. »Jemand hat ihn ziemlich übel zusammengeschlagen.«

    »Muss betrunken gewesen sein. Vermutlich ein Schwarzbrenner.«

    »Das glaube ich nicht.« Dad hatte am Telefon nichts davon erwähnt, dass der Fahrer des Autos nackt, mit Kupferdraht erdrosselt und ans Lenkrad gekettet gewesen war. Das waren Informationen für den Sheriff und nicht für Miss Graces Ohren oder die anderer Leute bestimmt. »Haben Sie mal einen Mann mit einer Tätowierung auf der linken Schulter gesehen? Etwas, das wie ein Totenkopf aussieht, dem Flügel wachsen?«

    »Ich hab mehr Tätowierungen als die Navy gesehen«, meinte Miss Grace. »Aber an so was kann ich mich hier nicht erinnern. Wieso? Hatte der Typ kein Hemd an, oder was?«

    »Nein, hatte er nicht. Dieser Totenkopf mit den Flügeln war ungefähr hier.« Er berührte seine linke Schulter. Dad erschauderte und rieb sich die Hände. »Das Auto holen die da niemals wieder raus. Nie. Saxon’s Lake ist mindestens neunzig Meter tief.«

    Das Windspiel klimperte. Ich hatte das Tablett mit der Milch in den Händen und sah zur Tür.

    Ein Mädchen mit schlafverquollenen Augen stolperte heraus. Sie trug einen langen karierten Bademantel und war barfuß. Ihre Haare waren von der gleichen Farbe wie Mais und hingen ihr bis über die Schultern. Als sie auf den Milchtruck zukam, blinzelte sie ins Morgenlicht und sagte: »Fuck, bin ich müde.«

    Ich glaube, ich muss fast umgekippt sein, denn noch nie in meinem Leben hatte ich ein weibliches Wesen dieses schmutzige Wort benutzen hören. Ich wusste, was das Wort bedeutete, aber es so ganz nebenbei aus einem hübschen Mund zu hören, versetzte mich in Schockstarre.

    »Wir haben einen jungen Mann unter uns, Lainie«, sagte Miss Grace mit einer Stimme, die einen Eisennagel hätte biegen können. »Bitte achte darauf, was du sagst.«

    Lainie sah mich an und ihr frostiger Blick erinnerte mich an den Tag, an dem ich eine Gabel in eine Steckdose gesteckt hatte. Lainies Augen waren schokoladenbraun und auf ihren Lippen schien ein Lächeln zu liegen, das etwas hämisch wirkte. Irgendwie machte ihr Gesicht einen harten und argwöhnischen Eindruck, als hätte sie kein Vertrauen mehr. In der Kuhle unter ihrem Hals war ein kleiner roter Fleck. »Was ist das für ein Bubi?«, fragte sie.

    »Mr. Mackensons Sohn. Benimm dich, hörst du?«

    Ich schluckte heftig und sah von Lainie weg. Ihr Bademantel öffnete sich leicht. Mir wurde plötzlich bewusst, welche Mädchen schmutzige Wörter benutzten und was für ein Haus dies war. Ich hatte sowohl von Johnny Wilson als auch Ben Sears gehört, dass es irgendwo in der Nähe von Zephyr ein Haus voller Huren gab. Wenn man zu jemandem sagte: »Geh ’ne Hure lecken«, befand man sich nur noch ein Haarbreit von Handgreiflichkeiten entfernt. Ich hatte mir ein Bordell allerdings immer wie eine große Villa vorgestellt, mit Trauerweiden und schwarzen Angestellten, die den Kunden Mint Juleps auf der Veranda servierten. In Wirklichkeit war das Bordell nicht viel besser als ein verkommenes Mobilheim. Aber wie dem auch sei, hier war es, genau vor meinen Augen, und das Mädchen mit den Maishaaren und dem schmutzigen Mundwerk verdiente sich mit ihrem Körper ihren Lebensunterhalt. Ich spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief, und ich kann euch nicht verraten, was für Bilder mir wie ein langsamer, gefährlicher Sturm durch den Kopf gingen.

    »Bring die Milch und das alles in die Küche«, wies Miss Grace sie an.

    Das Lächeln unterlag der Häme und die braunen Augen wurden schwarz. »Ich hab nicht Küchendienst! Es ist Donna Anns Woche!«

    »Wenn ich dir sage, du machst das, dann ist es deine Woche, Missy, und du weißt auch, warum ich dich für den gesamten Monat in die Küche stellen sollte! Jetzt mach, was ich sage, und halte deinen frechen Mund!«

    Lainies Lippen zogen sich zu einem geübten Schmollmund zusammen. Aber ihre Augen fanden sich mit der Schelte nicht so heuchlerisch ab; kalte Wut lag in ihnen. Sie nahm mir das Tablett ab, streckte mir mit dem Rücken zu meinem Dad und Miss Gracie gewandt ihre nasse rosa Zunge raus und rollte sie wie zu einem Röhrchen zusammen. Dann glitschte die Zunge zurück in ihren Mund, sie wandte sich von mir ab und ließ uns verächtlich mit einem Hinternwackeln stehen, das boshaft wie ein Messerstich war. Sie spazierte ins Haus, und nachdem Lainie verschwunden war, grunzte Miss Grace. »Sie ist so ungehobelt wie ein wilder Schwan.«

    »Sind sie das nicht alle?«, fragte Dad, und Miss Grace blies einen Rauchring.

    »Ja, aber sie tut nicht mal, als hätte sie Manieren«, antwortete sie. »Cory, warum behältst du Kekse nicht, hm?«

    Ich sah Dad an. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, Ma’am«, sagte ich.

    »Gut. Es war wirklich ein Vergnügen, dich auch einmal kennenzulernen.« Miss Grace wandte ihre Aufmerksamkeit wieder meinem Vater zu und steckte sich ihre Zigarette zurück in den Mundwinkel. »Sagen Sie mir, was bei dem Ganzen am Ende rauskommt.«

    »Mach ich, und danke, dass ich das Telefon benutzen konnte.« Er setzte sich wieder hinter das Lenkrad. »Das Milchtablett hole ich beim nächsten Mal ab.«

    »Passt auf euch auf«, sagte Miss Grace und verschwand in dem weiß gestrichenen Bordell, während Dad den Motor anließ und die Handbremse löste.

    Wir fuhren zurück an die Stelle, an der das Auto in den See gefahren war. Saxon’s Lake war vom Morgenlicht blau und lila gestreift. Dad bog auf eine Schotterstraße ab; die Straße, so wurde uns beiden klar, von der das Auto gekommen war. Dann warteten wir auf den Sheriff, während die Sonne stärker schien und der Himmel azurblau wurde.

    Während ich dort saß, hing ich zwei verschiedenen Gedankengängen nach: Einer drehte sich um das Auto und die Gestalt, die ich meinte gesehen zu haben, und der andere rätselte, woher mein Dad Miss Grace vom Bordell so gut kannte. Aber Dad kannte alle seine Kunden; er unterhielt sich beim Abendessen mit Mom über sie. Allerdings konnte ich mich nicht erinnern, dass er jemals Miss Grace oder das Bordell erwähnt hatte. Na ja, es war auch kaum ein angebrachtes Thema für den Essenstisch, oder? Und überhaupt würden sie sich über so was nicht unterhalten, wenn ich dabei war, obwohl alle meine Freunde und sämtliche Schüler ab der vierten Klasse wussten, dass es irgendwo in der Nähe von Zephyr ein Haus mit leichten Mädchen gab.

    Ich war dagewesen. Ich hatte ein richtiges leichtes Mädchen gesehen. Ich hatte gesehen, wie sie ihre Zunge rollte und wie ihr Hintern sich im Bademantel bewegte.

    Das, so ahnte ich, würde aus mir eine echte Berühmtheit machen.

    »Cory?«, fragte mein Vater leise. »Weißt du, was für eine Art von Geschäft Miss Grace da in ihrem Haus hat?«

    »Ich …« Selbst ein Drittklässler hätte darauf kommen können. »Ja, Sir.«

    »Wäre es ein Tag wie jeder andere, hätte ich die Bestellung bloß neben die Haustür gestellt.« Er starrte auf den See, als würde er immer noch das Auto mit der ans Lenkrad geketteten Leiche langsam in die Tiefe sinken sehen. »Miss Grace ist seit zwei Jahren auf meiner Lieferstrecke. Jeden Montag und Donnerstag. Man kann die Uhr danach stellen. Und falls dir der Gedanke gekommen ist – deine Mutter weiß, dass ich dorthin fahre.«

    Ich gab keine Antwort, aber mir wurde wesentlich leichter ums Herz.

    »Ich will nicht, dass du irgendjemandem von Miss Grace oder dem Haus erzählst«, fuhr mein Vater fort. »Ich will, dass du vergisst, dass du dort warst und was du gesehen und gehört hast. Kannst du das?«

    »Warum?«, musste ich fragen.

    »Weil Miss Grace zwar ganz anders als du, ich oder deine Mutter sein mag, und sie ist vielleicht hart und gemein, und ihre Art von Arbeit nicht der Wunschtraum eines Pfarrers, aber sie ist eine gute Frau. Ich will einfach nicht, dass getratscht wird. Je weniger man über Miss Grace und das Haus spricht, desto besser. Verstehst du?«

    »Ich glaube, ja.«

    »Gut.« Er dehnte seine Finger am Lenkrad. Das Thema war damit beendet.

    Ich hielt mich an meine Versprechen. Meine Berühmtheit verflüchtigte sich, und das war’s.

    Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um ihm von der Gestalt zu erzählen, die ich im Wald gesehen hatte, als ein schwarzweißer Ford mit einer Lichtsirene oben drauf und dem Stadtwappen von Zephyr auf der Fahrertür um die Ecke bog und neben dem Milchtruck ausrollte. Sheriff Amory, der mit Vornamen J.T. hieß – Junior Talmadge –, stieg aus und Dad ging auf ihn zu.

    Sheriff Amory war ein dünner, großer Mann, dessen langes Kinn mich an ein Bild erinnerte, das ich gesehen hatte: Ichabod Crane, der versuchte, schneller als der kopflose Reiter zu sein. Er hatte große Hände und Füße und Ohren, die Dumbo in den Schatten gestellt hätten. Wenn seine Nase noch ein Stück länger gewesen wäre, hätte sie eine prima Wetterfahne abgegeben. Seinen Sheriffstern trug er vorn an seinen Hut gepinnt, unter dem sein Kopf bis auf einen dunkelbraunen Kranz Haare so gut wie kahl war. Während er und mein Vater sich am Seeufer unterhielten, schob er sich den Hut höher die glänzende Stirn hinauf. Ich verfolgte die Handbewegungen meines Vaters, als er Sheriff Amory zeigte, von wo das Auto gekommen und wo es hingefahren war. Dann sahen sie beide auf die unbewegte Oberfläche des Sees hinaus und ich wusste, woran sie dachten.

    Das Auto hätte genauso gut bis zum Mittelpunkt der Erde sinken können. Selbst die Schnappschildkröten, die entlang des Ufers lebten, konnten nicht tief genug tauchen, um das Fahrzeug jemals wiederzusehen. Wer auch immer der Fahrer gewesen war, er saß jetzt im Dunkeln mit Schlamm in den Zähnen.

    »Handschellen«, sagte Sheriff Amory mit seiner leisen Stimme. Er hatte buschige Augenbrauen über tiefliegenden Augen, die schwarz wie Kohle waren, und sein bleicher Teint legte die Vermutung nahe, dass er die Nacht dem Tage vorzog. »Sind Sie da sicher, Tom? Und auch was den Draht angeht?«

    »Ich bin mir sicher. Wer auch immer den Mann erwürgt hat, hat ganze Arbeit geleistet. Hat ihm fast den Kopf abgetrennt.«

    »Handschellen«, sagte der Sheriff wieder. »Wohl, damit er nicht nach oben treiben kann, nehme ich an.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe. »Tja«, sagte er schließlich. »Ich glaube, wir haben es mit Mord zu tun, oder was meinen Sie?«

    »Wenn das kein Mord war, dann weiß ich nicht, was Mord ist.«

    Während sie miteinander redeten, stieg ich aus dem Milchtruck und ging auf die Stelle zu, an der ich meinte, den Mann gesehen zu haben, der mich beobachtet hatte. Außer Unkraut, Steinen und Erde war nichts zu sehen, wo er gestanden hatte. Wenn es denn ein Mann gewesen war, dachte ich. Hätte es auch eine Frau sein können? Ich hatte keine langen Haare gesehen, aber eigentlich hatte ich überhaupt nichts außer einem Mantel gesehen, der im Wind wehte. Ich ging am Waldrand auf und ab. Dahinter wurde der Wald dichter und der Boden sumpfig. Ich fand nichts.

    »Sie kommen besser in mein Büro, damit ich das alles zu Protokoll nehmen kann«, sagte der Sheriff zu meinem Vater. »Wenn Sie erst nach Hause fahren und sich trockene Sachen anziehen wollen, ist das kein Problem.«

    Mein Dad nickte. »Ich muss noch meine restlichen Bestellungen abliefern und Cory zur Schule bringen.«

    »Okay. Mir scheint, dass wir für den Mann da unten sowieso nicht viel tun können.« Der Sheriff grunzte. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt. »Ein Mord. Den letzten Mord in Zephyr hatten wir 1961. Erinnern Sie sich dran, wie Bo Kallagan seine Frau mit einem Bowlingpokal totgeprügelt hat?«

    Ich ging zum Milchtruck zurück und wartete auf meinen Dad. Die Sonne war jetzt ganz aufgegangen, leuchtete auf die Welt hinunter. Oder zumindest auf die Welt, die ich kannte. Aber mich bedrückte etwas. Mir schien, dass es zwei Welten gab; eine vor der Sonne und eine nach dem Sonnenaufgang. Und wenn das stimmte, dann gab es vielleicht auch Menschen, die Bürger dieser verschiedenen Welten waren. Manche bewegten sich ungehindert im Land der Nacht und andere klammerten sich an die hellen Stunden. Vielleicht hatte ich in der Welt vor der Sonne einen dieser Bürger der Finsternis gesehen. Und – ein lähmender Gedanke – vielleicht hatte er auch mitbekommen, dass ich ihn gesehen habe.

    Ich merkte, dass ich Lehm in den Milchtruck gebracht hatte. Meine Keds waren ganz verschmiert.

    Ich sah mir die Sohlen und die Erde an, die sich daran festgetreten hatte.

    Unter meinem linken Schuh klebte eine kleine grüne Feder.

    Runter in die Dunkelheit

    Ich steckte mir die grüne Feder in die Tasche. Von dort wanderte sie in eine White-Owl-Zigarrenschachtel in meinem Zimmer, in der auch meine Schlüsselsammlung und vertrocknete Insekten lagen. Ich klappte den Deckel der Schachtel runter, stellte sie in eine der sieben geheimen Schubladen und machte die Schublade zu.

    Und dann vergaß ich sie.

    Je länger ich überlegte, ob ich diese Gestalt am Waldrand tatsächlich gesehen hatte, desto sicherer war ich mir, dass ich sie mir nur eingebildet hatte. Meine Augen hatten es mit der Angst zu tun bekommen, als Dad neben dem Auto im See untergegangen war. Ich setzte mehrmals an, Dad davon zu erzählen, aber jedes Mal kam etwas dazwischen. Mom wurde fuchsteufelswild, als sie herausfand, dass Dad in den See gesprungen war. Sie schluchzte vor Wut, während sie ihn anschrie, und Dad musste sie auf einen Stuhl am Küchentisch ziehen und ihr in aller Ruhe erklären, warum er es getan hatte.

    »Ein Mann saß hinter dem Steuer«, sagte Dad. »Ich wusste ja nicht, dass er schon tot war, ich dachte, er hatte sich den Kopf angeschlagen und war bewusstlos. Wenn ich da nur rumgestanden wäre – wie hätte ich dann später jemals wieder in den Spiegel schauen können, nachdem alles vorbei war?«

    »Du hättest ertrinken können!«, schoss sie zurück, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Du hättest mit dem Kopf auf einem Stein landen und ertrinken können!«

    »Ich bin nicht ertrunken. Ich bin nicht mit dem Kopf auf einem Stein gelandet. Ich habe getan, was ich tun musste.« Er reichte ihr eine Papierserviette und sie wischte sich damit die Augen ab.

    Einen letzten Schuss vor den Bug hatte sie aber noch: »Der See ist voll mit Wassermokassinottern! Du hättest in ein ganzes Nest davon schwimmen können!«

    »Bin ich aber nicht«, sagte er, und sie seufzte und schüttelte den Kopf, als lebte sie mit dem verrücktesten Idioten zusammen, der je das Licht der Welt erblickt hatte.

    »Zieh dir besser die nassen Sachen aus«, sagte sie nach einer Weile zu ihm. Sie hatte ihre Stimme wieder unter Kontrolle. »Ich danke Gott, dass nicht auch noch deine Leiche unten auf dem Grund des Sees liegt.« Sie stand auf und half ihm, das durchweichte Hemd aufzuknöpfen. »Weißt du dann, wer’s war?«

    »Hab den noch nie gesehen.«

    »Wer würde einem andern Menschen so was antun?«

    »Das herauszufinden ist J.T.s Job.« Er pellte sich das Hemd vom Leib, und Mom nahm es mit zwei Fingern entgegen, als sei das Seewasser mit Lepra verseucht. »Ich muss auf die Wache gehen und das zu Protokoll geben. Rebecca, als ich diesem toten Mann ins Gesicht gesehen habe, ist mir fast das Herz stehengeblieben. So was hab ich noch nie gesehen, und ich hoffe bei allem, was mir heilig ist, dass ich so was auch nie wieder sehen werde.«

    »Oh Gott«, sagte Mom. »Was, wenn du einen Herzinfarkt bekommen hättest? Wer hätte dich denn gerettet?«

    Sich Sorgen zu machen lag in der Natur meiner Mutter. Sie machte sich über das Wetter Sorgen, über den Preis von Lebensmitteln, dass die Waschmaschine kaputtgehen könnte, darüber, wie die Papierfabrik im Adams Valley den Tecumseh River verschmutzte, wie teuer neue Kleidung war, und alles, was es sonst noch unter der Sonne gab. Für meine Mutter war die Welt wie eine unermesslich große Steppdecke, deren Nähte ständig aufgingen. Irgendwie waren ihre Befürchtungen wie eine Nadel, die diese gefährdeten Nähte stramm zog. Wenn sie sich den schlimmstmöglichen Ausgang einer Situation vorstellen konnte, schien sie eine Art Kontrolle darüber zu entwickeln. Wie gesagt, so war sie einfach. Mein Vater konnte, ohne groß nachzudenken, um Entscheidungen würfeln, aber meine Mutter quälte sich mit jeder Stunde. Ich nehme an, sie ergänzten sich; wie zwei Menschen, die sich lieben, es sollten.

    Die Eltern meiner Mutter, Grand Austin und Nana Alice, lebten ungefähr zwölf Meilen weiter südlich am Rande der Robbins Air Force Base in einer Stadt namens Waxahatchee. Nana Alice machte sich sogar noch mehr Sorgen als Mom. Irgendetwas in ihrer Seele verlangte nach Drama und Tragik, während Grand Austin – der Holzfäller gewesen war und zum Andenken an den Ausrutscher einer Bandsäge ein Holzbein hatte – sie warnte, dass er sein Bein abschrauben und ihr damit eine verpassen würde, wenn sie nicht endlich still war und ihn in Ruhe ließ. Er nannte sein Holzbein seine Friedenspfeife, aber soviel ich weiß, hat er es nie zu einem anderen Zweck als dem benutzt, für den es geschnitzt worden war. Meine Mutter hatte einen Bruder und eine Schwester, beide älter als sie, aber mein Vater war ein Einzelkind.

    An jenem Tag ging ich in die Schule und erzählte Davy Ray Callan, Johnny Wilson und Ben Sears bei der allerersten Gelegenheit, was passiert war. Bis die Schulglocke schellte und ich nach Hause ging, hatten sich die Neuigkeiten in Zephyr wie ein lodernder Waldbrand verbreitet. Das Wort Mord war in aller Munde. Meine Eltern wurden mit Anrufen bombardiert. Jeder wollte die grausigen Einzelheiten wissen. Ich ging raus, um Rebel hinter meinem rostigen Fahrrad her durch den Wald jagen zu lassen, und mir kam der Gedanke, dass einer dieser Anrufer die Details vielleicht schon kannte. Vielleicht versuchte einer von ihnen nur herauszufinden, ob er gesehen worden war, oder was Sheriff Amory wusste.

    Als ich auf meinem Fahrrad durch den Wald fuhr und Rebel neben mir herrannte, wurde ich mir bewusst, dass möglicherweise jemand in meiner Heimatstadt ein Mörder war.

    Die Tage vergingen, wärmten sich auf zur Mitte des Frühlings hin. Eine Woche, nachdem Dad in Saxon’s Lake gesprungen war, sah der Stand der Dinge so aus: Sheriff Amory hatte weder in Zephyr noch den umliegenden Städten einen Vermissten ausfindig machen können. Ein Artikel auf der ersten Seite des wöchentlich erscheinenden Adams Valley Journal kitzelte keine neuen Informationen heraus. Sheriff Amory und zwei seiner Deputys, ein paar Feuerwehrmänner und ein halbes Dutzend Freiwillige fuhren in Ruderbooten auf den See hinaus und zogen Netze hin und her, fingen aber nur aufgebracht schnappende Schildkröten und Wassermokassinottern.

    Saxon’s Lake war in den Zwanzigerjahren Saxon’s Steinbruch gewesen, bis die Dampfschaufeln in einen unterirdischen Bach eingebrochen waren, der weder eingedämmt noch umgeleitet werden konnte. Der See wurde auf eine Tiefe von neunzig bis hundertfünfzig Meter geschätzt. Auf der gesamten Welt existierte kein Netz, welches das versunkene Auto wieder an die Oberfläche ziehen konnte.

    Eines Abends kam der Sheriff vorbei, um mit Mom und Dad zu reden, und sie ließen mich dabei sein. »Wer auch immer das getan hat«, erklärte Sheriff Avery, dessen Nase einen Schatten warf, als er mit dem Hut auf dem Schoß dasaß, »muss mit dem Auto rückwärts in die Schotterstraße reingefahren sein, die dem See gegenüberliegt. Die Reifenspuren haben wir gefunden, aber die Fußspuren waren alle verwischt. Der Mörder muss irgendwas auf das Gaspedal geklemmt haben. Kurz bevor Sie um die Kurve kamen, hat er die Handbremse gelöst, die Tür zugeknallt und ist zurückgesprungen, und das Auto hat die Route Ten überquert. Natürlich wusste er nicht, dass Sie dort vorbeikommen würden. Wären Sie in dem Moment nicht dagewesen, wäre das Auto in den See gestürzt, versunken, und niemand hätte je gewusst, dass was passiert ist.« Er zuckte die Achseln. »So reime ich mir das zusammen.«

    »Haben Sie mit Marty Barklee gesprochen?«

    »Ja, hab ich. Marty hat nichts gesehen. So, wie die Schotterstraße da an der Stelle rauskommt, kann man mit normaler Geschwindigkeit dran vorbeifahren, ohne überhaupt zu merken, dass es sie gibt.«

    »Und was bedeutet das nun?«

    Der Sheriff dachte über die Frage meines Vaters nach. Das Lampenlicht verfing sich an dem Silberstern auf seinem Hut. Draußen bellte Rebel und in ganz Zephyr stimmten andere Hunde in seinen Stammesschrei ein. Der Sheriff spreizte die großen Hände und betrachtete seine Finger. »Tom«, sagte er, »wir sehen uns hier mit einer äußerst seltsamen Situation konfrontiert. Wir haben Reifenspuren, aber kein Auto. Sie haben gesagt, dass Sie einen toten Mann gesehen haben, der mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt war und der einen Draht um den Hals hatte. Aber wir haben keine Leiche und werden wahrscheinlich auch keine bergen können. Im Ort wird niemand vermisst. In der gesamten Gegend wird niemand vermisst, abgesehen von einem jungen Mädchen, und dessen Mutter nimmt an, dass sie mit ihrem Freund nach Nashville durchgebrannt ist. Übrigens hat dieser Freund keine Tätowierungen. Ich kann niemanden finden, der jemanden mit so einer Tätowierung gesehen hat, wie Sie sie beschreiben.« Sheriff Avery sah mich mit seinen kohlschwarzen Augen an, dann meine Mutter, und dann wieder meinen Vater. »Kennen Sie diese Rätselfrage, Tom – die über den Baum, der im Wald umfällt, und ob der ein Geräusch macht, wenn niemand da ist, um es zu hören? Tja, wenn es also keine Leiche gibt und soweit ich sehen kann niemand vermisst wird … ist dann ein Mord geschehen, oder nicht?«

    »Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Dad. »Zweifeln Sie an meinen Worten, J.T.?«

    »Nein, so meine ich das nicht. Ich will damit nur sagen, dass ich nichts mehr tun kann, bis wir ein Mordopfer haben. Ich brauche einen Namen, Tom. Ich brauche ein Gesicht. Ohne jemanden identifizieren zu können, weiß ich nicht mal, wo ich überhaupt anfangen soll.«

    »Und in der Zwischenzeit spaziert jemand, der einen anderen Mann umgebracht hat, fröhlich frei herum und muss keine Angst haben, dass er in absehbarer Zeit gefasst wird. Ist das etwa, wie’s aussieht?«

    »Ja«, gab der Sheriff zu. »So sieht das aus.«

    Natürlich versprach Sheriff Amory, dass er weiter an dem Fall arbeiten würde und dass er im ganzen Bundesstaat nach Vermisstenanzeigen herumtelefonieren würde. Früher oder später, sagte er, würde jemand nach dem Mann fragen, der im See versunken war.

    Als der Sheriff weg war, ging mein Vater nach draußen, um allein auf der Veranda zu sitzen, ohne das Licht anzumachen. Dort saß er immer noch allein, als Mom mir sagte, ich sollte mich bettfertig zu machen.

    Das war die Nacht, in der der Schrei meines Vaters mich im Dunkeln aufweckte.

    Ich setzte mich im Bett auf, alle Nerven zum Zerreißen gespannt. Hinter der Wand konnte ich Mom mit Dad reden hören. »Ist schon gut«, sagte sie. »Es war ein schlimmer Traum, nur ein schlimmer Traum. Alles ist gut.«

    Dad blieb lange still. Ich hörte im Badezimmer Wasser laufen. Dann das Quietschen ihrer Bettfedern.

    »Willst du mit mir darüber reden?«, fragte Mom ihn.

    »Nein. Oh Gott, nein.«

    »Es war nur ein schlechter Traum.«

    »Ist mir egal. Es war realistisch genug.«

    »Meinst du, du kannst wieder einschlafen?«

    Er seufzte. Ich konnte ihn mir da drüben im finsteren Schlafzimmer vorstellen, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Ich weiß nicht«, sagte er.

    »Ich kann dir den Rücken reiben.«

    Als sich ihr Gewicht verlagerte, quietschte das Bett erneut. »Du bist schrecklich verspannt«, sagte Mom. »Bis ganz in den Nacken hoch.«

    »Das tut höllisch weh. Genau an der Stelle, wo dein Daumen ist.«

    »Da ist ein Knoten. Du musst dir einen Muskel gezerrt haben.«

    Stille. Mein Nacken und meine Schultern waren auch schon oft von den geschmeidigen Händen meiner Mutter getröstet worden. Ab und zu meldeten sich die Bettfedern zu Wort, verrieten eine Bewegung. Dann kam wieder die Stimme meines Vaters. »Ich hatte wieder einen Albtraum über den Mann im Auto.«

    »Das hab ich mir gedacht.«

    »Ich hab ihn da im Auto betrachtet, sein zu Brei geschlagenes Gesicht und den Draht um den erdrosselten Hals. Ich hab die Handschellen an seinem Handgelenk gesehen und die Tätowierung an seiner Schulter. Das Auto sank, und dann … dann hat er die Augen aufgemacht.«

    Ich erschauderte; konnte es vor mir sehen. Die Stimme meines Vaters wurde fast zu einem Schluchzen.

    »Er hat mich angestarrt. Mich direkt angesehen. Wasser ist ihm aus den Augenhöhlen geströmt. Er hat den Mund aufgemacht und seine Zunge war schwarz wie ein Schlangenkopf. Und dann hat er gesagt: Komm mit mir

    »Denk nicht mehr dran«, unterbrach meine Mutter ihn. »Mach einfach die Augen zu und ruh dich aus.«

    »Ich kann mich nicht ausruhen. Ich kann nicht.«

    Ich stellte mir meinen Vater vor, der gekrümmt wie ein Fragezeichen auf dem Bett lag, während Mom ihm die eisenharten Rückenmuskeln massierte.

    »Mein Albtraum«, sprach er weiter. »Der Mann im Auto hat die Hand ausgestreckt und mich am Handgelenk gepackt. Seine Nägel waren blau. Seine Finger drückten sich hart in meine Haut und er sagte: Komm mit mir, runter in die Dunkelheit. Und dann ist der See über meinem Kopf zusammengeschlagen und ich konnte nicht mehr weg und hab den Mund aufgemacht, um zu schreien, aber das Wasser hat mir die Kehle gefüllt. Oh Gott, Rebecca. Oh Gott.«

    »Es war ja nicht wirklich. Hör mir zu! Es war nur ein schlimmer Traum, und jetzt ist alles gut.«

    »Nein«, antwortete Dad. »Ist es nicht. Diese Sache frisst mich auf und es wird immer schlimmer. Ich dachte, ich könnte das vergessen. Ich meine, Herrgott, ich habe ja schon tote Menschen gesehen. Von nahem. Aber das hier … das ist anders. Dieser Draht um seinen Hals, die Handschellen, das Gesicht, das jemand komplett eingeschlagen hat … das ist anders. Und nicht zu wissen, wer er war, gar nichts über ihn zu wissen … das frisst mich auf, Tag und Nacht.«

    »Es wird vorbeigehen«, sagte Mom. »Das sagst du doch immer zu mir, wenn ich mir unnötig Sorgen mache. Halte durch, sagst du zu mir. Es wird vorbeigehen.«

    »Vielleicht wird es das. Bei Gott, ich hoffe, dass es das wird. Aber im Moment steckt es mir im Kopf und ich kann es bei bestem Willen nicht loswerden. Und das Schlimmste, Rebecca, das, was mich fertigmacht: Wer das auch verbrochen hat, er muss von hier sein. Muss es sein. Denn er wusste, wie tief der See ist. Er wusste, dass die Leiche verschwindet, wenn das Auto in den See stürzt. Rebecca … das kann jemand gewesen sein, den ich mit Milch beliefere. Es könnte jemand sein, der in der Kirche neben uns auf der Bank sitzt. Jemand, von dem wir Lebensmittel oder Kleidung kaufen. Einer, den wir schon unser ganzes Leben lang kennen … oder dachten, dass wir ihn kennen. Das jagt mir mehr Angst ein als alles andere, vor dem ich mich je gefürchtet habe. Weißt du, warum?« Er schwieg einen Moment, und ich konnte mir vorstellen, wie die Ader an seiner Schläfe im Pulsschlag zuckte. »Wenn das Leben hier nicht sicher ist, dann gibt es nirgendwo auf dieser Welt Sicherheit.« Bei dem letzten Wort brach seine Stimme ein bisschen. Ich war froh, dass ich nicht mit im Zimmer war und dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.

    Zwei oder drei Minuten verstrichen. Ich glaube, mein Vater lag bloß da und ließ sich von Mom den Rücken reiben. »Meinst du, dass du jetzt schlafen kannst?«, fragte sie ihn schließlich, und er sagte: »Ich werd‘s versuchen.«

    Die Bettfedern meldeten sich ein paarmal zu Wort. Ich hörte meine Mutter ihm etwas ins Ohr murmeln. »Ich hoffe es«, sagte er und dann waren sie still. Manchmal schnarchte mein Dad; in dieser Nacht aber nicht. Ich fragte mich, ob er wach lag, nachdem Mom eingeschlafen war, und ob er die Leiche im Auto nach ihm greifen sah, um ihn in die Tiefe zu ziehen. Seine Worte ließen mir keine Ruhe: Wenn das Leben hier nicht sicher ist, dann gibt es nirgendwo auf dieser Welt Sicherheit. Dieses Erlebnis hatte meinen Vater an einer Stelle verletzt, die tiefer lag als die Abgründe des Saxon’s Lake. Vielleicht, weil es so unerwartet passiert war. Oder, weil es dermaßen grausam war. Oder wegen der Kaltblütigkeit. Vielleicht lag es an der Erkenntnis, dass sich selbst in den nettesten Städten furchtbare Geheimnisse hinter den geschlossenen Türen versteckten.

    Ich denke, mein Vater hat immer geglaubt, dass alle Menschen in der tiefsten Seele ihres Wesens gut sind. Dieses Erlebnis erschütterte ihn in seinen Grundfesten, und ich hatte das Gefühl, dass der Mörder meinen Vater genauso an diese schreckliche Morgenstunde gefesselt hatte wie das Opfer ans Lenkrad. Ich schloss die Augen und betete für Dad, dass er seinen Weg aus der Finsternis herausfinden konnte.

    Der März verstrich lammfromm, aber die Arbeit des Mörders war noch nicht getan.

    Der Eindringling

    Alles beruhigte sich wieder, wie es meist der Fall ist.

    Am ersten Samstagnachmittag im April, als die Bäume Knospen trugen und Blumen sich aus der warmen Erde schoben, saß ich zwischen Ben Sears und Johnny Wilson von brüllenden Leuten umzingelt, während Tarzan – Gordon Scott, der beste Tarzan, den es je gegeben hat – sein Messer im Bauch eines Krokodils versenkte. Blut spritzte in scharlachroter Filmfarbe auf.

    »Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?«, fragte Ben immer wieder und stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. Natürlich sah ich es. Ich hatte schließlich Augen, oder nicht? Meine Rippen würden bis zu den Three Stooges in der Filmpause nicht überleben, so viel war sicher.

    Das Lyric war das einzige Kino in Zephyr. Es war 1945 nach Ende des Zweiten Weltkriegs gebaut worden, als Zephyrs Söhne nach Hause marschierten oder humpelten und nach Unterhaltung verlangten, die die Albträume von Hakenkreuzen und der Aufgehenden Sonne vertreiben konnte. Irgendein wohlhabender Stadtvater griff tief in die Tasche und ließ aus Birmingham einen Architekten kommen, der einen Bauplan zeichnete und auf einem verkommenen Grundstück, das einst eine Tabakscheune beheimatet hatte, Quadrate absteckte. Natürlich war ich zu der Zeit noch nicht geboren, aber Mr. Dollar könnte euch die ganze Geschichte erzählen. Ein wahrer Palast voller Stuckengel wurde errichtet, und wenn wir junge Burschen uns samstagnachmittags mit unserem Popcorn, Süßigkeiten und Flaschen Schokoladenmilch in die Sitze flegelten, konnten unsere Eltern ein paar Stunden lang durchatmen.

    Jedenfalls saß ich an einem Samstagnachmittag mit meinen zwei Freunden im Tarzan-Film. Ich weiß nicht mehr, warum Davy Ray nicht mit dabei war; ich glaube, er hatte Stubenarrest, weil er Molly Lujack einen Kiefernzapfen an den Kopf geworfen hatte.

    Satelliten konnten zum Himmel steigen und Funken ins Weltall spucken. Ein Mann mit Bart und Zigarre konnte auf einer Insel vor Floridas Küste Spanisch plappern, während Blut die Bucht der Schweine rot färbte. Der kahlköpfige Russe konnte seinen Schuh werfen. Soldaten konnten ihre Ausrüstung für einen Ausflug in einen Dschungel namens Vietnam packen. Atombomben konnten in der Wüste gezündet werden und Mannequins aus Reihenhauswohnzimmern fliegen lassen. Nichts davon interessierte uns. Das war keine Magie. Magie gab es samstagnachmittags im Doppelfilm im Lyric, und wir nutzten die Gelegenheit, uns in diesem Zauber zu verlieren.

    Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung – 77 Sunset Strip –, in welcher der Held ein Kino betrat, das Lyric hieß, und das ließ mich über das Wort nachdenken. Ich schlug es in meinem massiven 22.483 Seiten langen Wörterbuch nach, das Granddaddy Jaybird mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.

    Lyric, stand da: Melodisch. Zum Singen geeignet. Ein lyrisches Gedicht. Von Lyra, Leier. Das schien in Bezug auf ein Kino nicht viel Sinn zu ergeben, bis ich Leier in meinem Wörterbuch nachschlug. Leier brachte mich zur erzählenden Dichtkunst, die reisende Minnesänger zu Zeiten der Schlösser und Könige vortrugen. Was mich zu dem wunderbaren Wort erzählen führte. Schon als Kind kam es mir so vor, als würde alle Kommunikation – ob im Fernsehen, in Filmen oder Büchern – mit jemandem beginnen, der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1