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Der Märchenphilosoph
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eBook379 Seiten4 Stunden

Der Märchenphilosoph

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Über dieses E-Book

Beginnen wir damit, das allerpersönlichste Märchenwesen in uns zu entdecken, um zu verstehen, wer wir wirklich sind. Bin ich denn nun ein listiges Fabelwesen, ein kluger Elf, eine ratlose Heldin vor ihrer Feuerprobe, eine gütige Fee oder ein Seeadler, der durch die Weite des Himmels gleitet? Lassen wir zunächst jenes vor uns selbst verborgene Geheimnis aufleuchten! Seien wir endlich jene Märchenfigur, die wir uns bisher nur im kostbar gehüteten Traum erlaubt haben zu sein! Die Substanz all dessen ist seit Jahrtausenden dieselbe, sie bleibt unvermindert des Menschen größtes Mysterium, es ist nach wie vor die Magie.

Eine heitere, sentimentale Reise voller Irrtümer und Glück. Vom Zauber, die eigene Gabe zu finden und zu entfalten, um sie dann zu verschenken.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Dez. 2022
ISBN9783756880317
Der Märchenphilosoph
Autor

Markus Reich

Markus Reich wurde 1968 in Rastatt/Baden geboren, wuchs in Wendlingen am Neckar und in Dornhan im Schwarzwald auf. Nach Schule und Ausbildung begann er ein Ingenieurstudium und entdeckte gleichzeitig seine leidenschaftliche Liebe zur Literatur. Es entstanden erste Erzählungen und Romanentwürfe. Den Studienaufenthalten in Frankreich und Indien schloss sich eine zehnjährige Reisetätigkeit als Ingenieur in vierundzwanzig Ländern und auf vier Kontinenten an. 2008 erfolgte die Rückkehr nach Deutschland sowie eine berufliche Karriere in Konstanz und in der Schweiz. Seit 2017 ist Markus Reich freier Autor und schreibt Drehbücher, Romane, Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten. 1. Preis im Rahmen der LiteraTour auf dem Bodensee 2017 beim IBC-Kurzgeschichtenwettbewerb für die Kurzgeschichte Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin.

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    Buchvorschau

    Der Märchenphilosoph - Markus Reich

    Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit Träumen.

    Steven Spielberg

    Arbeite, als würdest du das Geld nicht brauchen. Liebe, als hätte dich nie jemand verletzt. Tanze, als würde niemand zusehen. Singe, als würde niemand zuhören. Lebe, als wäre der Himmel auf Erden.

    Mark Twain

    Inhalt

    Das Hemd des Musketiers

    Das Märchen kommt zu uns

    Luise

    Die andere Welt

    Die Torwächterin

    Im mystischen Wald

    In der Wasserpension

    Mit einer Fee im Labyrinth

    Der verlorene König

    Eine ungewöhnliche Übereinkunft

    Die Liebe einer Fee

    Die Verlobung

    Morganas Netz

    Feenwunsch

    Begegnung mit der Gegenwart

    Im Bann der Schneekönigin

    Das Liebeselixier

    Gesuch um Mitternacht

    Der Nebenbuhler

    Morganas Drohung

    Morganas Rache

    Gold spinnen

    Misstrauen

    Die wunderbare Welt des Sommers

    Die Märchenwelt ist die wirkliche Welt

    Die Konferenz der Märchenwesen

    Der Märchenphilosoph

    Das Tagebuch des Hamsters

    Die zweite Geschichte

    Ein neuer Mythos

    Freiheit

    Die Schneekönigin in Paris

    Am Tag der Mondlandung

    Abschied

    Traum einer Reise

    Das Hemd des Musketiers

    Das Märchen kommt zu uns

    Manchmal hören wir Geschichten, die ringsum für reine Erfindung gehalten werden. Dabei entdeckt jede Generation ihre eigenen Märchen, deren Existenz keinesfalls auf die Vergangenheit beschränkt ist, sie finden vielmehr in diesem Augenblick statt. Natürlich ereignen sich Märchen immer auf eine besondere Art, die ihrer jeweiligen Epoche entspricht. Sie verlaufen heute nicht mehr so wie zu Zeiten der Gebrüder Grimm, ähneln weder den ehrfürchtigen Spukgeschichten des Mittelalters, noch gleichen sie den Mythen der Antike. Dennoch vereint sie alle etwas, denn das Wunderbare entfaltet sich stets auf ungewöhnliche und wertvolle Weise.

    Mag unsere gegenwärtige Umgebung auch immer weniger Märchenhaftes aufweisen und die Ausstattung der Welt sich scheinbar unaufhaltsam zum glattgebügelten und phantasielosen entwickeln, so sind dagegen die Grundlagen der Heldenreise stets die gleichen. Sie wirken sogar noch genauso wie in frühster, uns längst unwahr erscheinender Vergangenheit. Nicht nur Heldin und Held sind in ihren mannigfaltigen Ausprägungen weiterhin dieselben, sondern auch die sie Umgebenden und Beeinflussenden. All die offenkundig Unterstützenden sowie die unheimlichen Feinde, die Hinterlistigen und die Gütigen, jene legendenhaften Figuren unterschiedlichster Couleur: Wesen, die man früher Feen, Elfen, Zwerge, Kobolde, Dämonen, Engel, Geister, Riesen, Zaubrerinnen … nannte. Sie sind weiterhin um uns versammelt. Jeden Tag. Jeden Moment. Genau jetzt!

    Es liegt an uns, ihr Dasein zu erkennen. Damit wir in diesem Bereich sehend werden, beginnen wir damit, das allerpersönlichste Märchenwesen in uns zu entdecken, um zu verstehen, wer wir wirklich sind. Bin ich denn nun ein listiges Fabelwesen, ein kluger Elf, eine ratlose Heldin vor ihrer Feuerprobe, eine gütige Fee oder ein Seeadler, der durch die Weite des Himmels gleitet? Lassen wir zunächst jenes vor uns selbst verborgene Geheimnis aufleuchten! Seien wir endlich jene Märchenfigur, die wir uns bisher nur im kostbar gehüteten Traum erlaubt haben zu sein! Die Substanz all dessen ist seit Jahrtausenden dieselbe, sie bleibt unvermindert des Menschen größtes Mysterium, es ist nach wie vor die Magie.

    Es war einmal der Sohn eines Schäfers namens Daniel, der in ein Abenteuer gestoßen wurde, welches kein alltägliches war, sondern ein unvergleichliches, denn es gestaltete sich derart, dass unser zunächst etwas unbedeutend anmutender Protagonist zu einer faszinierenden Figur inmitten abenteuerlicher Ereignisse wurde. Unser Held wusste jedoch zu Anfang nichts von all diesen mystischen Zusammenhängen. Er ahnte im Verlauf unserer Geschichte zwar, dass es durchaus ungewöhnlich sei, was er erlebe, hatte dafür aber keine Erklärung.

    Woher hätte er auch wissen sollen, dass neben, unter und über uns noch etwas anderes existiert: Ein richtiggehender Märchenkosmos, der sich manchmal mit unserer Welt überschneidet, meist jedoch nur für kurze Zeit. Und so kommt es, dass wir eines schönen Morgens völlig unerwartet von Magie umgeben sind. Lassen wir uns darauf ein, werden wir zu einer Figur inmitten eines Zauberreichs und schon bald phantastischen Wesen begegnen. Wenn auch äußerlich weiterhin die bisher bekannte Szenerie um uns bestehen bleibt, weil wir weder in eine außergewöhnliche Welt plumpsen wie Alice durch ein Loch ins Wunderland noch wie Gulliver Liliputanern begegnen. Es ist vielmehr genau andersherum: Die Märchenwelt kommt zu uns, dringt in unsere Sphäre ein und erfüllt unser bisher gewöhnliches Dasein mit ihrem Zauber, was mit sich bringt, dass Menschen nicht länger dieselben sind, sondern zu den schillerndsten Wesen überhaupt werden. Zudem sind wir gleichzeitig Märchenwesen und Alltagsmensch, die zwei Persönlichkeiten sind nicht voneinander geschieden, sondern vermischen sich unentwegt. Manchmal gewinnt der Märchencharakter in uns die Überhand, dann spüren wir ganz deutlich das Besondere – die dem Leben zugrundeliegende Leidenschaft.

    Daniel war zu Beginn unserer Geschichte sehr fleißig. Denn er war in furchtbarer Eile. Warum er dabei oft so unruhig war, wusste er selbst nicht. Vielleicht lag es an der merkwürdigen Zeit, in die er hineingeboren wurde und an dem zwiespältigen und lästigen Gefühl, dass zahlreiche Erwartungen an ihn gestellt würden. Er tat, wie ihm geheißen wurde, weil er es nicht anders kannte und studierte überaus erfolgreich. Dass es noch weitaus mehr in diesem Universum gab, davon sprach niemand. Wahrscheinlich hätte Daniel solche Unterhaltungen mit einem Achselzucken abgetan und gesagt: „Also mir genügt diese Welt, die beschäftigt mich überaus. Erzähl mir nichts von seltsamen Welten. Das interessiert mich nicht im Geringsten. Wer braucht etwas anderes als das, was wir haben? Sowieso habe ich keine Zeit dafür."

    Hätte Daniel nicht selbst Einblicke in die grundlegende Wesensart des Lebens erhalten, würde er bis heute nicht ahnen, dass solcherlei existiert. Verwirrt von der überraschenden Einsicht in eine fremde und gleichzeitig auf unerfindliche Weise merkwürdig vertraute Daseinsform, berichtete er seinen Freunden davon. Natürlich glaubte ihm niemand auch nur ein Wort.

    Nachdem er die so unverkennbar andersgeartete Welt mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte er diese nicht einfach wieder vergessen. Der Rückweg zu seinem alten Leben war somit unweigerlich versperrt. Wer das Phantastische einmal gesehen hat, vergisst es nie wieder. Es bedeutet eine drastische Veränderung. Ob die davon Erfassten dies bevorzugen oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Erschwerend kam hinzu, dass das Wundersame, einmal erblickt, sich rasch wieder zurückzog. Somit musste Daniel danach suchen, um es in der Dringlichkeit der ersten Erfahrung wiederzufinden.

    Es war aber nicht nur eine unterschiedliche Lebensform, die Daniel gesehen hatte, so wie wir sie aus Filmen oder Büchern kennen, mit zahllosen phantastischen Wesen, sondern es hatte sich dort auch alles anders angefühlt: Als wären alle Wesen und sogar die Gegenstände ungeheuer kostbar und auf vibrierende Weise lebendig. Daniel stand ohne Vorwarnung innerhalb einer Sekunde mit allem und allen in der intensivsten Verbindung, die man sich nur vorstellen kann. Als fühle er das bunte Abenteuerland namens Erde mit jedem Schlag seines Herzens erzittern. Dieser erste Aufenthalt dauerte vielleicht eine halbe Minute, aber das genügte, um Daniels Sein und Streben eine neue Richtung zu geben und ihn aus der gewohnten Bahn zu werfen.

    Ein paar Worte vor dem Lesen des vorliegenden Romans über das Phänomen der Zeitblase erscheinen angebracht. Wir leben zeitlich gesehen nach und nach, gewöhnlich folgt ein Ereignis auf etwas, das davor geschehen ist. Daran orientieren wir uns. So ist diese Welt angeordnet. Solche Gesetze werden selten in Frage gestellt, denn ein Abweichen davon erscheint uns chaotisch. Was natürlich nicht heißt, dass man nicht davon abweichen kann. Nichts blockiert unseren Blick für das Wesentliche und Mögliche so sehr wie die Gewöhnung. Um diese zu überwinden, bedarf es besonderer Anstrengungen. Dabei hilfreich sind machtvolle Hilfsmittel. Wie diese ausgestaltet sind, ist ein gut gehütetes Geheimnis. In unserer Geschichte ist es ein Musketierhemd, welches eine Zeitblase, oder die Illusion einer solchen, erzeugt. Eine Zeitblase ist wie ein Zimmer, das man betritt, und auf dessen Tür ein Datum steht, das Tage und Jahre in der Vergangenheit oder Zukunft liegt. Vielen von uns ist dieses Phänomen längst bekannt. Wer hat noch nicht von der Vergangenheit oder Zukunft geträumt und zugleich gespürt, dass solch ein Traum wahr ist, wahrer als die sogenannte Realität …

    Erwarten wir nicht alle mehr vom Leben? Da muss doch etwas Besonderes sein. Es kann mit dem Tod nicht einfach alles vorbei sein, und wir von einem Tag auf den anderen verschwinden, als wären wir nie dagewesen? Warum sollten wir uns sonst tagtäglich trotz unseres Wissens über die Endlichkeit so sehr abmühen? Wäre es nicht verrückt, an einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Unterfangen ernsthaft festzuhalten, wenn am Ende nichts als der Tod stünde? Zu allen Zeiten erschienen den Menschen belanglose Aspekte des Daseins dennoch äußerst wichtig. Geschichten hingegen waren mal mehr, mal weniger wertvoll. Gegenwärtig dienen diese meist nur der Zerstreuung. Kaum jemand nimmt sie mehr ernst. Dabei sind sie doch oft wahrer als das, womit wir uns beschäftigen. Wenn wir ein Brett auseinandersägen, ist es danach eben entzwei und das war es. Aber Pinocchios lange Nase wird, solange es Menschen gibt, die Erzählungen lauschen, in Abertausenden persönlichen Phantasiewelten existieren. Aber jetzt gehen wir erst einmal dorthin, wo alles anfing. Zunächst halten wir uns ein wenig in der gewohnten Alltagswelt auf. Unsere Geschichte beginnt natürlich kurz vor dem entscheidenden Ereignis …

    Luise

    Der Autor erzählt von nun an seine eigene Geschichte und gibt deshalb die Geheimniskrämerei mit der dritten Person auf. Haben Sie auch schon einmal davon gehört, dass sich ein Leben innerhalb eines Momentes für immer entscheidend verändert? Das ist genau das, wovon ich erzählen werde, wie von einem Moment auf den anderen alles anders wurde. Bisweilen vermisse ich den alten, langweiligen Kerl in mir und der neue ist mir selbst noch nicht geheuer. Er ist manchmal sogar ein richtiger Narr, der mich in ziemliche Schwierigkeit bringt.

    Sieben Jahre vor Beginn des neuen Jahrtausends geschah etwas, das mein Leben umkrempelte, indem es mich von innen nach außen stülpte, meinem Dasein eine völlig andere Orientierung gab und mir einen solch dringlichen Auftrag verpasste, dass ich diesen einfach nicht ablehnen konnte. Dabei war ich damals erst fünfundzwanzig Jahre alt, ein glattgesichtiger, unerfahrener Jüngling, der sich zwar neugierig und erwartungsvoll umschaute, aber dem Kommenden ein wenig unbeteiligt entgegensah, als ginge ihn das meiste nicht allzu viel an.

    Meine Schwester Luise stand an einem äußerst gewöhnlichen Donnerstag in einer Telefonzelle, deren panzerartig schwere Tür ich aufhielt, weil es darin muffig roch.

    „Ich habe tolle Möbel für unser Restaurant gefunden. – Keine Angst. Ich werde rechtzeitig da sein."

    Nachdem sie ihrem Mann August die neuesten Entwicklungen geschildert hatte, fuhren wir weiter. Luise war ausgelassen und glücklich. Ich hatte schon immer an ihr gemocht, dass sie sich fallenlassen konnte, als gäbe es keine Sorgen und Gefahren auf dieser Welt. Wobei gerade Luise und August oft in schwierige Situationen gerieten. Leider war bei ihren euphorisch begonnenen Unternehmungen meist einiges gründlich schief gegangen. Wenn sie die Anfangsschwierigkeiten gemeistert hatten, trieb Augusts Spielsucht früher oder später die aussichtsreichsten Projekte in den Ruin. Dennoch konnte Luise in den Zeiten zwischen diesen problematischen Phasen belanglose Begebenheiten freudig genießen, als sei unser Dasein nur ein harmloser, sonniger Nachmittag, den wir wie in Kindheitstagen quietschvergnügt mit phantasievollen Spielen verbrachten.

    „Die Familienfeier war total schön. Endlich mal wieder alle zu sehen. Und dass du mich zurückfährst, rechne ich dir ganz hoch an."

    Mein in die Jahre gekommenes Talbot Samba Cabriolet schnurrte wie eine Katze auf der sonnigen Fensterbank, während ich Luise vom Schwarzwald nach Berlin kutschierte.

    „Dadurch können wir noch ein wenig mehr Zeit zusammen verbringen."

    „Aber es ist doch Prüfungszeit. Wird das nicht zeitlich etwas knapp?", fragte Luise.

    Das war typisch für meine geliebte Schwester. Erst mitten in der Aktion wird ihr das Problem bewusst.

    „Ich fahre gleich heute Nacht zurück, dann bin ich am Freitagmorgen in Konstanz. Die Prüfung ist erst am Dienstag."

    „Du musst nicht die ganze Strecke fahren. Setz mich doch an einem Bahnhof ab."

    „Ich kann mein Schwesterherz doch jetzt nicht allein lassen."

    „Traust du es uns nicht zu?"

    „Doch! Natürlich. Ihr habt ja alles organisiert."

    „Stimmt! Das haben wir."

    Luise drehte sich im Sitz um und lachte: „Und das Auto ist ziemlich vollgepackt. Ich weiß gar nicht, ob ich alles im Zug mitnehmen könnte."

    Natürlich hätte Luise auch mit dem Zug fahren können, aber sie hatte kurz vor der Abfahrt bei einem spontanen Flohmarktbesuch in unserem Heimatstädtchen zahlreiche Gegenstände erworben und dabei betont: „Die richtige Atmosphäre ist für das Wohlgefühl der Gäste entscheidend."

    Da konnte ich ihr nur zustimmen, aber dass sie diese Sachen am Tag vor der Eröffnung ihres Restaurants zufällig entdeckte, war für sie natürlich ein Glücksfall, stimmte mich jedoch ein wenig nachdenklich und die Idee, dass es vielleicht ganz gut wäre, wenn ich Luise begleiten würde, ließ mich daraufhin nicht mehr los. Luise und August wollten seit Jahren unbedingt selbstständig sein und sich aus der „elenden Lohnsklaverei" befreien. Diesmal würden sie es also mit einem Restaurant versuchen. Das war zwar eine nachvollziehbare Idee, denn August kochte leidenschaftlich gern, doch jenes Wissen, dass sie beide nicht besonders gut mit Geld umgehen konnten, drängte sich mir wider Willen auf.

    „Stell dir das nur mal vor. August und ich werden tatsächlich Restaurantbesitzer. Darauf bin ich besonders stolz. Das hat uns niemand zugetraut."

    Ich versuchte meine Besorgnis zu verbergen: „Ach, es gehört euch?"

    „Ja, wir haben es gekauft."

    „Das Restaurant?"

    „Nein, den Mond, lachte Luise. „Natürlich das Restaurant!

    „Das wusste ich noch gar nicht!"

    „Es war ein Schnäppchen. Wir haben es für zweihundertfünfzigtausend bekommen."

    „Eine Viertelmillion! Woher habt ihr so viel Geld?"

    „Hundertfünfzigtausend haben wir bereits, den Rest bekommen wir von der Bank."

    „Wie ist euch das gelungen?"

    Luise streckte mir ihre Hände entgegen. Mir war aufgefallen, dass diese etwas rau wirkten. Sowieso war ich das ganze Wochenende den Eindruck nicht losgeworden, dass meine Schwester trotz ihrer quirligen Energie erschöpft wirkte.

    „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet, jeden Job neben unseren Vollzeitstellen angenommen und etwas von Freunden geliehen. Außerdem hat mir Mutter meinen Anteil am Erbe vorab ausgezahlt."

    Das hörte sich an wie ein Geständnis.

    „Sie macht sich jedoch große Sorgen, dass etwas schiefgehen könnte", fügte meine Schwester nachdenklich hinzu.

    „Und die fehlenden hunderttausend bekommt ihr von der Bank?"

    „Ja, rief Luise fröhlich. „Morgen früh ist der Termin mit dem Berater. Wir unterschreiben den Kreditvertrag, die überweisen das Geld und schon gehört das Restaurant uns.

    „Das geht ja alles ziemlich schnell."

    „Mir wird ganz schwindlig, wenn ich nur daran denke", lachte Luise.

    „Mich würden Schulden nervös machen. Falls der Kredit platzt, ist das Restaurant und vielleicht auch der Eigenanteil weg."

    „Wieso soll der Kredit platzen?"

    „Ich weiß nicht. Aber habt ihr Rücklagen, um die Kreditraten abzupuffern, falls es mal nicht so läuft?"

    „Nein, wir haben so viel für die Ausstattung ausgegeben. Außerdem haben wir einen tollen Weinvorrat angelegt."

    „Ich will dich nicht beunruhigen, aber …"

    „Lass uns das Thema wechseln. Ich hasse es, über Geld zu reden."

    „Kann ich verstehen", stimmte ich zu, war aber keinesfalls beruhigt. Ich musste daran denken, dass meine geliebte Schwester vor zwei Jahren einen Zusammenbruch erlitten hatte, als der Stress in ihrem Angestelltenjob zu groß wurde. Es war schrecklich gewesen, das mit anzusehen und ihr nicht wirklich helfen zu können. Immerhin hatte sie während der darauffolgenden Kur August kennengelernt. Seitdem waren die beiden unzertrennlich. Es war schon außergewöhnlich, dass sie ein paar Tage ohneeinander verbrachten und August nicht mit zur Familienfeier gekommen war. Luise betonte, dass es das erste Mal sei, seit sie sich kennen würden, dass sie länger als einen Tag voneinander getrennt seien.

    „Und wie geht es August?"

    „Wunderbar. Er freut sich, dass es bald losgeht."

    „Hat er die Therapie gegen seine Spielsucht abgeschlossen?"

    „Nein, die musste er verschieben. Wir hatten so viel zu tun. Aber seit dem letzten Desaster hat er keinen Fuß mehr in eine Spielhölle gesetzt. Er weiß, dass mit der Eröffnung unseres Restaurants alles anders wird. Jetzt bin ich aber ziemlich müde. Ist es in Ordnung, wenn ich etwas schlafe? Ich muss morgen schließlich fit sein."

    „Klapp doch den Sitz zurück. Hinten liegt noch eine Decke."

    Während Luise den Sitz zurückstellte, die Decke über sich zog und die Augen schloss, dachte ich daran, wie sie auf dem Flohmarkt enthusiastisch gefeilscht und jedem erzählt hatte, dass dies oder das für ihr Restaurant sei. Sie hatte allen lächelnd eine Visitenkarte überreicht und dabei betont: „Ein Unikat. Handgemalt."

    „Wie lange brauchst du für so eine Visitenkarte?", hatte ich Luise gefragt.

    „So eine halbe Stunde. Aber das mache ich abends."

    Mir gingen Begriffe wie Kosten-Nutzen-Analyse durch den Kopf und ich fragte mich, ob jemand, der auf einem Flohmarkt im Schwarzwald eine Visitenkarte von ihr erhielt, jemals ihr Restaurant in Berlin betreten würde. Luise hatte die Augen geschlossen, ich fuhr durch die Nacht und spürte, wie sehr ich meine Schwester liebte. Sie war mir in so vielen Dingen überlegen, aber sie hatte schon immer Zahlen und Geldangelegenheiten gehasst, was mir nicht wenig Sorgen bereitete, je länger ich darüber nachdachte.

    „Denkst du noch manchmal daran?", drang irgendwann unvermittelt Luises Stimme unter der Decke hervor.

    „Woran soll ich denken?"

    „Als ob du das nicht wüsstest", sagte Luise vorwurfsvoll unter der Decke.

    „Du meinst an früher?"

    „Natürlich. An deine Zeit als Schäferjunge. Ich vergesse nie, wie du, als du dreizehn warst, vor unserer Tür standest. Die Polizei lieferte dich bei uns ab. Nachdem Vater die Schafherde abgegeben hatte, bist du mit dem Hirtenhund abgehauen."

    „Stimmt, aber das ist so lange her."

    „In den Sommerferien wollte ich immer bei euch und den Schafen bleiben. Aber Mama hat es nie erlaubt. Ich war so neidisch auf dich, weil du den ganzen Frühling und Sommer mit Vater draußen warst. Abends musste ich zuhause sein und in meinem langweiligen Bett schlafen, während ihr ein Lagerfeuer angezündet und euch mit den Sternen zugedeckt habt."

    „Das war eine besondere Zeit."

    „Aber manchmal hattest du Schwierigkeiten deswegen. Du hast auch Prügel bezogen."

    „Stimmt, ab und zu gab es Ärger."

    „Einmal sahst du ziemlich übel aus", rief Luise, während sich die Decke bewegte und ihr Kopf auftauchte.

    „Damals haben sie mich richtig durchgebläut. Es war ein Junge, der mindestens einen Kopf größer war und zehn Kilo mehr wog als ich. Er hatte es auf mich abgesehen, weil ich nach Schafen roch."

    „Mutter wollte dich danach da wegholen."

    „Aber ich habe mich geweigert. Was war ich nur für ein trotziger Junge! Ich wollte nicht von diesem freien Leben weg. Im Sommerhalbjahr besuchte ich alle möglichen Schulen, je nachdem, wo die Herde weidete und im Winter waren wir alle im alten Haus versammelt."

    „Dort ist noch immer alles so einfach, so rudimentär. Es ähnelte schon immer mehr einer Burg als einem Haus, meinte Luise schwärmerisch und fragte: „Mutter ist inzwischen fast immer bei Friedhelm und das ehrwürdige Gemäuer steht leer. Bist du noch ab und zu dort?

    „Ich halte es in den Semesterferien instand. Ein paar Reparaturen hier und da. Wäre schade, wenn es verfällt."

    „Die Gegend ist so verträumt, als ob dort seit Jahren die Zeit stillsteht", schwärmte Luise.

    „Es ist ein besonderer Ort."

    „Das Haus gehört doch Vater. Wollte er es nicht verkaufen?"

    „Eigentlich ja, sagte ich zögerlich, „aber er wartet darauf, ob einer von uns es eines Tages übernehmen will, damit es im Familienbesitz bleibt.

    „Das alte Gemäuer?! Du weißt, dass ich kein Interesse daran habe."

    „Sie haben noch nicht einmal die Scheidung eingereicht."

    „Verstehe das wer will. Aber ich hüte mich nachzufragen."

    Luise wechselte das Thema, was typisch für sie war, fuhr mir dabei durch die Haare und zerzauste diese: „Ich hätte nie gedacht, dass gerade du Ingenieur wirst."

    „Wieso?"

    „Weil du seitdem nicht mehr dem kleinen, glücklichen und wilden Jungen mit ungewaschenen Haaren ähnelst, der nach Schafen, Wald und Wiese roch. Stellst du dein Bett immer noch unters geöffnete Fenster, um die Sterne zu sehen?"

    „Ja."

    „Denkst du manchmal noch daran, wie du von klein auf mit Vater durchs Land gezogen bist?"

    „Selten. Ich weiß noch, dass es eine sonderbare und schöne Zeit war. Fast, als wäre es gar nicht wahr gewesen. Es war alles so anders."

    „Hätte Vater nicht von einem Tag auf den anderen die Herde abgegeben, wärst du vielleicht Schäfer geworden und würdest heute mit den Tieren frei durch die Gegend streifen."

    „Meinst du?, fragte ich erstaunt und es war einen Moment lang so, als riefe jemand nach mir, den ich vor langer Zeit kannte. „Ein sonderbarer Gedanke.

    „Weißt du noch, was Tante Simone einmal gefragt hat, als du bei uns gelebt hast?"

    „Nein."

    „Sie hat gefragt, was du einmal werden willst. Mich hat sie nicht gefragt, ich war schließlich nur ein Mädchen. Ich war ziemlich beleidigt deswegen, vielleicht weiß ich es deshalb noch so genau."

    „Tante Simone war schon immer etwas schräg drauf."

    „Du hast ohne zu zögern geantwortet und dabei über das ganze Gesicht gestrahlt."

    „Und was wollte ich damals werden?"

    „Landstreicher."

    „Habe ich das wirklich gesagt?"

    „Ja, hast du!"

    „Verrückt! Und wie haben sie reagiert?"

    „Sie waren entsetzt und haben versucht, es dir auszureden. Was ihnen, wie man sieht, bestens gelungen ist."

    „Interessant. Ich erinnere mich überhaupt nicht mehr daran."

    „Was ist eigentlich mit dir, Brüderchen?"

    „Was meinst du?", fragte ich, obwohl ich genau wusste, worauf sie hinauswollte.

    „Ich habe August. Aber du? Wo ist die Frau an deiner Seite?"

    „Da ist niemand, aber es geht mir gut."

    „Das sagst du immer, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ist da keine, die dich interessiert?"

    „Gerade nicht."

    „Auch das sagst du immer."

    „Ich habe die Richtige einfach noch nicht getroffen."

    „Dann lauf bloß nicht an ihr vorbei, wenn sie vor dir steht", lachte Luise.

    Ein wenig später schlief Luise wieder ein, diesmal so tief und fest, dass sie erst wach wurde, als wir vor dem Restaurant hielten. Hinter den großen Glasscheiben herrschte eine umfassende Dunkelheit, obwohl am nächsten Tag eröffnet werden sollte. August musste also längst alles vorbereitet haben. Meine Bedenken waren unnötig gewesen. Luise war, nachdem wir das Lokal betreten und Licht gemacht hatten, jedoch überhaupt nicht der Meinung, dass alles vorbereitet sei. August fanden wir zwei Stunden später in einer Spielhalle. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass er das gesamte Startkapital verspielt hatte. Luise fragte verzweifelt, wie sie die fehlenden Lebensmittel und Getränke für die Eröffnung bezahlen sollten. Ich erkundigte mich vorsichtig, ob sie nicht per Bankkarte einkaufen könnten. Natürlich hatte August ganze Arbeit geleistet und den Dispokredit restlos ausgequetscht. Sie waren die liebenswertesten Menschen, aber einfach keine Unternehmer und dazu kam noch Augusts überwunden geglaubte Spielsucht. Es war hoffnungslos.

    „Ich hätte nicht wegfahren dürfen", warf sich Luise vor, als wir den reumütigen August ins dunkle Restaurant geführt hatten.

    „Ein paar Hunderter, die ihr für die Eröffnung braucht, kann ich vorstrecken."

    „Aber der Lohn für die Bedienung", warf August folgerichtig ein, der nun, nachdem er alles verspielt hatte, geradezu übervernünftig argumentierte.

    „Wir wollen morgen Abend eröffnen. Die Werbung ist geschaltet, und wir haben unsere Freunde eingeladen. Das Restaurant ist von Freitag- bis Sonntagabend ausgebucht", fasste Luise verzweifelt zusammen.

    „Also kellnern wollte ich schon immer, ich kann das übernehmen, dann spart ihr euch den Lohn, und mit den Einnahmen aus den ersten Tagen finanziert ihr alles Weitere."

    „Kannst du das überhaupt?", fragte mich Luise kritisch.

    Führte sie jetzt etwa ein Vorstellungsgespräch als toughe Unternehmerin, die etliche Bewerber zur Auswahl hatte? Das war dann doch etwas unheimlich.

    „Klar. Darin habe ich Erfahrung", log ich. Immerhin hatte ich bei der letzten Wohnheimparty an der Kellerbar Dienst geschoben.

    „Aber du musst doch aufbrechen. Deine Prüfung."

    „Die ist erst am Dienstag. Am Montagnachmittag ist eine Labor-Pflichtveranstaltung. Also kann ich am Sonntagabend nach Restaurantschluss zurückfahren, Montag früh zu meiner Lerngruppe stoßen, nachmittags gehe ich ins Labor, danach schlafe ich mich aus und schreibe am Dienstag die letzte Prüfung des Semesters."

    Luise lächelte einige Momente nachdenklich-verhalten, dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht, und sie fiel mir um den Hals. August tat mir leid, er grinste schief und fühlte sich sicherlich schrecklich.

    An einem eisigen Freitagmorgen fuhren Luise, August und ich zur Bank. Herr Kleinschmidt war eine seltsame Person. Er schien sprichwörtlich nur aus Zahlen zu bestehen. Als ob diese seinen Charakter ausmachten und ihm sein Beruf alles bedeutete. Er rasselte die Inhalte und Bedingungen des Vertrages herunter. Wir konnten nach der anstrengenden Nacht kaum mehr die Augen offenhalten, obwohl uns Kaffee in Tassen, auf denen das Emblem der Bank aufgedruckt war, vorgesetzt wurde. Es war eine bizarre Veranstaltung in diesem Hinterzimmer eines prächtigen Finanzhauses. Auch wenn es die allerbesten Konditionen seien, wie uns Herr Kleinschmidt immer wieder versicherte, mussten doch sein Gehalt und die Miete dieses neuzeitlichen Tempels bezahlt werden. Wovon? Von den allerbesten Konditionen? Es hörte sich fast so an, als ob die Bank mit diesem Kredit einen Verlust machen würde. Das war schwer zu glauben. Außer sie nahmen andere Kunden aus und waren großzügig mit Luise und August. Aber warum sollten sie das sein? Gerade mit meiner Schwester und ihrem Mann, die in geschäftlichen Dingen sehr unerfahren waren. Wurden sie hier zur Schlachtbank geführt, ohne es zu ahnen? Wir saßen steif da, trauten uns nicht, irgendetwas zu fragen und nippten am lauwarmen Kaffee. Endlich durften Luise und August an mehreren Stellen den Kontrakt unterschreiben, was sie taten, ohne diesen durchzulesen. Wir waren irgendwann nur noch froh, dass die Veranstaltung auf ein Ende zusteuerte.

    „Sie haben Glück, meinte Herr Kleinschmidt abschließend. „Gerade noch rechtzeitig. Bald treten neue Richtlinien in Kraft, dann könnte ich Ihnen einen solch vorteilhaften Kredit nicht mehr anbieten.

    „Da haben wir wirklich einmal Glück gehabt", meinte Luise und

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