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Pro tribunal: Wenderoman Band II
Pro tribunal: Wenderoman Band II
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eBook863 Seiten11 Stunden

Pro tribunal: Wenderoman Band II

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Über dieses E-Book

Drei apokalyptische Reiter ritten den Osten samt neuem Gesellschaftssystem in den Sumpf; einer hat die DDR ruiniert, einer verriet sie, und dann wurde sie beseitigt. Dieser These stimmen ebenso viele Zeitzeugen zu wie ihr widersprechen.
Authentisch-biografisch geht dieser Roman ihr nach - akribisch, minutiös und ehrlich. Ein junger Mensch wird kurz vor der Wende regulär zur Armee eingezogen, durchlebt in Berlin an der Nahtstelle der zwei Weltsysteme die Tumulte 1989 und 1990, und parallel vollzieht sich verdeckt und wirksam Weltpolitik von Washington bis Moskau, von Bonn bis Berlin. Anhand umfassend-relevanter Zeitzeugnisse entrollt sich das komplette "Wende"-Panorama. Erklärungen und reale Hintergründe vor dem unbestechlichen Blick der Fakten werden sichtbar und gewogen - und in Zusammenhang gestellt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Juni 2021
ISBN9783347310469
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    Buchvorschau

    Pro tribunal - Arno Legad

    Vierter Satz

    Drei Hexenküchen

    Im Fernsehen wurden Debatten beschaut. Debatten, Debatten, immer nur Debatten! Bestand denn die Wende aus nichts anderem? Die chronologistische Zeitmaschine ist auf Protokoll gestellt. Da bot die Wende wohl wenig Handfestes – so epochemachend sie auch war. Aber unser Teufel sitzt im Detail. In welchem Detail sitzt er denn? Wie genau soll man, kann man nach diesem suchen? In welcher Hexenküche? Soll man die Zeitmaschine auf ‚Vergebene Chancen’ stellen? Diese gab es ungezählt, wie zu besehen stand. Und sie sind noch nicht vorbei. Soll man auf Weltwirkung stellen? Die Skala ist breit, aber der Zeiger schlägt fast ganz aus.

    Wie: Die kleine DDR und deren Fallen hätten… Weltwirkung?

    Oder soll man lieber weit zurückdrehen und wieder die solidere Basis besichtigen, auf der – zunächst nur ganz klein und fast unmerklich – Fehlerhaftes, Falsches keimte und auswuchs und wucherte? Wucherungen beeinträchtigen. Sie nehmen Luft und Raum und zerstören, töten schließlich.

    Dies ist dem kapitalistischen Demolierer des DDR-Ladens nun nicht gut vorzuwerfen. Soll man folglich die Theorie ins Auge fassen? Diese wäre wohl der Gradmesser von recht oder schlecht. Der Zeiger im Instrument „Revisionismus", zittert, bebt und schlägt einigermaßen deutlich aus.

    Ist es nun das? Die Abkehr von Marx’, Engels’ und Lenins Lehre?

    Das danebenliegende Instrument „Zielklarheit" zeigt auf Null.

    Fast unbeweglich ruht der Zeiger. Hierbei scheint zu beachten, dass der alte, klassische Revisionismus, die Abkehr von den glasklar sauberen philosophischen oder nicht-mehr-philosophischen Fundamenten von Marx’ und Engels’ Gesellschaftslehre, und die Abkehr darauffolgend von Lenins Partei- und Revolutionskonzept und seiner Imperialismus-Analyse, ein sehr klares Ziel vor Augen hatte: Die zur Hölle zählende Sozialdemokratie nahm seinerzeit für sich in Aussicht, der herrschenden Klasse angedient zu sein und stimmte für den imperialistisch-kapitalistischen Massenmord des Ersten Weltkrieges. Sie mordete deren Gegner Luxemburg und Liebknecht sehr gezielt. Sie gestaltete ihren Weg zur Machtteilhabe sehr bewusst und sehr gewollt.

    Nun: Unser Zielklarheit-Zeiger der Wende ruht doch!?

    Honecker sitzt wohl auch in der sozialdemokratischen Hölle. Er sitzt jedoch dort falsch. Die Hölle ist des Sortierens überfordert, so korrespondabel ihre Bewerber einander auch stehen. Denn nach der Wende – legen wir den Hebel einfach kurz um – sehen wir den Honecker sehr aufrecht vorm klassengegnerischen Gericht. Trotzdem er sein Todesurteil schwerer Erkrankung wegen in den Händen hält, verteidigt er aufrecht seinen Staat, dessen Menschen und ihre sozialen Rechte. Noch einmal wollte und musste er Haltung beweisen, musste auch der Schlipsknoten perfekt sitzen.

    In diesen späten Tagen schreibt Honecker ein Buch und äußert dort: „Normale Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, dem sozialistischen und dem kapitalistischen, zum Wohl des Friedens und ihrer Bürger zu entwickeln, das war für uns ein vorrangiges Ziel."

    Ein rotes Lämpchen glüht, ein Warngong ertönt. Der Revisionismus-Zeiger schlägt heftig an die Obergrenze: Wie kann ein kapitalistisches System für Menschen „normal" genug sein? Man werfe einen kurzen Blick auf die Zielklarheit: Der Zeiger bewegt sich sanft und rückt ein Stücklein.

    Doch ist dies nach der Wende. Schalten wir wieder zurück. Ganz genau besehen, zuckt der Zeiger auch hier leicht nach rechts.

    Doch Krenz wollte – ebenso wie Honecker – sehr deutlich den sozialistischen Staat erhalten, gut, gut… das was er darunter verstand, und das was davon noch war. Von gezielter Ab- und Umkehr kann also wenig Rede sein. Schulterzuckend-ungewiss stellen wir auf Einzelansichten der breiten Mehrheit. Die Instrumente beben etwas und ändern sich nur leicht. Im Revisionismus-Feld pegelt die Anzeige im unteren Drittel, mal mehr oder weniger – je nach Namen. Major Mainz’ Anzeige ist insofern sauber. Sauber ist die von Frau Meier und Herrn Kunz, von Arndts Schwester Ina, von Kriminalhauptmann Borseck, von Schaltmeister. Auch eine uns unbekannte Annelies Happelt, die unversehens erscheint, von Beruf Köchin, hält wenig von der Unwissenschaftlichkeit und Abkehr von Marx und Lenin. Sie hätte wohl gern mehr davon: mehr Wissenschaftlichkeit und Gesellschaftsplanung anstatt langweiliger Phrasen.

    Aber die Zielklarheit! Sie ist wohl völlig stillgelegt!

    Ist das Instrument kaputt? Stellen wir auf die Entscheidungsfunktion: Was gibt den Ausschlag? Welchen Anteil nimmt welche Einstellung? Was siegt, was setzt sich durch: Menschen-Freundschaft, Zuneigung und Fürsorglichkeit …oder Egoismus und Bosheit und Ignoranz… Barbarei?

    Was entscheidet? Wer obsiegt? Wer übertrifft wen? Wer – Wen? Das Messinstrument zeigt eine Balance an, bei der Wende wie generell, eine scheinbar ewige Balance – so wie die Balance innerhalb eines beliebigen Menschen ausschauen mag. Es sind also die kleinen, knappen Ausschläge welche jede Zeit unbewusst prägen und vorwärts jagen, wenn das kollektive Bewusstsein fehlt – wie im realen Sozialismus. Dies sind die ganz kleinen Momente, die Krenze, die Zufälle. Es ist nicht unbedingt der Flügelschlag eines Schmetterlings, aber so sehr viel mehr ist es auch nicht. Krenz wurde von Honecker in Urlaub geschickt. Statt seiner durfte Mittag ihn vertreten. Der gekränkte Egon schritt zur Ablösung, nahm Honeckers Platz und rührte statt der notwendigen sozialistischen Wende eine Chaos-Wende ein, legte den Laden lahm und überließ ihn wehrlos dem Gegner, seinem Tod. Ohne diese Urlaubsvertretungs-Gekränktheit bestand die Wahrscheinlichkeit einer krenzlosen Übernahme durch einen gewissen Hans Modrow und zumindest die Möglichkeit seiner darauf folgenden Ablösung wegen offen konterrevolutionärer Umtriebe. So jedoch waren bald alle sich darin einig, von links außen bis sonstwohin, den sozialismustreu scheinenden aber zögerlich-ungeeigneten Egon überhaupt ersetzt zu sehen.

    Diese unnatürliche Einigkeit verhinderte die überaus nötige Sortierung der Kräfte. Sie verzerrte und verfälschte die Klassenfront. Achtung! Vorsicht! Um die Ecke kommt der kaputte Thomas Arndt!

    Was will er hier? „Was willst du?"

    „Leise! Ich will schauen, schauen will ich. Was ist denn das für ein Raum da drüben? – „Dort liegen die Hexenküchen der Geschichte, gleich nebenan. Sieh dich nur vor! Wer ist denn das, den du da bei dir hast?

    „Ach, das ist nur der Schaltmeister. Vielleicht gibt es was zu tun für ihn."

    „Dass du nur die Maschine nicht kaputtmachst! Sie ist jetzt auf Protokoll gestellt…"

    Nahezu festlich strahlte der Plenarsaal im Palast der Republik. Der neue Staatschef war demokratisch von der Volkskammer gewählt, zum Staatsratsvorsitzenden bei sechsundzwanzig Gegenstimmen und sechsundzwanzig Enthaltungen, und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates sogar nur mit acht Gegenstimmen und siebzehn Enthaltungen. Diese Abstimmung reflektierte die Unstimmigkeit der Situation in jederlei Hinsicht. Hartmut Jost, Abgeordneter der LDPD-Fraktion, dachte als er die Hand gegen Krenzens Wahl zum Staatsratsvorsitzenden erhob: „Auch dieses Ergebnis ist typisch für uns alle! Die Mehrheit stimmt für Egon Krenz. Aber nicht für ihn persönlich, sondern weil es so vorgesehen ist. Ich persönlich stimme nicht gegen Egon Krenz persönlich, halte ihn für eine ehrliche Haut. Ich stimme dagegen, dass nahtlos und ohne nachzudenken einfach das Einfachste getan und platt jemand eingesetzt wird, den nichts aber auch gar nichts zu diesem Amt prädestiniert, dessen Eignung eher sehr unklar ist. Und ohne einen einzigen Gegenkandidaten. Wir stecken mit diesem Land in einer schwierigen Situation. Und jetzt wird derjenige gewählt, welcher genau daran eine deutliche Aktie daran hat! Und nur deshalb weil bislang sein Anteil daran statt an erster Stelle nur an zweiter steht. Man muss doch dagegen stimmen, dass alles einfach genauso bequem gehandhabt wird wie bisher! Tolles Ergebnis! Sechsundzwanzig Gegenstimmen! Es ist keine deutliche Bestätigung für den Krenz der neu ist, aber nicht für Neues steht. Es ist aber auch kein Votum gegen diesen. Es ist ja völlig unstimmig! Es ist ja eigentlich gar keine Entscheidung – weder pro noch kontra.

    Jost wunderte sich über seine liberalen Fraktions-Kollegen. Wozu sitzen sie hier? Was sollte die interne Fraktionstagung, um uns über den Wahlvorschlag abzusprechen? Bei der LDPD stehen wir für freiheitliche Werte. Aber nicht einmal wir sind uns einig, was Freiheit überhaupt ist. Ist Freiheit diejenige Egon Krenz zu wählen, also Unsinn zu treiben? Oder ist die Freiheit für die Krenz jetzt wirbt, die Freiheit ihn nicht zu wählen? Was ist Freiheit? Wo wir doch übereinstimmend gern Manfred Gerlach als Staatsratsvorsitzenden gesehen hätten! Es wäre auch völlig legitim!? Wir anerkennen doch die Verfassung! Wir haben doch der SED x-mal ihre führende Rolle bestätigt! Wir hätten doch jedes Recht, verdammt, einen Gerlach als Staatschef zu sehen! Aber wieder treten wir nur als Anhängsel der SED auf.

    Kurz fuhr ihm durch den Kopf: Unstimmig… unstimmig: Wie kann Gerlach Staatschef sein, wenn die SED die führende Rolle innehat? Unwillig wischte er diesen Gedanken beiseite. Dann muss eben die SED jemand anbringen, der überzeugt! Kann sie ja nicht! Die haben ja nur diese Kanaille Krenz! Und wieder läuft es glatt und schematisch ab. Nicht ganz so schematisch, denn es gab Gegenstimmen und Enthaltungen. Aber das ist ja eigentlich noch schlimmer! Was soll die Welt von einem Abstimmungsergebnis halten, wo über Veränderungen entschieden wird – und eine kleine Minderheit verhält sich anders als gewohnt?

    Nach der Tagung rief er seine Frau an: „Marianne, ich bin sauer.

    Es gab nur sechsundzwanzig Gegenstimmen. Ich geh noch mit Rainer und dem Johannes Hahn im Palasthotel ein Bier trinken… Ja, Johannes Hahn, der Friseurmeister. Und bei Krenz’ Wahl zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates gab es acht Gegenstimmen."

    „Kannst du mir das nicht nachher erzählen?"

    „Ach, das ist mir egal… Was ist daran geheim? Nachher kommt es sowieso in den Nachrichten. Das ist ja alles absurd! Acht Gegenstimmen! Scheiße! Man zwingt mich zur Stimmabgabe wo es um den Schutz unseres Staates geht, völlig ungeachtet dieses Schutzes, nur um zu demonstrieren, dass ich gegen diese Durchwinkerei bin, wodurch ich diesen Staat vor dem endgültigen Versumpfen retten will. Und ohne dass ich im Mindesten weiß, ob der Krenz als Vorsitzender des Verteidigungsrates irgendeine Fähigkeit mitbringt! Falls es so ist und ich es nicht weiß, dann stimme ich gegen den Staat, indem ich für ihn stimme… Mir reichts! Also, bis nachher."

    „Hannes, sagte er auf dem Weg zum Hotel. „Ich glaube, es ist die Stunde der Friseure! Der ganze Bewuchs da oben muss weg. Am besten wäre ein Kahlschnitt!

    Hannes grinste. „Mit dir? Fraktionskollege Rainer hob die Hand. „Langsam! Langsam! Ich versteh dich schon. Aber wo soll es enden? Krenz ist sicher nicht geeignet. Aber er ist nun mal das Nächstliegende. Ein bisschen Berechenbarkeit ist vielleicht auch was wert. Wir sitzen mit der DDR fest. Aber alle waren doch seltsamerweise bis vor ein paar Tagen im Großen und Ganzen zufrieden. Die SED ist laut Verfassung führende Kraft. Bisher hat sich niemand daran gestört, deren Vorschläge anzunehmen. Wir sind nun mal in einem Block. Wenn es keine Vorschläge und keine offenen kritischen oder kontruktiven Debatten mehr gab, kannst du dich auch selber fragen, warum du nicht das Wort genommen hast.

    Friseurmeister Hahn ergänzte: „Die SED hat intern die Aussprache und das Beraten untereinander verlernt. Und wir haben’s eben mit verlernt. Wir haben uns führen lassen. Aber ich finde, der Raspe hat recht, wenn er für unsere Fraktion sagt, dass wir uns alle unabhängig machen müssen von Einflüsterungen, derer die es nicht gut mit unserem Land und mit dem Sozialismus meinen. Und die SED… In der Verfassung ist es nun mal so geregelt. Die müssen selber wieder zu sich finden. Und wie ich dich kenne, willst du die DDR-Verfassung und die ganze DDR nicht gerade abschaffen."

    Jost knurrte. „Was heißt das schon… das will keiner. Aber führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei? Ich kann’s nicht mehr hören! Die ist doch gar nicht marxistisch-leninistisch !"

    Die beiden anderen lachten. „Dann, so sprach Friseurmeister Hahn, „musst du die LDPD verlassen und unter der alten Fahne eine neue marxistisch-leninistisch Partei ins Leben rufen! Nun lachte auch Jost wider Willen, sich unter einem Banner mit Marx, Engels und Lenin sehend.

    „Bis du also gegen die… führende Rolle?" fragte Rainer.

    „Zum Henker mit ihr!"

    Johannes Hahn redete: „Aber wenn du wirklich alle Haare abschneidest, kann ich dir aus fachlicher Erfahrung sagen, die wachsen wieder nach. Es ist ganz egal, ob SED oder LDPD! Die wachsen ganz genauso wieder nach, glaub mir!"

    „Es sei denn –, setzte Rainer fort, „du schlägst den Kopf ab. Ohne SED und ohne DDR bist du dann das Problem los.

    Jost stutzte. Dies ist doch keine Option! „Dann bin ich’s auch nicht los! Wahrscheinlich wird es dann eher schlimmer. Wir müssen einfach diese führende Rolle, die ja in Wirklichkeit keine mehr ist, beseitigen. Dann können sich die Ideen im freien Wettbewerb messen!"

    Rainer schüttelte den Kopf. „Vielleicht hast du recht. Aber… Übrigens müssen wir nicht vor der Tür stehenbleiben."

    Man trat durch die Glastür. Ein Herr in dunklem Anzug eilte ihnen entgegen. „Tut mir sehr leid, meine Herren! Bitte, ich bin der Empfangschef. Wir erwarten gerade…. Er sah genauer hin. Die drei zogen Abgeordnetenausweise hervor. Der Empfangschef wurde beflissen. „Ja, also dann – Bitte sehr!

    An einem damastüberdeckten Tische nahm man Platz, vor einer gewaltigen Grünpflanze.

    „Volkskammer!" erklärte der Empfangschef der Kellnerin.

    Diese zuckte die Schultern und brummte: „Privilegien! Mist! – „Das sehen Sie falsch, Kollegin! Die beraten wichtige Fragen des Landes.

    Sie nickte und nahm nickend die Bestellung auf. „Berliner Pilsner zu den wichtigen Problemen!" knurrte sie für sich.

    „Aber, setzte Rainer fort, „du übersiehst eines: Wir sind für liberale Werte im Sozialismus, aber eben im Sozialismus! Das ist der springende Punkt! Wir sind von Hause aus nur Beigabe, können es auch nur sein. Das heißt, da Sozialismus an sich freiheitlich ist, können wir sehr wohl sozialistisch sein, müssen es sogar. Wir haben die Aufgabe, uns auf allgemeine Lockerheit und weitere Freizügigkeit zu konzentrieren, so wie die Bauernpartei auf die Landwirtschaft. Gesellschaftswissenschaft ist nicht unsere Aufgabe. Die SED bildet die Klammer. Ohne sozialistische Partei kein sozialistischer Staat. Das wird dann alles genauso schlecht oder gut wie sie eben sind! Die haben immer die führende Rolle, ich meine ganz naturgegeben, ganz objektiv.

    Jost sah ihn neugierig an. „Wieso? Da hätte ich gern einen Beweis."

    Rainer ließ sich Zeit. Das Bier kam. „Prost! Auf die Verfassung!"

    Unwillig stieß Jost an. „Von mir aus. Also?"

    „Die Lösung ist einfach", behauptete Friseurmeister Hahn.

    „Kopf-Pflege! Vorsichtig kürzen und regelmäßig zum Friseur!"

    Jost wandte sich an Rainer. „Also?"

    „Gut. Du kriegst deinen Beweis. Wenn du die Führung der SED aus der Verfassung nimmst, dann entscheidet die Geldmacht, nicht mehr die Volksmacht. Dann ziehen kapitalistische Zustände ein. Dann bleibt von der DDR nicht viel. Wie hast du dich bisher im Parlament verhalten? Eigenständig? Ja, ja, wir haben Anträge formuliert. Es wurden Entwürfe von uns mitverwendet. Die sind eingeflossen. Aber ehrlich gesagt, wurden es immer weniger. Auf die Prozesse im Parlament haben wir zuletzt genauso wenig Einfluss genommen wie die Abgeordneten der Bauernpartei oder der FDJ. Wer hat hier wen geführt, besser gesagt verführt? Die Trägheit der SED hat uns mitversumpfen lassen! Und andersrum: Die Wende jetzt ging doch nicht von uns aus. Nicht wir haben die SED mit unserer Tatkraft aufgeweckt. Nicht wir haben das Land aufgerüttelt. Oder? Die Wende hat die SED selbst verkündet."

    Abends berichtete Jost seiner Frau. „Natürlich habe ich bei allen drei Funktionen dagegen gestimmt! Ich ordne mich doch keiner Führung der SED unter!"

    Marianne legte Wäsche weg und schloss den Schrank. „Und wie, fragte sie, „hättest du abgestimmt, wenn die Wende nicht gewesen wäre?

    Jost knurrte und schaltete Fernseher ein. Er besah in „Aktuelle Kamera, wie auch die anderen Parteivertreter die Wahl Krenzens unterstützten; er räumte sich selbst ein, dass deren Aussagen etwas für sich hatten. Für die Nationalen erklärte Günter Hartmann, es sei „wichtig, dass die DDR wieder verhandlungsfähig werde. Deshalb sei man „zu diesem Zeitpunkt für diese rasche Entscheidung".

    „Egon Krenz – so Erwin Binder von der DBD – „spricht für Kontinuität.

    Hier knurrte Jost kurz, lauschte dann aber aufmerksam; „…spricht für Sozialismus. Dieser Sozialismus, fuhr der Bauernchef fort, „der auf das Wohl des Menschen gerichtet ist, hat uns viele Errungenschaften gebracht. Wir möchten diese Errungenschaften wahren, weiter entwickeln.

    Das alles klang einfach sehr ehrlich. Es war gut nachvollziehbar, insbesondere bei den Bauern. Auch die CDU stärkte Krenz den Rücken. Dies klang nicht nur am eloquentesten, sondern etwas doppelbödig: „Es geht darum, bemerkte der Christenfunktionär, „den Mann, der die Wende herbeigeführt hat, der den Mut gehabt hat, die Probleme auf den Tisch zu legen, derjenige der auf die Bevölkerung zugegangen ist, derjenige der ohne Unterschiede der Glaubenshaltung und der religiösen Einstellung gesagt hat; wir müssen miteinander diskutieren, der die verkrusteten Haltungen aufgebrochen hat zwischen Staat und Kirchen, und damit auch einen Neuanfang aufgemacht hat, der auch gerade in der letzten Zeit beruhigend auf die Entwicklung eingewirkt hat… Ein sanftes unbeabsichtigtes Lächeln zuckte um den Mund des Christpartei-Vertreters, „und gesagt hat; Dialog ja – aber mit dem Ziel… Das Lächeln breitete sich unversehens aus und erstrahlte übers ganze Gesicht, „dass wir voran kommen, gut arbeiten. Und das ist eigentlich eine Voraussetzung, die wir alle mit schaffen wollen, jeder in seinem Verantwortungsbereich.

    Dieser Repräsentant des Glaubens im Sozialismus konnte seinen eigenen Satz nicht stringent vollenden. Hier fehlt wohl etwas an Sprachverständnis. Sprache ist Denken. Vielleicht nehmen wir es an. Hartmut Jost bemerkte solches nicht. Er dachte auch nicht daran, dass die „verkrusteten Haltungen" in Kirchenfragen bekanntlich bereits von Honecker aufgebrochen waren, soweit vorhanden.

    Er sah Egon Krenz zum Erklingen der Nationalhymne die Ehrenwache abschreiten. Unmittelbar darauf nahm er ein kurzes Bad in einer Menge von Berlinern, die gutes Gelingen und Gesundheit wünschten.

    Das war die eine Seite, die nicht den Ausschlag gab. Den Ausschlag gab aber auch die andere nicht. Diese demonstrierte abends und skandierte abermals laut: „Egon allein darf nicht sein! Modrow muss rein!"

    Die unsichtbare aber ausschlaggebende Seite zu besehen, muss nun die erste Hexenküche betreten werden.

    Vorsicht! Leise! Wir kennen die Namen nicht, aber da saß die Runde. Der Hexenkessel brodelte. „Wir haben jetzt leider, sagte jemand, „eine Situation, wo nach der allgemeinen Öffnung und nach dem breiten Dialog da drüben niemand in Zweifel zieht, dass es gezielte Provokationen und Angriffe durch die Demonstranten gegen die Sicherheitskräfte gab.

    „Wieso?" fragte eine andere Hexe.

    „Weil die ursprüngliche Zahl von einhundertsechs verletzten Polizisten jetzt bestätigt wurde. Dem steht eine Zahl von nur sechsundvierzig verletzten Demonstranten gegenüber. Und da ist schon alles mögliche dabei, von leichter Übelkeit bis Kopfschmerzen. Mehr konnte man nicht dazu erfinden. Wir hätten unsere Leute nicht ganz so wild aufstacheln sollen, gegen Polizisten loszugehen. Zumal wir ja wussten: Es wird irgendwann durchsickern, dass da keine Waffen eingesetzt werden dürfen. Verstehen Sie?" Die Hexen schwiegen eine Weile.

    „Man kann es immer noch als Propaganda abtun", sagte ein anderer.

    „Das kann man eben nicht mehr! Die haben nun mal diese neue Offenheit jetzt. Die wird von niemandem in Frage gestellt. Jeder merkt doch, dass es keine Konzeption mehr gibt, dass da alles durcheinander läuft, dass jeder sagt was er will. Dass der Krawall von unseren Leuten ausging, ist ja eindeutig! Jetzt wird klar, dass die Polizisten verdroschen wurden und nicht umgekehrt, aber in den Fernsehnachrichten thematisieren die das gar nicht. Sondern die entschuldigen sich lang und breit. Oder sie bringen, dass Polizisten sich entschuldigen sollen. Jetzt werden Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingeleitet und so weiter. Also gibt es gar keine Kontrolle mehr über die Medien! So ungeschickt die sind: Das einzige was da jetzt zählt, ist die nackte Wahrheit. Das merken die doch alle."

    „Und weil es jeder merkt, glaubt keiner an Manipulationen, bemerkte ein anderer betrübt. Kurzes dumpfes Grübeln. „Es gibt immer verschiedene Wahrheiten! Was haben wir denn? Irgendwas hat man doch immer!

    „Wir haben nur diese Frau, die irgendein Polizist unsittlich berührt haben soll. Wenig genug."

    „Das muss reichen! Wir haben das im Heute-Journal ganz groß aufgemacht: ‚Sexuelle Übergriffe auf weibliche Demonstranten! Frauen mussten sich nackt ausziehen und Polizisten haben sie auf die Geschlechtsteile geschlagen!’ Das muss reichen! Dagegen können sie protestieren soviel sie wollen. Wir gehen noch einen Schritt weiter. Wir legen es sogar darauf an, dass sie ihren Protest zurückziehen! Denn unsere Zeugin ist stabil!"

    Ein Schmunzeln breitete sich aus. „Die glauben lieber unseren Zeugen als ihren eigenen. Was haben wir noch? Jemand aus der Runde zog einen Zettel hervor. „Die Losungen für die aktuellen Demonstrationen… Die müssen so angelegt sein, dass sie noch nicht zu offensichtlich sind. Das mit dem ‚Modrow muss rein’ soll aber möglichst bald zurücktreten. Der kommt schon rein. Das ist in Moskau schon vorgekocht. Dann muss man weiter sehen. Ein aktueller Spruch heißt: ‚Demokratie – Jetzt oder nie! ’

    „Noch was anderes?"

    „Ja: Bonzen raus – Arbeiter rein! Das wird gut angenommen. Die Leute brüllen es in Berlin ganz schön laut. Das mit dem Begriff ‚Bonzen’ aus Führers Zeiten macht sich immer wieder gut, was? Die Hexen schmunzelten. „Der Kern ist natürlich die Forderung ‚Arbeiter rein!’ Das ist ein kleines Zugeständnis an den real existierenden, oder wie das Ding heißt. Später weiß kein Mensch, dass da ja sowieso die Arbeiter in der Volkskammer sitzen, und bei uns nicht.

    Dies wurde ein kleiner Schenkelklopfer, aber so war’s. Im DDR-Parlament saßen einfache Arbeiter. Der spätere kapitalistische deutsche Bundestag ist nur ein Scheinparlament: Unter hunderten Abgeordneten dieses Bundestages gab es dann sieben einfache Arbeiter. –

    „Die Idee mit dem Ruf: Auf zum Brandenburger Tor! hat nicht funktioniert. Das war noch zu früh, sprach eine Hexe. „Die Demonstranten hatten kein Interesse. Wir müssen jetzt sehen, dass die Demonstrationen nicht abebben. Diese Demos verunsichern die total. Immer neue Schilder mit irgendwelchen Forderungen unter die Leute!

    „Was ist mit dem Modrow genau? Ist das unter Kontrolle? Nicht, dass der das Ding wieder umbiegt?! Von zwei Seiten winkte man ab. „Kein Grund zur Sorge! Das ist einer – der versteht die Dinge zu nehmen. Nennt man den Sozialdemokrat, würde er lächeln. Nennt man ihn Kommunist lächelt er genauso. Nennt man ihn Stalinist, dann geht er die Wände hoch, obwohl er mal zu Stalins Zeiten ausgebildet wurde. Der weiß, wohin die Reise geht. Der macht keine Späne. Ein paar mehr wie Modrow – und wir hätten überhaupt kein Sozialismus-Problem auf der Welt.

    Über der zweiten Hexenküche steht angeschrieben ‚Leningrad’. War nicht von Moskau die Rede? Es ist eine kleine Küche mit einem kleinen Kessel, es sitzen nur zwei Hexen. Mit einem Lächeln und ganz allein hätte Snetkow die Küche für alle Zeit ausgeräumt. Diesen Schalter ließ der Krenz nicht drücken. Im Kessel gärt es; dick und dünn, grob und fein. „Wir haben mit Genossen Modrow nie offziell gesprochen, Genosse Solowjow, erklärte ein stämmiger Mann mit silbriger Krawatte. „Das war so abgesprochen, und es bleibt dabei. Der KGB hat alles eingeschätzt und die Konsequenzen gezogen. Unser ursprünglicher Drei-Stufen-Plan muss nicht groß variiert werden. Die Dinge werden sich gewissermaßen von selbst regeln. Krenz hat auf eigene Faust überraschend gehandelt und sich in letzter Minute an den Generalsekretär der KPdSU gewandt, aber nur zur Absicherung. Das ist bezeichnend für seine Politik. Seine Entscheidungsebene ist dual, schwankend. Es läuft alles unsortiert und undurchdacht. Deshalb wird er sich kaum lange halten können. Michail Sergejewitsch hat das berücksichtigt.

    „Was waren die drei Stufen nochmal?"

    „Honecker weg. Zweitens den im Westen anerkannten Reformer Modrow ran, und zuletzt… aber das ist noch nicht aktuell." Der kräftige Mann stand auf und ging zum Fenster. Es war ein graudunstig-trüber Tag.

    „Hier herrscht immer eine eigenartige Stimmung, ganz und gar einmalig auf der Welt. Diese ewige Klassik. Diese Weite."

    Das Glockenspiel von Peter-und-Paul erklang. Der traditionelle Kanonenschuss erscholl. Über der Newa schwamm leichter Nebel.

    „Was hat diese Stadt nicht alles mitgemacht und durchgemacht! Und dann entwickeln wir uns alle zu Händlern. Eigentlich schade. Ich glaube, die Leningrader würden uns zur Stadt hinausjagen, wenn sie alles wüssten. Aber die Menschen wissen nicht. Hier genausowenig wie in Berlin. Es hat keinen Sinn sich zu grämen. Der Mensch kann ebensowenig allein von Stimmung leben wie ein Land. Er drehte sich um. „Ich wiederhole, es gab keine offiziellen Kontakte. Aber ich hoffe, Sie haben die Auffassung von Genossen Gorbatschow verdeutlicht?

    Der Erste Gebietssekretär Juri Solowjow nickte.

    „Was genau haben Sie mitgeteilt?"

    „Ich habe durchblicken lassen, dass er der kommende Mann sein wird, sobald die Zeit reif ist. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe ihm gesagt, er möge sich so verhalten, dass er für das Politbüro und für weitere zentrale Positionen annehmbar erscheint, auch als Generalsekretär. Er geht natürlich davon aus, dass der Impuls irgendwoher kommt und nicht von ihm selbst. Der KGB-Mann lächelte. „Wir finden Mittel und Wege. Das ist doch klar. Manfred von Ardenne in Dresden hat schon einen kleinen Vorstoß bei Krenz gestartet. Leider ist der Genosse Modrow in der DDR gar keine so große Nummer wie er vom Westen dargestellt wird. Viele kennen ihn wohl gar nicht. Aber es gibt gezielte Manöver, um die Forderung nach Modrow in die Öffentlichkeit zu bringen. Und dort taucht das auch schon auf. Wir bauen ihn systematisch zum großen Hoffnungsträger auf. Er überlegte kurz. Zuviel mochte er nicht verlauten. „Machen Sie ihm klar, dass Michail Sergejewitsch auf ihn setzt!"

    Der Kessel brodelt. Es gibt, je weiter man angestrengt ins Dunkel blickt, offenkundig unzählbar viele Hexenküchen! Über der dritten Hexenküche – es gruselt schon zur Genüge, mehr wollen wir dann gar nicht sehen – finden wir angeschrieben: Haus der Jungen Talente zu Berlin.

    Was will der Thomas Arndt schon wieder hier? „Schauen will ich! Schauen, wie das Jugendfernsehen Elf-99 eine große Diskussionsrunde überträgt von Bürgern eines Landes zu eben diesem Lande, ungeschminkt und unzensiert, völlig offen und ohne irgendwelche Denkmuster zu beachten. Das gibt es in der Weltgeschichte vielleicht nur einmal."

    „Aber es ist doch eine Hexenküche, Thomas Arndt! – „Ja, aber weil die Nichthexen abwesend sind, geistig abwesend. Sie starren bloß stumm und blöd auf den Bildschirm!

    „Und du, Thomas Arndt? Starrst du nicht ganz genauso stumm und dumm darauf?"

    Im Bildschirmeck leuchtet grell neonfarben pink-violett das Elf-99-Symbol. Der Saal ist flimmernd bunt ausgestaltet. „Mit dem Gesicht zum Volke, spricht ein kantig aussehender Mensch und bezog sich auf einen soeben vorgetragenen Liedtext. „Ich möchte mir wünschen, dass unsere führenden Politiker immer mit dem Gesicht…

    Er sprach so zäh und überlegend langsam, dass ein Narkose-Kribbeln aufkam. „zum Volk stehen, nicht erst wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen. Der Bonmot kam an. Eifrig klatschte man im Publikum. Eingeblendet war: „Markus Wolf, Schriftsteller. Das fand Thomas Arndt bemerkenswert. Wolf hatte wohl kürzlich ein Buch geschrieben. Aber für Jahrzehnte war er der Abwehr-Chef der DDR, zweiter Mann des Ministeriums für Staatssicherheit. Er hatte den weltweit nahezu erfolgreichsten Auslandsinformationsdienst aufgebaut und geleitet. Und fast jeder Gebildete in der DDR wusste zumindest um die Legendenhaftigkeit des Mannes, dass er Sohn vom berühmten Friedrich Wolf und Bruder des berühmten Konrad Wolf war. Und natürlich war der Gegner scharf auf ihn. Nun erschien er öffentlich, aber halb inkognito als simpler „Schriftsteller – in dieser Runde ansonsten kompletter Freizügigkeit und Offenheit. Er ist wohl doch noch zu schützen? Aber weshalb tritt er dann mit seiner Belanglosigkeit öffentlich auf? Es ist eine der zahllosen Unglaublichkeiten jener Tage. Man muss insofern den Thomas auch verstehen: Wie kann man da noch anders als stumm und dumm zu starren? Überdies war es ein seltsamer Schriftsteller, der da sagte: „Ich möchte mir wünschen. Was war das? Wünschte er? Oder nicht ganz? Und konnte oder durfte oder sollte er nicht?

    Die Bilder schieben sich übereinander. Das Publikum saß vor der Kamera – und im Fernsehraum. Vom flackernden Licht betupft, saß der Freundeskreis 202. Die Wirklichkeit ward verhext. Wo sitzen die Hexen wirklich?

    Oder: Wo sitzen sie nicht? Wo flackert es nicht? Wer ist Hexe?

    Besser gefragt: Wer ist keine?

    Die nächste Hexe hieß Bärbel Bohley. Sie sah auch so aus, da gab es keinen Zweifel. Sie klang auch so. Mit leicht vibrierender Stimme wie Honecker gab sie sentimental-betont ihre Gartenlaube kund: „Ich möchte sprechen von dem was ich mir geträumt habe. Und das ist eigentlich zum Teil da, nämlich dass wir jetzt hier sitzen, dass ich jetzt hier sitze und nicht in Hohenschönhausen, das hat zu meinem Traum gehört von DDR."

    Mehr wusste sie von ihrem Traum nicht zu verkünden.

    Hexenmacht ist begrenzt. Bohley selbst musste es erfahren: Als sie später zu Ende war mit ihrer Magie, erging es ihr wie dem Goetheschen Zauberlehrling. Sie bekam etwas das sie und die ganze DDR-Bevölkerung nicht gewollt hatten, wie sie dann sentimental beklagt. Bohley wird der DDR nachtrauern und behaupten, sie sei keine Hexe gewesen. „Nein, sagt sie später. „Ich bin nur einfach bockig! Das war ich immer. Ich habe gern in diesem Land gelebt. Nur lässt sich Gesellschaft nicht gestalten mit kindischer Bockigkeit.

    „Es ist mir ganz wichtig, sagte sie jetzt im Fernsehen, „dass wir hier sitzen und nicht vergessen, was uns allen passiert ist, dass wir gar nicht mehr gewusst haben, wie wir uns eine DDR wünschen, dass wir nur noch woanders hin geguckt haben. Und ich muss sagen, dass ein Teil meines Traumes in Erfüllung gegangen ist, wenn in Leipzig dreihunderttausend Leute auf die Straße gehen und rufen: Wir sind das Volk!

    Kammersänger bemerkte zum Pjotr leise: „Jetzt sagt Thomas wieder Idiotie!"

    „Blödsinn!" sagte Thomas aber. Dann schwieg er wieder, um weiter zu schauen. Er hätte sonst wohl erklärt: Sie möchte von ihrem Traum sprechen, tut es aber in Wirklichkeit nicht. Die ist Malerin? Das muss eine abstrakte sein. Sie malt sich und uns eine bunte Wolke.

    Vielmehr, lässt sich verbessern, eine gegenstandslose, eine sinnlos-abstrakte.

    Gut gemeint ist Asche. Man sieht es ja! Sie will ein schönes Nirwana und bezieht ihre Informationen genauso wie ihr Denken aus dem Westfernsehen. Diese Zahl über Leipzig stammte eindeutig von dort. Etwas totalitär dekretierte Bohley: „Nicht im Politbüro wird unsere Zukunft geklärt und unsere Träume. Sondern unsere Zukunft und unsere Träume bestimmen wir! Die Leute im Fernseher klatschten. Was spricht sie da von „Wir?

    Wer ist wir? Wer ist denn bloß wer? Meinte sie mit „wir eine Organisation, die hier zu vertreten sie für nötig befand? Welche sollte das sein? Sprach sie für alle DDR-Bürger? Auch das konnte nicht stimmen, schien dem Arndt. Für ihn sprach sie eben nicht. Und er war sicher DDR-Bürger. Träume mal weiter, dachte Arndt. Du kennst ja deinen eigenen Traum nicht. Vielleicht sollte sie selbst ihren Traum „klären?

    Dies stand wohl an: Die Klärung.

    Und was wollte sie mit „Hohenschönhausen"? Das konnten weder Arndt noch Pjotr wissen noch all dier Zuschauer im Haus der Jungen Talente.

    In diesem Berliner Stadtbezirk wohnte sie wohl? Nein. Dort befand sich eine Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit, aus welcher später eine schaurige Phantasiewelt kreiert wurde, eine „Gedenkstätte" für erwischte Antisozialisten und ein Schock-Disneyland für Ahnungslose.

    Woher kannte Frau Bohley dies? Nur aus dem Westen. Außer ihr kannte es niemand.

    Ahnen der Klärung

    Wer ist nicht behext, verhext? Wer ist wer? Wir sehen uns vorsichtig um.

    Der Kessel brodelt. Da sitzt der Schaltmeister im flackernden Fernsehlicht, der an Thomas Arndt glaubt. Man kann ihm vertrauen. Da sitzt Narkose und schaut mit halb offen stehendem Munde und sucht zu erfassen, zu verstehen. Man kann ihm vertrauen. Er ist gut und echt. Es flackert jedoch rings.

    Die Diskussion oder das Gerede setzte sich inzwischen fort. Noch eine ganze Zeitlang zerrte es sich sinn- und ergebnislos hin: Im Publikum sprang ein junger Mann auf und forderte: „Man hört das und dies, aber nie höre ich, dass jemand sagt: Ich bin schuldig! Ich fühle mich schuldig!"

    Thomas fand es interessant: Wer ist schuldig? Zuerst: Woran? Schuld kann es nur für eines geben – für die Lage: dafür dass der Sozialismus, die Hoffnung fast aller, in satter Trägheit so gefährdet und erstarrte leblos, und dass er jetzt in abstruser, ungeeigneter Weise so überlebendig erwacht.

    Aber es geht um die Ursachen.

    Es antwortete wieder ein „Schriftsteller, ein gewisser Christoferus Hein. Was entgegnete Gevatter Hein? Er erhob Einspruch gegen „moralische Werte. Es war schwierig zu begreifen, und die hexische Gewalt seiner Äußerung bannte jeden. „Ich finde das falsch, sagte Hein. „Das sind moralische Werte. Niemand im Publikum rührte sich dazu. Nun, es war doch eine sehr klare Ansage!

    Und was hatte er gegen diese einzuwenden?

    „Deren Herkunft ist im Stalinismus begründet."

    Wie definiert sich eigentlich „Stalinismus? Keiner wusste es und weiß es und wird es je wissen und verstehen. So etwas hatte sicher noch niemand gesagt oder gehört. Allerdings muss was bislang keiner sagte, weder gut noch richtig sein. Dies war die seltsamste und unglaublichste geistige Verwirrung, die Thomas Arndt je begegnet war. Demzufolge war die Stalin-Ära wegen moralischer Werte zu verurteilen?! Oder es sind moralische Werte zu verurteilen, weil sie dorther stammen? Dann spricht gegen moralische Werte ihre begonnene Verwirklichung? Es war ja fast zu schön, wie offenherzig-blödsinnig des Kapitals fünfte Kolonne sich jetzt präsentierte! Indes schien es nichts Gutes zu verheißen und aller „Blödsinn und jede Idiotie des Gevatter Hein sich im Publikum zu spiegeln. Er möchte, so sprach er weiter, dass „Glaubwürdigkeit überflüssig" werde. Kontrolle sei besser.

    Dazu ward rings geklatscht. Da waren wahrlich die rechten Hexen zusammengekommen.

    Ein daraufhin sprechender Staatssekretär bezog paradox die Frage der Glaubwürdigkeit auf sich selbst und sprach und rechtfertigte: „Ich sage auch hier: Ich bekenne mich schuldig."

    Dieser Staatssekretär war keiner der „alten Männer. Er schien etwa Dreißig zu sein. Gut, er sei also schuldig. Das war gar nicht alles: „Aber einen solchen Satz zu sagen ohne die Biographie eines Menschen zu kennen, halte ich für sehr sehr kompliziert. Denn diejenigen die jetzt sagen, sie bekennen sich schuldig, sind mir genauso gefährlich wie diejenigen die sagen, sie seien überhaupt nicht schuldig!

    Und erneut klatschte das Publikum. Und wieder war nichts zu begreifen. Woran eigentlich schuldig – war noch immer gänzlich offen.

    Und dann: Dies war ja ein Plädoyer für Glaubwürdigkeit!

    Jens Üppig sprach. Er war als „Molekularbiologe betitelt. Sein Name war durch Westmedien bekannt. Er schien einer der Gründer des „Neuen Forum, das schon bald sehr alt aussah und daraufhin verschwand. Er wäre wohl besser in seiner Mikro-Welt verblieben! Auch er langweilte das Publikum mit einem Traum. Der „Traum ist: Niemand solle mehr Angst haben! Dies klang dramatisch. Wer eigentlich hat überhaupt Angst? Nun, es ging dem Herrn Üppig um die „Angst, irgendwo anzuecken oder einen „Pass nicht zu erhalten", mit dem man mal gen Westen reisen durfte. Aha.

    Er selbst jedenfalls schien solche Ängste nicht zu kennen.

    Wer von all diesen, fragte sich Thomas Arndt, ist dort falsch und in Wirklichkeit nicht falsch? Wer ist keine Hexe? Nein, sie sind alle dort richtig. Wer ist nicht behext, verhext? Und hier, vor Alices Spiegel?

    Da sitzt der Andreas, diesmal also nicht auf seinem Bette. Bei ihm liegt die Sache wohl klar. Gargamel dagegen ist verhext, verloren. Dieser kennt überhaupt kein Vertrauen mehr. Lässt sich ein Hexenbann nicht lösen? Haben nicht sogar SA-Leute sich abgekehrt? Haben nicht einzelne sich sogar ihrem schärfsten Gegner, der KPD angeschlossen? Ivo Klaube ist untadelig. Man kann ihm vertrauen. Er ist echt. Und Haber? Kein Zweifel! Haber hat immer recht. Zweifellos!

    Wirklich und außer jeder Frage? Ja! Was war mit dem Wandelgang? Nun ja, wer fragt – denkt. Wer denkt… fragt. Haber hat immer recht! Aber kein Mensch hat immer recht. Ja, gewiss. Indes: Vertrauen ist immerhin notwendig. Aber da sitzt auch der Kammersänger. Wer möchte dem vertrauen? Da sitzt auch der LSD. Aber da sitzt auch… der Ball, der Baldauf.

    Alles sortiert sich einmal. Und was ist mit dem übrigen Freundeskreis 202?

    Wohin zählt der fiebrig-energische Slim wirklich? Was richtet sein fiebriger Eifer für Schaden nicht an? Was ist zu Crab zu sagen? Zählt dieser denn überhaupt hinzu? Nein. Wer ist Maik Weisenkorn real? Dieser zählt nun dazu. Alle sind irgendwo… da. Man kann sich die Leute nicht aussuchen, nicht backen. Sie sind plaziert wie sie sind. Sie wandeln sich. Aber es trennt sich trotzdem. Es sortiert sich anhand einer Bewegung. Kommt ein kleiner Hauch. Wer zieht wohin oder nicht, und wogegen?

    Jedes Ding hat zwei Seiten. Nichts kann dazwischen stehen, so nahe man sich an der Grenze auch kommt. Zwei Clowns singen uns, nicht einer.

    Sie sind lustig asymmetrisch bemalt, aber ihre bunten Münder zeigen keine Freundlichkeit, sondern sind schrecklich verzerrt. Sie singen uns gemeinsam ein Lied: „Sicher einmal irgendwann / kommt es auf uns alle an / und nicht auf ’nen neuen Mann / dann fängt das große Rudern an / und dann gehts voran, ran, ran / Ob er aber auf die Basis baut / oder aber auf den Über-Überbau / oder aufs Know how aus Oberammergau / oder uns den Umbau überhaupt verbaut / ist nicht gewiss!"

    Das Publikum tobte vor Begeisterung. Dieser Auftritt im Haus der Jungen Talente war schlüssig. Umbau hieß es. Nicht Abbau. Ein ungewisser, orientierungsloser Umbau enthält die Gefahr des letztlichen Abrisses, völligen Zerstörens. Aber Hexen sind keine Magier. Ihre Zauberkraft ist eng bemessen. Auch sie sortieren sich.

    Zumindest ein Clown steht für den Umbau statt des Abbaus und dafür, dass es „auf uns alle ankommt. Aber im Lied – von beiden gesungen – bleibt nicht fraglich, ob es „uns allen gelingt zu gemeinsamer Bewegung zu finden. Fraglich bleibt nur, ob der neue Mann uns den Umbau nicht verbaut.

    „Und es kommt ein neuer Mann / an das große Ruder ran…"

    Es begannen auch die Demonstranten sich zu sortieren. Sie hälftelten sich.

    So wie alles sich hälftelt und in Yang und Yin zerfällt, wie es so in der Menschenkugel aussieht. Diejenigen welche für einen erneuerten Sozialismus auf die Straßen gingen, gaben den Ton an. Alle Transparente bezeugten es. Diese sahen nur noch wenig Zeit für eine Erneuerung, für eine Wende im konstruktiven und vernunftgeprägten Sinne. Sie fühlten sich geradezu genötigt, auf die Straßen zu gehen, um das Land vor der Komplettierung des Unverstandes zu retten. Denn zu Hause, vor dem Fernseher, vor Alices Spiegel, war ja überhaupt nichts zu richten! Man musste hinein ins Gewühl! Sie waren noch nicht einmal abgeneigt, auf direkte Empfehlung der alten SED hin zu demonstrieren. Man folgte den Demo-Aufrufen der SED. Hiervon stachen zusehends Demonstranten ab, die einfach immer dagegen sind – was und wie auch immer. Es gibt immer Leute, die genug Zeit finden, sich über jede Fliege an der Wand zu ärgern. Und da des Ärgerns zeitgemäßer Ausdruck jetzt die Straße schien, suchten sie diese auf. Auch diese waren nicht allesamt platt und glatt gegen den Sozialismus selbst. Nur: Sie gewannen den Eindruck, die neue Staatsführung missachte ihren Ärger. Dies sogar zu Recht!

    Wer möchte seinen Ärger missachtet sehen?

    Natürlich ist die Welt ein Schachbrett – hinsichtlich der Bewegung aller Figuren. Armeegeneral Snetkow hat ganz recht. Die Welt besteht aber doch nicht aus Schwarz und Weiß allein? Gibt es nicht unzählbar viele Facetten und Nuancen? Hinsichtlich der Bewegung aller Figuren tragen sie eben doch eines von beidem zur Schau. Es gibt hinsichtlich Bewegens und Wirkens nur: entweder – oder. Im Kampf gibt es nur Schwarz und Weiß. Es gibt nur eine kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Es kann jeweils nur eine Wahrheit geben. Es gibt nichts zwischen zwei Hälften, es gibt nur Yang oder Yin… In den Nächten des Thomas Arndt befragte er wohl auch Nyx, die schrecklich Wahre. Es gibt zwei Jense, sprach sie ihm. Der eine ist bereit, zum Schutz von Menschlichkeit und menschlicher Zukunft aller Menschen zu schießen; auf Leute, die in vielerlei Hinsicht Menschen genannt zu werden verdienen; in Zwischentönen unendlicher Hinsicht menschliches Aussehen tragen aber im Punkte wirklicher Bewegung schwarz sind, Unmenschen. Und es gibt zudem den Jens Üppig, der einen besseren Sozialismus wünscht, sich indes gegen den einzigen mangelhaften aber wirklichen Sozialismus stellt, ohne diesen verbessern zu können, ungewollt auch diesen noch abschafft und zerstört, sich weiter nicht zu helfen weiß, und sich hernach ins private Eck zurückzieht als sei nichts passiert, und zu allem Überflusse nach der endgültigen Zerstörung vor der Fernsehkamera Interviews gibt, bei denen keiner weiß, welche Rolle er wohl diesmal spiele.

    Ist diese Figur vielleicht weiß? Sie ist ein Minotauros. Sie fordert in ihrer Gefangenschaft im Labyrinth menschlicher Möglichkeiten alle neun Jahre Menschenopfer.

    Aber – so klagt der Minotauros – wir sind doch gefangen! Urteilt nicht so hart! Wir konnten doch nicht in den Kapitalismus reisen! Es ist doch eine Tatsache! Bin ich nicht gar anverwandt dem Radamanthys, dem Gerechten?

    Nein, er ist nicht verwandt. Er trägt keine Göttlichkeit, nur Vergeblichkeit, dieser Minotaurus. Irgendein Theseus fand sich bislang immer, dies Schicksal zu schließen.

    Ist all das zu verständnis- und erklärungsinnig? So musst du nur eine kleine Wende vollziehen! Ist dies zu schwierig? Dort drüben steht der Wolf und bietet einfache Erklärung an. Sozialismus gab’s nie und nimmermehr, hat nie funktioniert und wird nie und nimmer funktionieren!

    Und wiederum machte das neue Staatsoberhaupt Krenz einem Bischof Aufwartung, einem Kirchen-Apparatschick, einem Vertreter der volksfeindlichsten und undemokratischsten Nomenklatur auf Erden. Und wahrlich niemand mehr verstand es. Wen schert es noch im Mindesten, wenn Schwarz und Schwarz sich treffen? Das konnte keinesfalls die geeignete Richtung sein. Man demonstrierte folglich weiter gegen Krenz.

    Die Demonstranten-Spektra verschoben sich entsprechend. Angst kam auf, um alles was DDR und Gelassenheit und Entspanntheit ausmachten. Nur äußerte sich diese seltsame Angst verschieden. Bei manch bisherigen Demonstrationsteilnehmern führte sie dazu, dass sie nunmehr den Demonstrationen fortblieben, da sie einen Weg in den Abgrund sahen, den sie nicht mochten: Demonstriert haben wir für den erneuerten Sozialismus, aber das – Nein, das wollen wir nicht. Eine solches Chaos? Nein! Dankeschön!

    Neu indes traten diejenigen auf, die den Sozialismus so mangelhaft er war, aktiv zu verteidigen sich anschickten. Man musste doch angesichts all dessen unbedingt vom Sofa herunter! Es galt nun wirklich einmal gegen diesen Klamauk kundzugeben, ehe es noch zu spät sei! Nun gingen also diese auf die Straße. Die dritte Gruppe, mit der Fliege, blieb natürlich auf der Straße. Es waren summa also sieben Prozent, die auf die Straße gingen. Es traten dort auch weiterhin die wenigen wirklichen DDR-Feinde auf. Somit erhielten die Zehn-Prozent-Kundgebungen aber ihre polarisierte Note: Hier die einen, da die andern. Noch immer gilt: Niemand gab kund für einen Rückfall zum Kapitalismus, niemand proklamierte eine „Vereinigung".

    „Man muss geben können. Nicht nur nehmen. Man muss den Mut zur Wahrheit haben!" hatte Pjotr gefordert als er besuchsweise in 202 weilte.

    „Viele die groß werden, mögen Märchen nicht mehr, bemerkte Arndt mit schrägem Blick. „Ich mag Märchen, widersprach Pjotr frisch und arglos.

    Arndt staunte. „Wirklich?! Und welches fällt dir ein?"

    Pjotr, mit rot angehauchten Wangen, überlegte nur kurz.

    „Der Eisenhans."

    Kammersängers Mutter war beunruhigt. „Was willst du denn da?" fragte sie. Kammersänger saß in der Landhaus-Küche eines friedlichen märkischen Dorfes und dachte an Schwerin, die große Stadt. Still gefaltet hielt er die Hände auf dem blaukarierten Tischtuch. Auf dem Tisch stand eine braune Schale mit dicken rotbackigen Äpfeln. Zwei handliche Zettel lagen davor.

    Auf dem einen hieß der große Titel: „Mit Demokratie zum Sozialismus!"

    „Nimm dir mal einen Apfel! Die schmecken gut!"

    „Mit Demokratie zum Sozialismus! las Kammersänger laut. „Was heißt denn das? Es liest sich ja ganz nett. Aber genauso könnte man sagen: Mit Sozialismus zur Demokratie! Beides gehört doch zusammen?

    Die Mutter hantierte am Küchenschrank. Nachdenklich erklärte er: „Ich will mich einfach informieren. Ich versteh überhaupt nichts."

    „Nimm dir einen Apfel! wiederholte die Mutter in ihrer blauweiß-rot geblümten Kittelschürze und klapperte mit Geschirr. Kammersänger starrte auf die Äpfel. Plötzlich saß am Tische über Eck Thomas Arndt, der ja die Fähigkeit besaß unversehens aufzutauchen. Er sprach: „Dieser Apfel ist vergiftet. Es gibt weder Demokratie ohne Sozialismus, noch Sozialismus ohne Demokratie. Der Apfel ist vergiftet! Du nimmst die Dinge zu leicht, Kammersänger.

    „Nein, protestierte dieser laut und etwas wütend. „Tu ich nicht!

    Die Mutter erschrak. „Sind aber ganz frisch! Wenn die zwei Gruppen aufeinandertreffen, könnte es auch ziemlich ungemütlich werden. Was willst du da eigentlich genau? Kammersänger zuckte die Schultern. „Ich will mich informieren. Und wieso? Hier rufen sie ja ihre Leute ausdrücklich zur Gewaltfreiheit auf. „Lies noch mal vor!"

    Laut las er: „Zulassung des NEUEN FORUM und den anderen demokratischen Initiativen! Er verstummte und blinzelte zum Arndt. „Was für Unsinn, Kammersänger! Die beherrschen die Sprache genauso wenig wie sie denken können. Sie agieren völlig offen und unbehindert. Sie veranstalten Kundgebung um Kundgebung und drucken ihre Proklamationen. Welche Art Zulassung wünschen sie denn noch? In Zittau haben sie selbst mit der Polizei vereinbart, dass das Neue Forum die Demos ohne Polizei absichert. Kammersänger schlug die Augen zum Texte nieder und las weiter: „Gegen Gleichmacherei – für leistungsgerechte Bezahlung in allen Bereichen! Uneingeschränkte Reisefreiheit für jeden!"

    Verstohlen sah er herüber.

    „Das Gesetz dazu ist bereits angekündigt! Und was nützt die Bezahlerei auf der Straße? Wozu gibt’s die BGL?"

    Er las weiter: „Offene Medien, Meinungs- und Versammlungsfreiheit!"

    Hierbei brauchte er nicht herüber zu schielen. Es war ja klar: Wieso fordern sie Versammlungsfreiheit, wenn sie sich gerade eben versammeln?

    „Die Versammlungsfreiheit steht in der Verfassung der DDR. Sie brauchen sich bloß darauf zu berufen! Idioten-Club!"

    Dieser Apfel ist also vergiftet.

    „Dafür – las er laut, „demonstrieren wir gewaltfrei, helft Provokationen zu vermeiden! Ihm fiel das schlechte Deutsch selbst auf. Zur Mutter sagte er:

    „Siehst du: Hier steht’s! Sie sagen ihren eigenen Leuten, dass sie keine Provokationen unternehmen sollen!" Er dachte: Von diesem Aufruf bleibt als einziges sinnvolles Stichwort das Reisen in den Westen.

    Die Mutter klapperte mit Besteck. „Und was steht in dem andern Aufruf?"

    Kammersänger nahm den zweiten Zettel zur Hand, auf dem das Schweriner Stadtwappen prangte und welcher durchaus gediegener erschien. Die Sprache war hier sauber, ebenso wie die Aussage. „Heraus zur Kundgebung! Wir wollen einen Dialog, der uns zusammenführt und nicht trennt. Deshalb sagen wir: Dialog und Tat – gemeinsam für Erneuerung in unserem Land!"

    Er überlegte. Etwas störte ihn auch daran. Denn dies, bei aller Sauberkeit, reicht ebenso wenig aus wie ein perfekter Schlipsknoten. Es erschien ein wenig dünn. Das einzig gehaltvolle Stichwort hier war die Gemeinsamkeit.

    Aber wozu? In welche Richtung? Woran Kammersänger nicht im Mindesten dachte: Wogegen und für wessen Sieg eigentlich können Schwarz und Weiß gemeinsam kämpfen?

    „Silke hat nach dir gefragt, bemerkte die Mutter. „Die hat die Flugblätter für dich abgegeben. Magst du sie?

    „Die Flugblätter? Oder die Silke? Naja"

    Warum – überlegte Kammersänger – interessieren sich Mütter stets für die Frauen, Freundinnen, Interessentinnen ihrer Söhne? „Schön, schön", sagte er. Vielleicht sollte er Mutters Ansicht zufolge sich lieber Silkens annehmen, statt der zwittrigen Demonstration?

    In einem Berliner Kirchenkeller stand eine Druckmaschine aus der gegnerischen BRD auf welcher soeben eine alternative Zeitung produziert ward. Die Druckformen, Matrizen, überhaupt die ganze Technik stammen ebenso aus der BRD. Das „Neue Forum" druckte…

    Unbegreiflicherweise war der Zug nach Schwerin nicht mit den üblichen Berufspendlern gefüllt sondern mit Soldaten, die Schulterstücken schwarz umbortet, Panzersoldaten.

    Kammersänger stand im Gang zwischen den steingrauen Uniformen eingeklemmt und verabscheute den Zigarettenqualm.

    „Hey Kumpel, Asche schon hinter dir?" fragte ein Soldat mit der Mütze im Nacken ihn direkt ins Gesicht.

    „Bin mitten drin."

    Kammersänger war ja in Zivil. Der Soldat fragte: „Gefreiter? Uffz?"

    „Ja, mmh", machte Kammersänger und lächelte.

    „Wunderschön. Komm, Kumpel, feier mit uns! Er hielt dem Kammersänger eine offene Flasche Nordhäuser Doppelkorn hin. „Nimm einen Hieb! Trink! Wir werden aufgelöst! Vor Verdatterung nahm Kammersänger tatsächlich einen Schluck. „Jungs! brüllte der Soldat. „Ein Schicksalszeuge!

    Er wandte sich Kammersänger zu: „Wo machst’n Dienst?"

    „In Berlin – „Leute! brüllte der Soldat noch lauter. „Ein Berliner Schicksalszeuge! Der Junge macht gehobenen Dienst in der Hauptstadt!"

    Den Gang entlang drängte sich ein Fähnrich und musterte Kammersänger. „Sie sind im Wehrdienst? Und in Berlin stationiert?"

    – „Ja"

    „Papiere dabei?"

    „Jawohl, Genosse Fähn… Dieser folgte Kammersängers Blick und bemerkte die Flasche in des Soldaten Hand. „Steckt das Zeug weg! Seid ihr bekloppt? In vier Stunden ist Appell in Goldberg! Der Soldat zeigte keine Verlegenheit und auf Kammersänger. „Der ist Unteroffizier."

    Fahrig zog der Fähnrich die gläserne Abteiltür auf, dahinter ebenfalls Panzersoldaten saßen. Er wandte sich an Kammersänger: „Da drin ist noch Platz. Sie müssen hier nicht draußen stehen. Die Leute sind ein bisschen überdreht wegen der Auflösung. Die müssen bloß noch kapieren, dass es im Rahmen bleibt."

    Ehe etwas einzuwenden war, schob er Kammersänger ins Abteil.

    Was soll der denn hier? Er quetschte sich zwischen zwei Soldaten hindurch und bemerkte irritiert, dass jemand am Fenster eine Freundin auf den Knien zu sitzen hatte und mit ihr züngelte. Was taten hierzwischen Zivilpersonen?

    Dann sah er sich um. Der Fähnrich war verschwunden. Neben ihm räkelte sich ein Obergefreiter. Er stieß den Mann am Fenster in die Seite, was nicht zu beeindrucken schien. Statt dessen sah Kammersänger, wie das Mädchen die Hose unter dem schwarzen Koppel aufzuknöpfen im Begriffe war und sich eben dort darauf in den stramm sitzenden Jeanshosen niederließ. Des Tages Bläue erschien ihm gleisnerisch. „Mach den Deckel nich uff! warnte der Obergefreite. „Den kriechste nich wieder druff! Kammersänger dachte: Ich versteh das nicht! Er wähnte sich in einer modernen Theaterinszenierung, welche ihm nicht behagte.

    Von gegenüber hielt man ihm eine Flasche mit etwas Braunem entgegen. „Prost! Wir werden irgendwo in der Volkswirtschaft eingesetzt!"

    Kammersänger schüttelte sich, stand auf und verließ das Abteil.

    Draußen lief er dem Fähnrich in die Arme. „Was heißt Auflösung? fragte er. Der Fähnrich sah nach rechts und links. „Das wissen Sie vielleicht nicht, erläuterte er nervös. Der Waggon rüttelte. „Aber ich glaube nicht, setzte er unlogisch hinzu, „dass es was ausmacht. Ist ja kein militärisches Geheimnis. In der Republik werden sechs Panzerregimenter aufgelöst.

    „Wie? Ich meine, häh? Was heißt aufgelöst?"

    „Das heißt, Verehrtester, sagte der Fähnrich, „wir entwaffnen uns selbst. Sie haben doch in der Schule auch das Gedicht gelernt: Bewaffnet, doch als Friedensheld?

    Kammersänger dachte an einen stachligen Igel. Entgeistert nickte er. – „Jetzt heißt es, setzte der Panzerfähnrich sarkastisch fort, „unbewaffnet als Friedens-Clown. Er schwankte fahrtbedingt.

    „Sechs Panzerregimenter?" fragte Kammersänger verblüfft.

    „Die Leute sind natürlich völlig außer sich. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was ihre Ausbildung und ihre Jugendzeit und der ganze Wehrdienst, der Fahneneid…" Der Fähnrich schwieg und Kammersänger empfand Mitgefühl.

    „Hier. Sehen Sie. Aus der Uniform-Innentasche wurde ein Zettel gezogen. „Goldberg, Stallberg, Beelitz, Sondershausen, Gotha und Großenhain. Einfach aufgelöst! Das sind erstklassige Truppen mit Gardequalität. Sechshundert Panzer! Völlig in Schuss. Jetzt werden sie verschrottet.

    Verständnislos starrte der Fähnrich durchs Fenster. „Sechshundert Panzer. Alle takko."

    Kammersänger empfand noch mehr Mitgefühl. „Das ist, sagte er behutsam, „aber eine komische militärische Entscheidung.

    „Mein Lieber, das ist überhaupt keine militärische Entscheidung, sondern eine politische Maßnahme des Nationalen Verteidigungsrates. Den Vorsitzenden kennen Sie vermutlich."

    Kammersänger wusste momentan nicht, von wem die Rede ging. „Der Clown heißt jetzt… Das Ganze heißt nämlich Plötzlich lachte der Fähnrich und Kammersänger begann sich zu fürchten, „einseitige Abrüstungsmaßnahme. Aber warum stehen wir hier draußen rum? Er schob die Glastür wieder auf und Kammersänger ins Abteil, vielleicht der besseren Übersicht wegen. Er brüllte hinein: „Einpacken! Weg mit dem Alkohol! In vier Stunden ist Auflösungsappell mit Generaloberst Stechbarth. Bis dahin läuft alles wie am Schnürchen, und am Bahnhof will ich von dem Mädel nichts mehr sehen!"

    Was der Panzerfähnrich nicht ausführte und Kammersänger dunkel erahnte: Da Kapitalismus und Imperialismus ihrer Beuteaussicht wegen zu Krieg tendieren, können sie nur durch ihre eigenen Mittel daran gehindert werden; Kriegsmittel. Wenn sie nicht gehindert werden, ist es völlig egal ob Clown oder nicht: Dann gibt es nicht mehr Abrüstung, sondern Aufrüstung und Krieg. Kammersänger ließ sich fallen und nahm die braune Flasche entgegen. Er trank einen Schluck und schüttelte sich. Was sich am Fenster tat, interessierte ihn nicht weiter. Ihm fiel ein Spruch ein, der irgendher geläufig war: „Schwerter zu Pflugscharen!" Nun geschah es.

    Er grübelte: Wir packen also ein. Aber… vielleicht ist es gut so?

    Am Abend sah es und hörte die Bevölkerung in der Aktuellen Kamera, wie der stellvertretende Verteidigungsminister Generaloberst Stechbarth dies beurteilte: Er erklärte sich „besorgt, dass bisher von der NATO nichts Gleichartiges unternommen wird."

    Aber der Abrüstungsschritt war ja einseitig und unabhängig von Verhandlungen? Was wollte er? Sollte die NATO freiwillig abrüsten – wie der Sozialismus? Das kann NATO niemals. Und dies wusste der Stechbarth immerhin. Es konnte nur Kritik an defensiver Politik sein. –

    Als Kammersänger den Schweriner Bahnsteig betrat, bemerkte er sofort Grüppchen von aufgeregt debattierenden Reisenden, teils mit den bekannten Aufrufzetteln in der Hand und desorientiert wirkend. Allesamt waren sie zur Kundgebung unterwegs. Das ist es also! Deshalb sind sie alle angereist. Sie wollten sich informieren – ebenso wie er selbst! Dies verstand er gut.

    Es erschien klar und logisch. Kundzugeben hatten sie wohl nichts weiter. Denn die einzige offene oder stichhaltige Forderung, die er auf einem Transparent las, war wieder die Reise gen West. Diese Forderung war indes schon obsolet. Er kannte im Übrigen niemanden, der auf Biegen und Brechen mal nach Westen reisen wollte. Dann fuhr ihm durch den Sinn: Wenn die ganze Nummer aus Leuten bestehen sollte, die sich informieren wollen: Wie groß kann dann der Informationsgewinn sein? Womöglich entstehen all die Menschenaufläufe nur, weil man sich zu informieren gedachte?

    Womöglich kam die ganze Wende so und nicht anders zustande?

    Er nahm sich vor, auf Transparente zu achten und begab sich zu einer Gruppe, wo aufgeregt geredet und geraucht wurde. Er schwenkte das Aufruf-Zettelchen mit dem Stadtwappen und fragte einen Mann mit lederner Gesichtshaut: „Wissen Sie wo das ist? Schrill giftete der Mann: „Hast dich wohl verlaufen?

    Vorsichtig zog sich Kammersänger zurück und zerrte eilends den zweiten Zettel hervor. Er fragte in eine andere Gruppe und hielt den Schein empor: „Sagen Sie bitte… Wo ist denn das?"

    Etwas spitz entgegnete eine junge Frau: „Da sind Sie hier falsch! Wir brauchen nicht zur Gewaltfreiheit aufzurufen, da können Sie Gift drauf nehmen!"

    Er bemerkte eine sanfte Volksbewegung und trottete mit. Im Alten Garten sammelte sich eine unübersehbare Menschenmenge mit vielen Schildern und Plakaten, deren Aufschriften verhalten optimistisch und konstruktiv anmuteten: „Wer verändern will, muss sich ändern! – „Dialog für den Sozialismus! Über allem lag wie ein Mantel das gedämpfte Stimmengemurmel konstruktiv eingestellten Veränderungswillens. „Verändern, erklärte ein älterer Mann neben Kammersänger einem Mädchen – Tochter oder Nichte – „ist ja bei Licht besehen zu wenig. Verändern kann alles mögliche heißen. Wir hätten auch ein Schild malen sollen: Entwickeln des Sozialismus!

    Das Mädchen hob die Schultern. „Es ist kälter als ich dachte. Aber fällt dir nichts auf? Überall wird ständig betont, dass man für den Sozialismus ist. Das ist komisch. Steht denn das zur Frage? Ich kenne keinen, der gegen Sozialismus ist."

    Eine sauber geschriebene Forderung zeigte sich: „SED – führende Kraft!, so doppeldeutig es auch war. „Irgendwie, antwortete der Mann und betrachtete Kammersänger skeptisch von der Seite, „ist weiter oben der Eindruck entstanden, dass es darum geht: für oder gegen unser Gesellschaftssystem. Wie, so sprach er den Kammersänger direkt an, „sehen Sie denn das?

    „Ja, kann sein. sprudelte dieser hervor. „Das merkt man ja an den Nachrichten wo ständig darüber geredet wird.

    Das Mädchen besah den Kammersänger. Gefällt er ihr? Es gibt Bessere. „Es gibt kein besseres Gesellschaftssystem, erklärte der Mann. „Das wissen die Leute. Es kommt bloß darauf an, was man draus macht. Wie man das Ganze macht.

    An Kammersänger schob sich ein Transparent vorbei, auf dem in akkuraten Buchstaben stand: „Meine Tat für den Sozialismus!"

    Aus der Lautsprecheranlage schallte: „Es spricht der Arzt und Christ Doktor Wege! – „Etwas daraus machen, sagte das Mädchen gedankenvoll.

    Über die ganz gewaltig starken Lautsprecher erklärte der Arzt und Christ Doktor Wege weithin hallend: „Dies ist eine Kundgebung unserer gemeinsamen Verantwortung für dieses Land, für seine Gesellschaftsform, für seine Chancen! Liebe Schwerinerinnen, liebe Schweriner! Es ist unsere Kundgebung, zu der vierzigtausend Menschen gekommen sind!"

    Beifall. Kammersänger klatschte mit und dachte: Da stimmt doch was nicht? Wo ist denn die andere Seite? „Es ist – so Doktor Wege weiter, „eine grandiose Abstimmung FÜR den Sozialismus!

    Wieder ward geklatscht. Ein überdimensionales Banner zierte die Aufschrift „NEUES FORUM". Die sozusagen andere Seite war ebenfalls hier! Auch das Neue Forum war dabei! Natürlich: Auch dies bekannte sich ja zum Sozialismus. Na gut, umso besser! Kammersängers Klatschen für den Sozialismus kam verspätet, als ringsum alles vorbei war.

    Am Rande vollzog sich Bewegung. Seitlich setzte sich ein Zug in Bewegung und defilierte vorbei. Auch aus der hiesigen Kundgebung tröpfelte es ein. Er begab sich in diese Richtung und sah andere Schriften: „Wer einmal lügt… und „Reisefreiheit! oder: „Freie Wahlen!"

    Das überzeugte ihn nicht unbedingt. Dazu las es sich zu formelhaft, zu sehr auf Stimmungsmache. Aber es war kein kleines Grüppchen. Man schien sich ringsum einig zu glauben, ohne es zu sein. „Gutes Geld für gute Arbeit! Was wollte man noch mit einer allgemeinen Losung: „Reformen!?

    Es las sich inzwischen etwas komisch. „Na, du?" sagte jemand hinter ihm. Er drehte sich und bemerkte einen vormals bekannten Jungen aus der Nachbarschaft. Man hatte sich nie leiden mögen, schlimmer noch: Man war spinnefeind. Den Haber auf seinem Armeezimmer mochte man nicht besonders, aber hier liegen die Dinge anders. Dieser Helge, oder wie immer er sich nannte, war der Feind.

    „Willst du dich informieren?"

    Kammersänger nickte spröde.

    „Du darfst dein Singestündchen nicht verpassen! Plötzlich fiel diesem Helge etwas ein. „Bist du nicht bei der Staatssicherheit gelandet? Er grinste. „Hast du schon gesungen?"

    Kammersänger malte sich aus, wie er mit einem Gildebrandtschen Achsel-Nacken-Griff diesen zum Kotau zwänge. „Wusstest du schon, eröffnete Helge, „dass ich mich mit der Silke gut verstehe? Gespannt blickte er. „Sehr gut verstehe?"

    Kammersänger zog die Stirn kraus und wandte sich ab.

    Die Silke? Aber was meldete sie sich dann bei ihm? Was soll denn das heißen? Warum besorgt sie des Gegners Geschäft und tut, als sei sie für ihn da? Obwohl er nicht in Silke verschossen war, erschien es ihm betrügerisch.

    Dass dies beides zusammenhängen mochte, bedachte er nicht. Schon gar nicht bedachte er, ob es vielleicht gelogen war. Unwissend wie zuvor reiste Kammersänger wieder ab.

    Zweierlei Gegner und der Seitenwechsel

    Woran der Kammersänger zumal nicht dachte: Ein objektiver Gegner, der als solcher sich bekennt, sei besser als der versteckte, welcher freundlich für Gemeinsamkeit schwenkt und wedelt und sie real untergräbt.

    Dieser seinerseits besteht aus zweierlei. Seine einheitliche Masse hat gespaltene Figur. Es gibt denjenigen der – vielleicht im Politbüro sitzend – Sozialismus ehrlich und subjektiv vertritt so gut er kann, ihn aber nicht versteht und dadurch beschädigt und zerstört. Und natürlich tritt derjenige auf den Plan und lässt es sich nun nicht nehmen, der anscheinend wohlwollend ihn zielgerichtet zu beseitigen sucht, der welcher etwa im Westen sitzt. Da beider Bewegung in dieselbe Richtung weist, trifft man naturgemäß aufeinander, vereint sich ein Stücklein und bildet aus Yang und Yin gemeinsame Gestalt.

    Thomas Arndt verstand gut, dass man nun gegen Krenz auf die Straßen ging.

    Dabei sah er, dass Yang und Yin allein im Komplex bestehen und diese insgesamt in eine Richtung führten, die womöglich um einiges zu spät saubere Trennung ermöglichen kann. Stellen wir auf „Übersicht und werden gewahr, dass wir uns in Gefahr begeben, einem Bilde aufzusitzen. Nein, wir wollen kein Bild, sondern ungeschminkte historische Wirklichkeit. Nur: Fast jede wirklichkeitsnahe Sicht enthält auch ein wenig Hexengebräu! Sowieso jedes Hexengebräu enthält einen Bodensatz Wahrheit. Werfen wir aus einer der Küchen, sagen wir, den KGB-Mann und den Juri hinaus und besehen, was dann von „Wende bleibt: Es gab keine und gar keine einzige Forderung nach Kapitalismus, es gab keinen Streik. Es gab keine antisozialistischen Demonstrationen, auch dann nicht als jede Art Demonstration ohne jede Anmeldung völlig freigestellt war. Egal was später daraufhin behauptet und erdichtet wird: Auch ein Vierteljahrhundert später hatte niemand von derlei erfahren. Es war keine antisozialistische Wende. Das wurde erst später daraus gefälscht.

    Real bestand die ganze Volksbewegung aus Straßengängern; etwa fünf Prozent für dessen Erhalt und Festigung, die aus vernünftiger Einsicht gegen Krenz als Krisen-Manager auftraten. Und es gab maximal zwei Prozent Gegner des bisherigen Sozialismus. Vielleicht ein Prozent DDR-Gegner gab es, die sich mit ihren Motti nicht heraus wagten. Unter diesen steckten einige zig, die gezielt den Auftrag verfolgten Unübersichtlichkeit zu stiften. Anderswo saßen Teilnehmer an Diskussionsrunden, die Gedanken zu formen suchten wie aus der verfahrenen Kiste wieder ein flottes Gefährt zu machen sei. Mehr Volksbewegeung gab es nicht. Die West-Medien allerdings stilisierten jede Bewegung zu einer antisozialistischen. Das feindliche Fernsehen zeigte Massenaufläufe. Diese Aufnahmen waren so kurz geschnitten, dass man nicht zum Zählen kam und noch weniger zum Sortieren. Hingegen trennten und sortierten die DDR-Medien gar nicht mehr.

    So blieb nur die klare und verfälschende West-Sicht übrig, da diese wenigstens eindeutig war. Man sah und hörte somit, dass Frau Meier und Herr Kunz und Thomas Arndt, Herr Borseck und Annelies Happelt gegen den Sozialismus zu Felde zogen.

    Nun ist der Mensch ein Gruppenwesen. Er kann sich seiner Gesellschaft nur schlecht entziehen – und dem, was er von dieser glaubt… seinem Bild von dieser.

    Es war Pjotr, der im Ausgang über den Alexanderplatz schlenderte, welcher damals noch in seiner lichten und weiten Schönheit bestand. Wieviel Alexanderplatz kann es noch geben? Pjotr nahm die Dinge wie solche sich boten. Er demonstrierte nicht, er gab nicht kund für den Sozialismus. Er gab nicht kund gegen den Sozialismus. Er stimmte – ohne es zu ahnen – mit neunzig Prozent überein, welche diese Fragestellung nicht im Geringsten sahen. Denn sie waren Teil des Sozialismus. Aber er verstand sehr genau einen gewissen Entwicklungswillen vieler Leute für den Sozialismus.

    Nur nahm er es nicht sehr schwer. Er dachte ans Kino. Dort spielte man „Linie 1", ein populäres, wirr-bunt-originelles Musical über das bizarre Westberlin. Für die Zuschauer war es ein Kulturschock ohnemaßen. Der Film war

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