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Tanzt, Bäume, tanzt!: Der Familienroman
Tanzt, Bäume, tanzt!: Der Familienroman
Tanzt, Bäume, tanzt!: Der Familienroman
eBook712 Seiten10 Stunden

Tanzt, Bäume, tanzt!: Der Familienroman

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Über dieses E-Book

Beim Durchstöbern des Nachlasses seiner überraschend verstorbenen Mutter findet Thomas Meitner Tagebücher, die bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Die Bücher berichten von einer jahrzehntelangen Verbindung eines Fürther Spiegelfabrikanten mit einem böhmischen Glasfabrikbesitzer, die mehr ist als eine bloße Geschäftsbeziehung. Thomas durchlebt eine Achterbahnfahrt aus Leidenschaften, Ressentiments und Hass, staunt über Raffinesse und Handlungsgeschick und amüsiert sich über groteske Situationen. Aber da ist noch etwas Merkwürdiges, das ihn nicht loslässt, und schließlich gelingt es ihm mit moderner Kriminaltechnik, ein Geheimnis zu lösen. Dabei stößt er auf eine Geschichte hinter der Geschichte und auf einmal sieht seine Eigene anders aus.
Tanzt, Bäume, tanzt! Der Familienroman.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Okt. 2019
ISBN9783749734009
Tanzt, Bäume, tanzt!: Der Familienroman

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    Buchvorschau

    Tanzt, Bäume, tanzt! - Bejot Hirsch

    1. Vorwort

    Liebe Leserin, lieber Leser,

    als die Tropfen im Dauerregen des Frühlings 2013 in einem unendlichen Fluss auf den Gartenteich fielen und auf der Wasseroberfläche tanzten, kam mir der Gedanke, daraus eine Geschichte zu entwickeln. Bei klarer Betrachtung erschien es mir absurd, dass das der Stoff für hunderte Seiten werden könnte. Aber spätestens, als der Gartenteich überlief und seine Oberfläche auf den Rasen ausdehnte, um eine größere Tanzfläche zu haben, fügten sich die ersten Kapitel zusammen. Ich erlebte Momente, wo die Ideen direkt aus dem Kopf über Finger und Tastatur in den Datenspeicher meines Computers flossen und kam zu Kapiteln, die mir schwerfielen, tröstete mich aber damit, dass „aufs und „abs zum täglichen Leben gehören. Diese Erkenntnis trieb mich an, das Buch zu vollenden, obwohl ich einige Male das Gefühl hatte, mich verrannt zu haben. Aber dann fand ich den Weg aus dem Labyrinth und es ging weiter, was auch an einigen Protagonisten liegt, die mir ans Herz gewachsen waren. Jedenfalls habe ich es geschafft, selbst wenn es sechs Jahre dauerte!

    In diesem Buch sind viele historische Ereignisse genannt. Außerdem sind Personen erwähnt, über die in Geschichtsbüchern berichtet wird. Die meisten Orte existieren ebenfalls und trotzdem möchte ich betonen, dass die gesamte Handlung und sämtliche darin vorkommenden Personen fiktiv sind.

    Noch zwei kleine Hinweise:

    Die wichtigsten Charaktere sind im Kapitel 50 zusammengefasst und unter bejot-hirsch.de können wir gerne im Kontakt bleiben.

    Jetzt aber genug der Vorrede, viel Spaß beim Lesen!

    Bejot Hirsch, im Herbst 2019

    2. Schweres Erbe – Gebhardswinden und Jork (2013 bis 2014)

    Thomas Meitner:

    Ich weiß nicht, ob ich auf meine Schwester Nicole sauer oder traurig sein soll. Nach Muttis plötzlichem Tod war das letzte Kapitel unserer Familiengeschichte noch nicht geschrieben, denn es musste der Nachlass geordnet und aufgeteilt werden. Wir hatten uns lange nicht gesehen, dazu wohnten wir zu weit entfernt. Sie in der Nähe von Bonn, wo ihr Mann Rene Oppenhoff Erbe einer großen Firma zur Herstellung von Aromastoffen ist, und ich in Jork im Alten Land, in der Nähe von Hamburg. Nach meinem Politikstudium in Berlin hatte es leider nicht für den Auswärtigen Dienst gereicht, dabei wäre ich so gerne Diplomat geworden. Jahrelang hatte ich von Botschaften in exotischen Ländern geträumt, in denen ich die Bundesrepublik Deutschland repräsentiert hätte.

    Nachdem der Traum geplatzt war, sich der Hauch der Ferne verflogen hatte und ich auf den Boden der Realität zurückgekehrt war, hatte ich mich 1998 um eine Stelle bei der ‚Handelskammer Hamburg‘ beworben. Anscheinend hatte ich bei meinem Vorstellungstermin einen guten Tag erwischt, denn ich wurde genommen. Mein Arbeitsplatz war beheimatet im neoklassischen Gebäude am Adolphsplatz, quasi im Rücken des Hamburger Rathauses. Ich war im Geschäftsbereich Wirtschaftspolitik für die Kontakte zu den Mandatsträgern des Senats zuständig. Insofern war mein Studium nicht unnütz.

    Allerdings war mein Berufsstart auch das Ende der Beziehung mit Theresa, denn sie folgte ihrem eigenen Karriereweg weiter und blieb in Berlin. Wir hatten es ein paar Monate mit einer Fernbeziehung versucht, bis sie mir beichtete, einen anderen Typen kennengelernt zu haben. Den Rest konnte ich mir denken und so sparte ich mir ab diesem Wochenende die Pendelei zwischen Hamburg und Berlin.

    Ich blieb nicht lange solo, denn bei einer Joggingrunde um die Binnenalster lernte ich Maike kennen. Sie hatte eine gazellenartige, schlanke Figur mit ewig langen Beinen und ihre blonden Haare zu einem Zopf zusammengefasst, der mit jeder Bewegung lustig hin und her wippte wie ein Kuhschwanz. Sie lief ein paar Meter vor mir und war alleine unterwegs. Ich entwickelte den Ehrgeiz, sie einzuholen, hatte aber große Mühe. Endlich hatte ich es geschafft und nach einem kurzatmig ausgestoßenen ‚Hallo‘ gefragt, ob es sie stören würde, wenn ich neben ihr laufen würde. Sie hatte mich kurz von der Seite gemustert, nicht geantwortet, aber die Geschwindigkeit angezogen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Turbo einzuschalten. So ging es um die Außenalster, über sieben Kilometer, und ich betete die ganze Zeit, dass sie endlich stehen bleibt.

    Sie gewährte mir diesen Gefallen aber nicht, sondern stoppte erst an der Kennedybrücke. Ich stand kurz vor einem Herzinfarkt. Die folgenden Minuten tat ich so, als müsste ich mich ausgiebig strecken und dehnen, in Wirklichkeit japste ich nach Luft. Danach hatten wir eine kurze Unterhaltung, die damit endete, dass wir uns zu einer weiteren Runde ein paar Tage später verabredeten.

    Nachdem diese erneut für mich eine Tour an der Kante zwischen Leben und Herzinfarkt war, tranken wir am Jungfernsteg eine Brause. Schließlich fragte ich sie, ob wir am kommenden Wochenende gemeinsam durch die Kneipenwelt ziehen wollen und ob sie darin die gleiche Ausdauer hat. Offenkundig hatte ich mit diesem blöden Satz ihre Neugierde geweckt. Die folgenden Monate sahen wir uns öfters und die Phase endete damit, dass ich in ihre Altbauwohnung in Uhlenhorst einzog.

    Maikes Wiege stand in Neumünster und sie ist ein typisches Nordlicht. Nach ihrem Jurastudium startete sie ihre Tätigkeit in einer großen Hamburger Anwaltskanzlei, die sich auf Wirtschaftsrecht und damit auf die juristische Beratung und Vertretung von Firmen spezialisiert hatte. Ich glaube, dass Maike eine gute Interessenvertreterin ihrer Mandantschaft ist, denn sie steht selbstbewusst auf ihren Beinen, ist schlagfertig und fachkundig und sich ihrer Ausstrahlung bewusst. Mir wurde schnell klar, dass sie sich niemals zum Hausmütterchen degradieren lassen würde. Wenn ich Maike mit Theresa vergleiche, fällt mir auf, dass ich auf diesen Typ Frau abfahre.

    Offensichtlich entsprach ich ebenfalls ihrem Beuteschema, denn wir heirateten am 26. Mai 2001, 21 Tage vor meinem 30. Geburtstag. Für mich war das genau der ideale Zeitpunkt. Neben diesem magischen Burzeltag hatten wir drei Jahre den Nahkampf in der Wohngemeinschaft geübt und uns gegenseitig für würdig befunden, die nächsten Jahrzehnte gemeinsam zu verbringen.

    Ein paar Monate nach der Hochzeit kauften wir ein Grundstück in Jork im Alten Land. Wir hatten Glück, dass uns dieses ein Makler anbot, der es neu ins Angebot bekommen hatte. Nach der ersten Besichtigung war klar, dass wir diesen Bauplatz haben mussten, denn er grenzte direkt an Apfelplantagen und war unverbaubar. Ein paar Tage später war der Kauf vollzogen und wir gingen mit Feuereifer die Hausplanung an. Im Sommer 2002 war unser Traumhaus bezugsbereit. Es beinhaltete zwei Büros und zwei Kinderzimmer und so dauerte es nicht lange, bis Amelie am Freitag, dem 9. Mai 2003, auf die Welt kam. Zu ihrer Taufe kam Mutti das erste und einzige Mal in den Norden zum Besuch.

    Es war eine aufregende Zeit, denn nach ein paar Jahren bei der ‚Handelskammer Hamburg‘, in denen ich unschätzbare Kontakte geknüpft hatte, bekam ich 2002 ein Angebot von ‚EADS‘¹ in Hamburg-Finkenwerder, das ich nicht ablehnen konnte. Die Zeit seitdem nutzte ich für meine Karriere und berichte seit drei Jahren als Verantwortlicher für ‚Kommunikation und politische Kontakte‘ an den Vorstandsvorsitzenden.

    Im Spätwinter 2005 stand ich unter familiären Stress. Zuerst hatte Mutti am 29. Februar ihren 65. Geburtstag und da es diesen 2005 nicht gab, am Tag danach. Gefeiert wurde am ersten März-Wochenende und dazu war ich alleine ins fränkische Gebhardswinden gefahren, dem Dorf, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Maike war hochschwanger und wollte sich die Reisestrapazen nicht antun. Leider hatte auch Nicole abgesagt und somit war ich der Einzige der Familie, der mit Mutti feierte.

    Am Dienstag, dem 12. April 2005, stieß Moritz seinen ersten Schrei aus. Unser Glück war damit komplett. Zu dessen Taufe kam Mutti nicht ins Alte Land, aber ich holte sie drei Wochen später für den Ausflug ins Riesengebirge ab.

    Zurück zum verzwickten Verhältnis mit meiner Schwester. So lange ich in Berlin studiert hatte, hatte sie mich gerne besucht. Sie hatte sich prächtig mit Theresa verstanden. Wir waren durch die angesagten Clubs gezogen und hatten die Nacht als die beste Zeit zum Feiern definiert. Die geschwisterliche Nähe kühlte sich aber nach meinem Studienende und Umzug nach Hamburg ab. Ich kann nicht einmal einen Grund nennen, aber unsere Beziehung war sprachlos geworden. Die modernen Kommunikationsmittel, wie Telefon oder Soziales Netzwerk, hätten wegen uns nicht erfunden werden müssen.

    Sicher, an den Geburtstagen gibt es eine Glückwunsch-SMS oder ein Posting und wenn sie einen besonders guten Tag hat, sogar einen Anruf. Aber ein Wiedersehen zu Weihnachten in dem Haus, in dem wir unsere Kindheit verbracht hatten, klappte nie. Entweder war Nicole mit ihrer Familie im Weihnachtsurlaub oder ihre Schwiegereltern waren mit einer Einladung schneller gewesen. Ob das dumme Zufälle waren oder Desinteresse, wird für immer ihr Geheimnis bleiben.

    Ich hatte Nicole ein paar Tage nach Muttis Beerdigung angerufen, denn ich hätte es als pietätlos empfunden, den Leichenschmaus als Gelegenheit eines Vier-Augen-Gespräches zu nutzen. Aber die Angelegenheit duldete keinen Aufschub, denn der leerstehende Preßlerhof begehrte zu wissen, wie es mit ihm weitergeht.

    Überhaupt der Preßlerhof! Was für ein unheilvoller Ort, hatte er doch seinen Besitzern nie Glück gebracht. Der Anfang 1963 einsam verstorbene alte Preßler, dessen Sohn jung zur Schlachtbank des Zweiten Weltkriegs geführt wurde, war in der letzten Phase seines Lebens gewiss kein glücklicher Mensch gewesen. Das war eine verblüffende Parallele zu Mutti, die in den vergangenen Jahren zu einer seltsamen und verhärmten Frau geworden war. Daher konnte ich Nicole in gewisser Weise verstehen. Weihnachten ist, der Natur der Sache nach, ein fröhliches Fest, aber Mutti hätte es mühelos geschafft, daraus eine Trauerveranstaltung zu inszenieren.

    Aber, es half alles nichts, wir mussten gemeinsam entscheiden, was wir mit dem Hof machen wollten, und deshalb rief ich Schwesterlein an. Mein Schwager nahm das Gespräch an. Das war eine Überraschung, aber dieser war nicht minder erstaunt, mich zu hören, und entschuldigte dies mit dem erwartenden Anruf eines Golffreundes. Er reichte das schnurlose Telefon an Nicole weiter.

    Es nahm seinen Anfang mit ein paar Belanglosigkeiten, dann kam ich zur Sache und fragte sie, was wir mit unserem gemeinsamen Erbe anstellen wollen. Ihre Antwort war kurz und bündig: „Verkaufen, weg mit dem alten Krempel!" Ich war sprachlos, merkte jedoch, dass ihre Aussage nicht spontan war, sondern Ergebnis einer langen Überlegung. Sie hatte nicht die Absicht, jemals wieder in diese Gegend zu kommen und selbst, wenn es das Schicksal so bestimmt, würde sie den Preßlerhof höchstens für kurze Zeit betreten.

    Ihre knallharte Aussage war überraschend, denn wir erlebten, zumindest meiner Meinung nach, eine schöne Kindheit. Das viel zu große Haus für eine dreiköpfige Familie. Der gepflasterte Hof, der Stall und die gewaltige Scheune, das war die Kulisse unseres damaligen Lebens. Der große Wirtschaftsgarten, die Wiese hinunter zum Bach, über die Brücke hinüber zu den Feldern und hinein in den Wald, das war unsere kleine Welt. Immer, wenn die Hausaufgaben geschafft, der neue Stoff gelernt und der Leistungsstand von Mutti abgefragt worden war, scheuchte sie uns nach draußen. Sie hatte gewollt, dass aus uns keine Stubenhocker wurden und in gewisser Weise wurden wir damit Nestflüchter.

    Allerdings anders, als Mutti gedacht hatte, denn nach dem Abitur hatten wir nicht nur sie und den Preßlerhof verlassen, sondern unseren bisherigen Kosmos. Jeder von uns beiden hatte sich eine neue Welt erobert und leider waren meine Schwester und ich in unterschiedlichen angekommen.

    Nicoles Aussage war knapp, aber bestimmt. Wenn ich ehrlich bin, war mir ein Verkauf ebenfalls naheliegender, als das Ensemble zu behalten. Außerdem fehlte mir die Fantasie, jemals wieder hier zu leben. Das hatte aber ausschließlich mit der Lage des hinter den sieben Bergen liegenden Dorfes zu tun. Zum Preßlerhof selbst habe ich positive Assoziationen. Daher empfand ich Nicoles Absolutismus als Stich ins Herz, aber sie hatte recht. Weg mit dem alten Bauernhof, wenn auch der Verkaufserlös überschaubar sein würde. Aber, gab es dazu überhaupt eine Alternative? Nein, Nicole hatte recht und ich hatte das insgeheim gewusst. Auch mit Maike erübrigte sich jede Diskussion, denn ihre Antwort wäre so klar ausgefallen, wie die Sicht im Winter, wenn arktische Luft über die Elbe schwappt.

    Ich stimmte Nicole zu und stellte meine zweite Frage: „Wollen wir das gemeinsam organisieren? Sie hatte die passende Antwort eingeübt und diese kam wie aus der Pistole geschossen: „Mach’ Du das! Damit fühlte ich mich überrumpelt, denn ich hatte an eine geschwisterliche Arbeitsteilung gedacht, aber nein, Nicole war großzügig genug, an mich zu delegieren. Die Antwort auf die dritte Frage bekam ich vorab von meinem Bauchgefühl beantwortet und prompt kam die Bestätigung: „Nein, ich kann Dir nicht beim Ausräumen helfen. Nehm’ alles, was Dir gefällt und beauftrage eine Firma, den Rest wegzuschaffen. Oder Du findest einen Hofkäufer, der sich um das Gerümpel kümmert. Den folgenden Satz hatte sie zwar nicht ausgesprochen, aber er hing unverschlüsselt als Kernbotschaft zwischen ihren Worten: „Entscheide Du und lass’ mich außen vor! Mit der vierten Frage wollte ich sie aus der Reserve locken, denn ich fragte nach eventuellen Kosten und wie wir damit umgehen würden. Anscheinend hatte sie vorher mit ihrem Mann gesprochen, denn die Antwort schien eingeübt zu sein: „Teilen wir uns, Du wirst nicht einen Euro zu viel bezahlen müssen."

    Die Ironie hinter dieser Antwort war nicht zu überhören. Sicher, ich kannte den Begriff Geldsorgen nur aus den Politmagazinen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die ich mir regelmäßig anschaue, aber Nicole lebte ebenfalls auf der Sonnenseite des Lebens.

    Die Antwort auf meine finale Frage war die Neufassung der Dritten: „Nein, ich werde nicht mehr nach Gebhardswinden kommen und daher auch nicht beim Ausräumen helfen." Sie interessierte ihr alter Teddybär nicht, den Mutti jedes Jahr vom Staub befreit hatte und der immer noch auf Nicoles Bett saß, als würde er die bösen Geister aus dem ehemaligen Kinderzimmer fernhalten. Auch keines der von Vater meisterhaft hergestellten Möbelstücke weckte ihr Interesse.

    Zu ihrer Ehrenrettung sollte ich ergänzen, dass sie Papa nie kennengelernt hatte, verunglückte dieser doch in ihrem Geburtsjahr. Ich selbst war damals drei Jahre alt gewesen und frage mich manchmal, ob die scheinbaren Erinnerungen an meinen Papa nicht Resultat einer, in den Jahren immer stärker gewordenen, Einbildung sind. Sind diese real oder sind es nur die Fotos, die im Wohnzimmer hängen und in meiner Fantasie zu laufen begannen?

    Ich hatte keine Frage mehr an Nicole, aber sie übernahm die Kontrolle über das Gespräch und bot an, dass wir fernmündlich oder per Mail einen Makler beauftragen könnten, wenn es mir ebenfalls schwerfiele, in die gemeinsame Vergangenheit zurückzukehren. Die damit verbundenen Kosten würden wir uns selbstverständlich teilen.

    Mit dieser Offerte hatte ich nicht gerechnet und trotzdem fiel es mir nicht schwer, dem Telefonhörer gleich die Antwort anzuvertrauen: „Danke für das Angebot, aber ich werde auf jeden Fall noch einmal nach Gebhardswinden zurückkehren. Es war scheinbar alles gesagt, aber Nicole setzte einen obendrauf. „Was immer Du behalten willst, was immer ein möglicher Verkauf bringen wird, behalte es oder spende es einer sozialen Einrichtung.

    Da war wieder diese hintersinnige Ironie. Sie wollte ausdrücken, dass sie locker auf die paar Tausend Euro, die unter dem Strich übrigbleiben könnten, verzichten kann und sie von mir das Gleiche erwartet. „Hallo, Schwesterlein, Du bist ganz schön großkotzig geworden, dieser abwertende Begriff sei jetzt erlaubt."

    Damit war endgültig alles gesagt, aber sie ging auf meine Beleidigung nicht ein. Stattdessen richtete sie Grüße an Maike und die Kinder aus, wünschte mir einen schönen Abend und legte auf.

    Ich redete mir ein, dass ich ihr Verhalten nicht persönlich nehmen soll, denn es gab zwischen uns weder einen offenen noch schwelenden Streit. Diesen hatte sie zeitlebens mit unserer Mutti. Wie eine alte Stute hatte diese ihre Tochter weggebissen und damit hatte sich kein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis entwickeln können. Trotzdem müsste Nicole anerkennen, dass sie es der Beharrlichkeit unserer Mutti zu verdanken hat, ein hervorragendes Abitur gemacht und ein erstklassiges Studium absolviert zu haben.

    Bei mir hatte sie nicht so streng sein müssen, denn ich war lernwilliger und pflegeleichter. Nein, Nicoles Aussagen waren Selbstschutz, sie hatte es bis heute nicht geschafft, aus dem langen Schatten Muttis herauszukommen. Immer, wenn sich die beiden Frauen sahen, wirkte die Schwester wie ein verschüchtertes, zerbrechlich wirkendes Geschöpf. Kaum war sie aus Mutters Reichweite, kam Nicoles wahres Wesen zum Vorschein und zeigte eine zur Arroganz neigende selbstsichere Frau. Ich vermute, meine Schwester wollte mit nichts mehr in Berührung kommen, was an Mutti erinnert. Ob ich wollte oder nicht, ich musste das akzeptieren.

    Ein paar Wochen später, im Juli 2013, hatte ich Urlaub genommen. Ich hatte überlegt, mit dem Flugzeug von Fuhlsbüttel nach Nürnberg zu fliegen, hatte mich aber für meinen 5er BMW entschieden. Das Auto war ein Dienstfahrzeug mit Vollausstattung und die Tankrechnung bezahlte die Firma. Außerdem hatte es den Vorteil, dass ich einiges im Kofferraum und auf der Rückbank verstauen konnte, hatte aber keinen Plan, was ich aus Muttis Haushalt mitnehmen werde. Maike, die zuhause blieb, hatte mich ermahnt, nicht jedes Teil nur deshalb anzuschleppen, weil ich es irgendwann in der Hand gehabt hatte. Ich hatte sie verstanden, konnte aber auf der Fahrt in die alte Heimat nicht einmal erahnen, wie schwer mitunter die Entscheidung werden wird.

    Ich erreichte Gebhardswinden und den Preßlerhof im schönsten Sonnenschein eines langsam in den Abend übergehenden Tages. Vom Hochwasser war nichts übriggeblieben. Die ehedem verdreckten Straßen sahen aus, wie sie vom Autofahrer erwartet werden. Der Ulmenbach war in sein flurbereinigungsbegradigtes Bett zurückgekehrt und die einst von Wassermassen platt gewalzten und verschlammten Wiesen zeigten sich im kräftigen Grün.

    Auf dem Hof hatte sich Unkraut in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen angesiedelt. Wie schnell die Natur ihr angestammtes Territorium zurückerobert, wenn sich niemand darum kümmert. Mir fiel auf, wie blank gekehrt der Hof früher war und ich ahnte, welchen Aufwand Mutti betrieben hatte. Offensichtlich begann Gras über meine Kindheit zu wachsen. Bei dieser Erkenntnis musste ich schlucken. Ich parkte den BMW auf dem Hof, fischte den Haustürschlüssel aus dem Handschuhfach und verließ die klimatisierte Atmosphäre und den Schutz des Autos. Bald wird es Abend, aber es war immer noch heiß. Der Schlüssel öffnete die Haustür und ich stand in der Diele. Mir schlug kühle Luft entgegen und ein Geruch, der eine Mischung aus Kerzenwachs, Holz und den Gewürzen war, die Mutti zum Trocknen an die Decke gehängt hatte.

    Obwohl schon seit Wochen nicht mehr gelüftet worden war, roch es nicht muffig, was an den Fenstern lag, die in den Jahrzehnten an Dichtigkeit verloren hatten. Rechts, unterhalb der Treppe, lag, sauber geschlichtet, das Brennholz für den Kachelofen. Auf der gegenüberliegenden Seite die Öffnung des Ofens, in den Mutti das Holz geschoben hatte und darunter die Aschelade. Dieser Ofen hatte uns mit seiner enormen Heizleistung durch die Winter gebracht, nur Nicole und ich hatten in unseren Zimmern die Heizkörper aufgedreht. Ich betrat die große Wohnküche und setzte mich an den Esstisch.

    Die Vergangenheit kehrte zurück, denn ich sah mich, wie ich mit meiner Schwester an diesem Tisch saß und Mutti, ein paar Meter weiter in der Küche, Salzkartoffeln aus dem Kochtopf auf die Teller legte. Gleich gibt es zu essen und danach geht es an die Hausaufgaben.

    Die Zeit schien stehengeblieben zu sein und das wurde versinnbildlicht durch die Wanduhr neben dem verwaisten Fernsehtischchen, deren Gewichte am tiefsten Punkt hingen. Mir fiel das monotone ‚ticktick‘ ein, mit dem sie uns viele Jahre lang begleitet hatte. Ja, ich hatte den Ton nicht mehr wahrgenommen. Jetzt fehlte er mir und ich stand auf, um die Gewichte hochzuziehen. Brav nahm sie ihre Arbeit auf und ich stellte die aktuelle Zeit ein. Ich kehrte zu meinem Stuhl zurück. Mein Blick blieb am Kachelofen hängen. Ich erinnerte mich, wie ich manchmal mit Mutti auf der Ofenbank gesessen hatte. Sie hatte mich Vokabeln abgefragt oder eine Geschichte erzählt. Warum bin ich zurückgekehrt?

    Es dämmerte und intuitiv betätigte ich den Lichtschalter neben der Wohnzimmertür. Ich hätte es wissen müssen, denn nichts geschah. Mutti war im Laufe der Jahre seltsam geworden und hatte beschlossen, die Lichtquellen durch Kerzen zu ersetzen. Sie hatte es vermieden, die Elektrizität zu nutzen, wo es nur ging, aber mit Kühlschrank und Waschmaschine hatte sie gut leben können. Überall standen Kerzenhalter und ich hätte nur eine beliebige Schublade zu öffnen brauchen, um Ersatzkerzen zu finden.

    Aus meinem BMW holte ich die Sporttasche, in der ich Kulturbeutel und Wäsche verstaut hatte, schloss das Auto ab und zog hinter mir die Haustür zu. Im sterbenden Licht des Tages eilte ich die enge Holztreppe hinauf.

    Alles war wie immer, sauber und geordnet. Selbst der alte Teppichläufer, der von der letzten Treppenstufe zu Muttis Schlafzimmer führte, lag so akkurat, als hätte sie ihn erst gestern ausgerichtet. Ihre Schlafzimmertür war geöffnet und das wäre zu ihrer Zeit undenkbar gewesen. Ich glaube nicht, dass ich in dem Raum jemals alleine war. Jetzt stand die Tür offen, was ich nur damit erklären konnte, dass wir sie nicht geschlossen hatten, als wir in Muttis Kleiderschrank die Bekleidung herausgesucht hatten, mit der sie in den Sarg gelegt worden war. Ein Gefühlsblitz zuckte durch meinen Körper und ich zog mich schnell zurück!

    Dann wandte ich mich der Tür zu, die mein früheres Reich begrenzte. Sie beschützte mein Jugendzimmer und in dieses trat ich ein. Alles lag an seinem Platz. Meine Schulbücher belagerten das Regal neben dem Schreibtisch, auf dem Vaters Bild stand. Mutti hatte ihn als mein großes Vorbild dargestellt und manchmal hatte ich minutenlang auf das freundlich lächelnde Gesicht gestarrt. Warum, Papa, hast du uns so früh verlassen? Wie gerne hätte ich, wie meine Freunde, auch einen Papa gehabt, mit dem ich im Herbst einen Drachen hätte basteln können oder durch den Wald schleichen, um Tiere zu beobachten, oder auf der Wiese Fußball zu spielen. Leider blieb mir das verwehrt und unsere Mutti hatte nie den Vaterersatz geben wollen.

    Dabei hatte sie mit uns einiges unternommen. Wir waren mit ihr auf den Feldern, wenn sie mit dem Traktor säte oder erntete, im Herbst hatten wir Pilze gesammelt und jeden Tag waren wir im Stall. Wie stolz war ich, als sie mir mit sechs Jahren die Verantwortung übertragen hatte, die Hühner zu füttern. Am Morgen war das nach dem Aufstehen meine erste Aufgabe gewesen.

    Die Sonne hatte genug von meinen Gedanken und sich im Westen verkrümelt. Es wurde dunkel. Ich stellte mir vor, wie sie auf dem Schreibtischstuhl gesessen und über die vergangenen Jahre nachgedacht hatte. Warum waren ihre Kinder so undankbar und hatten sie nach dem Gymnasium verlassen? Ich sah eine alte Frau mit gramgebeugten Rücken auf das Bild meines Vaters starren. Mir war nach gutem, altem Kerzenlicht zumute und ich zündete die Kerze an. Ein fahles Licht nahm den Kampf gegen die vom Fenster hereindrückende Dunkelheit auf.

    Mein Bett war bezogen und schien auf mich gewartet zu haben. Ich nahm die Einladung an, zog mich aus und war wenige Minuten später eingeschlafen, was wahrscheinlich an meiner Müdigkeit lag oder dem Unterbewusstsein, heimgekommen zu sein.

    Die folgenden Tage durchforstete ich systematisch alle Schränke und Schubladen des Hauses. Ich begann im Wohnzimmer. Die Vitrine stand voller Geschirr und ansonsten war da nichts. In den Küchenschränken fand ich Besteck, verschiedene Kochlöffel, Kochtöpfe, kurzum alles, was zum Kochen benötigt wird. Alles hatte seinen Platz, geordnet und sauber, denn Mutti war ein Muster an Ordnungssinn. Ich hatte einen Notizblock dabei und schrieb den Inhalt jedes Schrankes, jeder Schublade auf.

    Am dritten Tag öffnete ich die Tür zu Muttis Schlafzimmer. Es klingt albern, aber ich hatte Herzklopfen. Ich kam mir wie ein Eindringling vor und rechnete damit, dass etwas passieren wird, doch meine Fantasie spielte mir nur einen üblen Streich. Im großen Kleiderschrank lagen Unterwäsche, Strümpfe und Bettzeug gestapelt auf den Zwischenböden, Blusen, Röcke und Hosen auf Kleiderbügeln aufgehängt.

    Im Nachtischschränkchen fand ich zu meiner Überraschung eine Bibliothek, denn darin waren zweiundvierzig Bücher verstaut, die von verschiedenen Herstellern stammten, aber in etwa das gleiche Format hatten. Mir war von der ersten Minute an klar, dass das Tagebücher sind. Sie waren uralt, die Umschläge fleckig und abgegriffen, aber die römischen Ziffern auf den Umschlagdeckeln waren gut zu erkennen. Ich griff mir Eines, das die Nummer ‚VI‘ trug und schlug es auf. Es war eng beschrieben, sauber geführt, aber mit der Schrift konnte ich nichts anfangen. Später lernte ich, dass es sich um die deutsche Kurrentschrift handelt. Ich klappte es wieder zu und ahnte, dass ich das Vermächtnis meiner Mutter entdeckt hatte.

    Nach dieser Entdeckung war mein Interesse erlahmt, weiter an der Bestandsaufnahme zu arbeiten. Ich schlurfte in die Küche und brühte Kaffee auf. Damit bewaffnet, setzte ich mich auf die Eckbank des großen Esstisches und starrte auf die dünne Wasserdampfsäule, die aus der Tasse vor mir aufstieg. Dann blickte ich aus dem Fenster hinaus auf den Hof. Ich sah das Heck meines BMW, aber das Auto interessierte mich gerade überhaupt nicht.

    Auf der anderen Seite des Hofes stand ein kleines Gebäude, das ehemalige Austragshaus, welches seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt wurde. Ich erinnerte mich, dass ich Mutti einst vorgeschlagen hatte, es abreißen zu lassen, denn früher oder später würde das Dach undicht und Wasser eindringen. Aber sie war stur geblieben und hatte stattdessen ein paar Ziegel austauschen und die Dachrinne richten lassen. Dieses Gebäude hatte ich seit Jahren nicht mehr betreten und daher keine Ahnung, was es enthielt.

    Auch in der Scheune war ich noch nicht, hatte nicht einmal daran gedacht, meinen PKW darin abzustellen. Sicherlich beherbergte sie den Opel Kadett, sowie den Fahr D 180 H-Traktor, beides Fahrzeuge, die heute nur noch im Museum zu besichtigen sind. Außerdem warteten darin Pflüge, Eggen und Heuwagen auf die Ewigkeit.

    Neben dem Wohnhaus hatte ich es bis zum ehemaligen Schweinestall gebracht. Dort war die Ölzentralheizungsanlage untergebracht, die ich eingeschaltet hatte, um nicht kalt duschen zu müssen. In den Tanks lagerte genug Heizöl, um über einen Winter zu kommen, und dann waren im Kuhstall noch Unmengen an Brennholz aufgeschlichtet. Diese Menge würde für drei kalte Jahreszeiten reichen.

    Ich erinnerte mich, wie Mutti das Holz auf dem Hof zerteilte. Später übte ich mich im Spalten. Ich weiß nicht mehr, ob sie die Bäume selbst gefällt hatte, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich hatte das der Nachbar erledigt, aber wir waren draußen im Wald gewesen und hatten Stämme in Einmeterstücke gesägt und danach aufgestapelt. Ein oder zwei Jahre später hatten wir sie mit dem Traktor nach Hause gebracht und im Hof gespalten. Mir waren fast die Arme abgefallen, aber das Gefühl, es geschafft zu haben, war unbeschreiblich gewesen.

    Mutti hatte zur Belohnung Kuchen gebacken, einen gedeckten Apfelkuchen, mein Lieblingsgebäck. Wenn wir ihn verspeist hatten, hatte sie sich für meine Hilfe bedankt. Mutti war ein höflicher Mensch und diese Eigenschaft hatte sie mir weitergegeben. Mir fiel ein, dass sie nach meinem Studienbeginn das Holz selbst zerteilen musste. Wie mühselig war das für eine zierliche Person? Vor den Holzstapeln stand der Weidenkorb, mit dem sie die Scheite hereingetragen hatte. Ich hatte lieber die Axt geschwungen, als Holzscheite geschleppt.

    Im Kuhstall lagen jede Menge landwirtschaftlicher Utensilien herum. Mutti hatte sich von mir in einem Teil eine Wäscheleine spannen lassen, damit sie Wäsche trocknen konnte, wenn es draußen regnete. Hier hingen ein paar Handtücher, die sie wenige Tage vor ihrem Tod aufgehängt hatte. Mich überkam tiefe Melancholie.

    Ich trank einen Schluck Kaffee und trottete in den Stall, um die Wäsche abzunehmen. Mit einem Stapel kehrte ich in die Wohnstube zurück. Soll ich jetzt etwa bügeln? Mir fiel ein, dass Mutti mit dem elektrischen Bügeleisen Frieden gefunden hatte. Nein, ich werde nicht das Bügelbrett mitsamt dem Eisen holen und anfangen. Stattdessen setzte ich mich zurück zu meiner Kaffeetasse und grübelte. Ja, Nicole hatte die rational bessere Entscheidung getroffen. Damit ersparte sie sich dieses Tal der Tränen, durch das ich gerade watete. Die Parabel mit ihrer bitteren Endgültigkeit gab mir den Rest, schließlich war Mutti in den hochwassergefluteten Wiesen am Ulmenbach ertrunken.

    Ich hatte eine Entscheidung getroffen, wagte nur nicht, sie offen auszudenken, aber, warum zögerte ich, mir die Wahrheit zuzugestehen? Ich werde nicht, wie vorgesehen, in dieser Woche einen Makler mit dem Verkauf des Hofes beauftragen. Bevor ich den Schritt gehe, musste die Bestandsaufnahme abgeschlossen sein und dazu gehörte das Studium der Tagebücher. Ich wollte nicht durch den Verkaufsauftrag vollendete Tatsachen schaffen, um es hinterher zu bereuen. Nur musste ich diese, meine Entscheidung Nicole und meiner Frau beibringen. Deren Reaktion konnte ich mir lebhaft vorstellen.

    Den Rest meines Aufenthalts verbrachte ich, die Nachbarn, Bernhard und Jutta Grau, zu besuchen, die schon längst gemerkt hatten, dass ich hier war. Die Beiden luden mich zum Abendessen ein, obwohl sie ein bisschen verschnupft waren, dass ich mich nicht eher gemeldet hatte. Dabei schlossen wir einen Pachtvertrag über die Felder und Wiesen ab.

    Bernhard war ein paar Jahre älter als ich und hatte zwei Söhne im Jugendalter, patente Burschen, die ähnlich fleißig wie ihr Vater waren. Der Ältere hatte bereits geäußert, dass er in ferner Zukunft den Hof übernehmen möchte und so wie ich ihn beobachtete, passte das gut zu ihm. Ich fragte Bernhard, ob er und seine Jungs regelmäßig nachsehen könnten, ob auf dem Preßlerhof alles in Ordnung ist. Sie sagten zu, aber eigentlich war die Frage überflüssig, denn genau das hatten sie seit Muttis Tod gemacht. Ich war froh, dass das geklärt war, denn damit hatte ich mir Zeit gekauft.

    In Markt Bronnheim besuchte ich meine Tanten. Na ja, nach Vaters frühem Tod hatte sich Mutti von ihrer Schwiegerfamilie distanziert und trotzdem hatten Nicole und ich jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Geschenk bekommen. Zuletzt hatten wir uns bei Muttis Beerdigung gesehen. Um ehrlich zu sein, ein herzliches Wiedersehen sieht anders aus, was daran liegt, dass die Tanten und ich wenig gemeinsame Themen haben. Wenn ich etwas von meinem Beruf erzählte, hörten sie scheinbar interessiert zu, waren aber in Wirklichkeit gelangweilt. Wir lebten zur gleichen Zeit auf dem gleichen Planeten, aber trotzdem in einer anderen Welt. Das wussten wir alle und daher herrschte heimlicher Konsens, dass ich nicht zu lange bleiben werde.

    Der Festnetztelefonanschluss meiner Mutti war abgemeldet und der größte Teil des Preßlerhofs lag im Funkloch. Kurioserweise fand mein Handy nur in Nicoles ehemaligem Zimmer Netzzugang. Ich saß auf ihrem Schreibtischstuhl, als ich sie anrief. Wie erwartet, kippte Schwesterlein wegen meiner Meinungsänderung bezüglich des Hofverkaufes kübelweise Spott in mein rechtes Ohr. Was dieses alles ertragen musste!

    Ich hatte die Tagebücher nicht erwähnt, sondern meine Entscheidung damit begründet, dass es mir nicht möglich war, die Bestandsaufnahme abzuschließen. Sie nannte mich einen sentimentalen Idioten, denn was sollte meiner Meinung nach aufgenommen werden? „Weg mit dem ganzen Mist, koste es, was es wolle, und wenn Du den Hof länger als notwendig behalten willst, komm’ bloß nicht auf die Idee, mit mir die damit verbundenen Kosten teilen zu wollen. Das kannst Du gerne schriftlich haben." Mir kam ein Gedanke und daher entgegnete ich ihr, dass ich sie darum bitte.

    Nicole war schlagfertig und antwortete, dass, wenn es mir um Formalismus ginge, ich ihr einen Entwurf zuschicken solle. Den würde sie dann unterschreiben. Ja, warum eigentlich nicht? Nicole ging es nicht ums Geld, aber sie wollte mit Macht die Vergangenheit abstreifen und vielleicht sogar die Verbindung zu mir kappen, war das gemeinsame Erbe erst abgewickelt. Als ich sie mit der Aussage konfrontierte, dass sie unserer Mutter immer ähnlicher wird, wurde sie sauer und meinte, dass wir das Telefonat beenden sollten.

    Maike war ebenfalls verärgert, als ich ihr nach der Heimfahrt am Samstagmittag meine Entscheidung gebeichtet hatte. Was will ich denn mit einem alten Haus anfangen, 600 Kilometer und sechs Fahrstunden entfernt? Tja, das war eine gute Frage, denn die Antwort kannte ich selbst nicht.

    In den nächsten Tagen wurde ich vom normalen Leben eingefangen, sprich Airbus und meine Familie sorgten für Ablenkung. Trotzdem kam ich von den Tagebüchern nicht los. Hatte ich früher abends einen Roman zur Hand genommen, um zu schmökern, so begann ich jetzt, diese Bücher zu studieren. Zuerst musste ich jedoch die Kurrentschrift lernen, was mir dank dem Internet schnell gelang. Dann galt es, beim Lesen Routine zu entwickeln, und das dauerte seine Zeit.

    Ich hatte mit dem Buch mit der römischen Ziffer I begonnen. Der erste Eintrag war mit dem 1. Januar 1892 datiert und der Name der Besitzerin war wunderschön kalligraphiert: Rosalia Dix. Mit diesem Namen kann ich Einiges anfangen, war sie doch die legendäre Ersatzmutter meiner Mutti, von der sie häufig erzählt hatte. Ich hielt ein Büchlein in Händen, das mehr als 120 Jahre alt war. Deren Besitzerin zählte damals keine sechzehn Lenze.

    Anfangs hatte ich Scheu, in die intimsten Geheimnisse einer mir fremden Person einzudringen, bis mir einfiel, dass Mutti ebenfalls nicht die eigentliche Besitzerin war. Es musste Rosalia viel bedeutet haben, dass Mutter in den Besitz der Bücher gekommen war. Weiterhin vermute ich, dass es Mutti wichtig war, dass diese nach ihrem Ableben gefunden werden. Sonst hätte sie sie bereits vor Jahrzehnten vernichtet.

    Rosalias Bücherreihe endete 1961 mit der römischen Nummer XXIV, ihrem Todesjahr. Für jede Woche gab es eine Seite und sie beschrieb mit großer Ausdrucksweise, was sie erlebt oder beobachtet hatte. Wenn sie an etwas interessiert war, war Rosalia nicht vor intensiver Recherche zurückgeschreckt. Jedenfalls fand ich keine andere Erklärung für die Beschreibung der Rothfuss-Familie im Band Nr. XIX. Diese konnte sie nur von James William Rothfuss in Erfahrung gebracht haben. Möglicherweise hatte sie nach einer Schwachstelle gesucht, um die Heirat meiner Großmutter Käthe mit dem Amerikaner zu verhindern. Über Käthes Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika konnte sie nur durch die Briefe meiner Oma erfahren haben. Leider fand ich diese weder im Nachlass noch ergaben die Tagebücher ein vollständiges Bild.

    Ich recherchierte daher in sozialen Netzwerken und kam in Kontakt mit Mary Oveson, einer Tochter meiner Oma. Diese war unverheiratet, arbeitete im Büro des Senators des Bundesstaates Nord-Dakota in Bismarck und hatte Zeit. Nachdem ich ihr gemailt hatte, wer ich bin, kamen zuerst ein paar Prüffragen, wie Geburtsdatum und Geburtsort meiner Großmutter. Als ich diese zu ihrer Zufriedenheit beantwortet hatte, hätte ich sie selbst nach der Farbe ihrer Unterwäsche fragen können. Jedenfalls bekam ich das nicht gerade glückliche Leben meiner Großmutter erzählt.

    Die neue Brieffreundschaft hatte aber auch eine zweite Seite, denn Mary, dem Verwandtschaftsgrad nach meine Stieftante, hatte auf einmal die Idee, ihren Urlaub in ‚good old Germany‘ zu verbringen. Ich ahnte, dass sie plante, mich als Anlaufstelle zu benutzen, aber das wollte ich nicht. Meine Oma hatte Mutti verlassen und ich hatte kein Interesse, die Familienverbindung eine Generation später aufleben zu lassen. Daher streckte ich die Intervalle, in denen ich auf ihre Mails antwortete, und gab damit ein klares Signal. Mary hatte anscheinend verstanden, denn aktueller Stand ist, dass ich seit einem Vierteljahr nichts mehr von ihr gehört habe. Hoffentlich steht sie nicht morgen vor der Haustür!

    Die ersten Jahrzehnte war Rosalias Schrift geschwungen und sauber, aber dann wurde sie flüchtiger, als wollte sie der Vergesslichkeit ein Schnippchen schlagen. In ihren späten Jahren wurde die Schrift undeutlich. Es kostete mich Mühe und Zeit, die Worte zu entziffern.

    Aber damit hatte ich nicht alle Tagebücher gelesen, denn meine Mutti hatte ihre eigenen geschrieben. Sie hielt sich jedoch nicht an das Muster von einer Seite pro Woche, denn sie schaffte es nur bis zur Nummer XVIII. Ihre Eintragungen begannen 1950, da war sie zehn Jahre alt und ich vermute, dass sie dazu von ihrer Ziehoma motiviert worden war.

    Muttis Tagebücher waren in lateinischer Schreibschrift verfasst. Sie hatte sich erkennbar Zeit genommen, dem jeweils aktuellen Geschehen Respekt zu zollen. Ähnlich ihrer großen Lehrmeisterin schrieb sie eng und platzsparend. Muttis Tagebücher endeten im Mai 2013, ihrem Todesmonat.

    Ich war bis ins Mark erschüttert, denn in achtzehn Büchern stand das Leben meiner Mutter. Die ersten vier davon waren zeitgleich mit Rosalias Nummern XIX bis XXIV und damit lernte ich für die Zeit von 1950 bis 1961 die Betrachtungsweise von Mutti in ihren Mädchenjahren und ihrer Erzieherin kennen. Ein faszinierendes Zeitdokument.

    Vieles von dem, was ich las, war mir vollkommen unbekannt und wie konnte es sein, dass wir neunzehn Jahre unter einem gemeinsamen Dach gelebt hatten und es meine Mutti fertiggebracht hatte, ein mir unbekanntes Eigenleben zu führen?

    Sie hatte für jeden Verstorbenen, der für sie von Bedeutung war, einen Baum gepflanzt. Dafür hatte Mutti im Wald eine Lichtung geschlagen. Für Rosalia hatte sie eine Weiß-Tanne ausgewählt. Es musste ein Exemplar dieser Baumart sein, da sie sich am Weihnachtslied ‚Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter‘ orientiert hatte. Ich verstand, es war eine Verbeugung vor der lebenslangen Fürsorge dieser großherzigen Frau.

    Laut ihrem Eintrag hatte sie beim Pflanzen des Baumes eine Seite von Rosalias Tagebüchern unter die Wurzel gelegt. Stimmt, mir war beim Studium aufgefallen, dass das erste Blatt des ersten Bandes fehlt. Vermutlich hatte Rosalia von ihrer Motivation, mit dem Tagebuchschreiben zu starten, berichtet. Jedenfalls kam ich zu diesem Schluss, da das zweite Blatt mit dem Abschluss der Präambel beginnt.

    Ich vermisste aber auch ein Blatt im Band XVIII, welches die beiden ersten Dezemberwochen des Jahres 1942 betrifft. Das war für mich eine Enttäuschung, denn damit fehlt die Dokumentation eines bedeutenden Zeitabschnittes von meiner Großmutter Käthe. Immerhin hatte sie wenige Wochen vorher die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhalten und war einige Monate später nach Quintenthal übergesiedelt. Wohl oder übel musste ich mich damit abfinden.

    Für Papa hatte sie einen Ahorn ausgewählt. Ich verstand ihren Gedanken, denn mein Vater war Schreinermeister und Ahorn ist das härteste Laubholz, das in Deutschland wächst. Unter der Wurzel liegt eine Spule mit dem Spulenwirtel, einem Teil des Spinnrades, den mein Vater einst als Strafe hatte fertigen müssen, als er als Lehrling die Werkstatt nicht ordentlich aufgeräumt hatte. So hatte sie im Verlauf der Jahrzehnte Laub- und Nadelbäume gepflanzt. Jeder Baum war einem ihr wichtigen Verstorbenen gewidmet und unter jeder Wurzel hatte sie eine Kleinigkeit deponiert. Alles in allem hatten sich neunzehn Bäume versammelt. So war im Laufe der Jahre ein spezieller Hain entstanden, nur, das hatte ich nie mitbekommen. Wo hatte ich meine Zeit oder Gedanken verbracht?

    Mit dieser Erkenntnis konfrontiert, konnte ich es nicht erwarten, nach Gebhardswinden zu fahren. An einem Freitagnachmittag im März 2014 war es soweit gewesen und ich hatte den Abend bei den Graus verbracht. Diese hatten am Vortag geschlachtet. Es gab Schlachtschüssel und dazu Berge von Sauerkraut und Schwarzbrot. Wenn das Maike gesehen hätte, hätte sie sich mit Grausen abgewendet. Die fränkische Hausmannskost spülten wir mit dem Bier einer kleinen Brauerei hinunter. Zur Unterstützung der Verdauung öffnete Bernhard eine Flasche Zwetschger. Das, was da am Tisch stand, war im Alten Land nicht vorstellbar. Offenbar lebte ich in einem anderen Kulturkreis und mich beschlich das Gefühl, in den letzten Jahren etwas vermisst zu haben.

    Am Samstagmorgen war ich bei Sonnenaufgang mit klarem Kopf auf den Beinen. Ich verließ den Preßlerhof durch die Gartentür. Durch den Wirtschaftsgarten hindurch, schritt ich über die Wiese zum Ulmenbach und überquerte die kleine Brücke. Auf der anderen Bachseite, über den Feldweg, hinauf zum Waldrand und in den Wald hinein. Da standen die in den Tagebüchern beschriebenen Pflanzen. Mutter hatte das Unterholz zwischen den Bäumen entfernt, denn im Gegensatz zum restlichen Wald war alles frei. Hier hatte sich Mutti ihren Friedwald geschaffen. Flankiert von zwei rund drei Meter hohen Eiben stand, mit Blick auf die Buche, eine Holzbank. Auf ihr hatte sich Moos angesiedelt.

    Die Bank lud mich zum Setzen ein, aber ich zählte zuerst die Bäume und kam auf zweiundzwanzig. Hoppla, ich musste mich verzählt haben, also begann ich von vorne. Wieder zweiundzwanzig und dieses Mal war ich mir sicher, richtig gezählt zu haben. Ich suchte nach dem Fehler und fand als Fehlerursache die beiden Eiben. Diese waren niemanden gewidmet, sondern beschützten nur Hain und Bank. Trotzdem stand immer noch ein Baum herum, der in den Tagebüchern nicht erwähnt war. Ich kramte meine Liste aus der Hosentasche und hakte die Eigentümer ab. Es blieb ein Schwarzer Holunder übrig. Hatte ich etwas übersehen?

    Mir waren die wahrscheinlichen Flecken auf der Hose egal, ich setzte mich auf die Holzbank. Von links nach rechts ließ ich meinen Blick schweifen und da wuchsen all die Bäume, die symbolisch für einen Menschen standen. Zwischen den Stämmen konnte ich hinüber nach Gebhardswinden gucken, ich sah die Kirche, das Wirtshaus und da lag unser Preßlerhof. Mir liefen Tränen die Wangen hinunter.

    Dies war der Platz, an dem meine Mutti Ruhe gefunden hatte. Hierher musste sie häufig gekommen sein. Als sie glaubte, dass das tagelange Hochwasser am Ulmenbach soweit zurückgegangen war, um mit dem Traktor durchfahren zu können, war das Fatale geschehen: Der alte Fahr blieb stecken und Mutti musste ins Wasser, um ans Trockene zurückzukommen. Dabei rutschte sie aus, wurde von der Strömung mitgerissen und ertrank. Welche Ironie des Schicksals: Beim Besuch der Toten wurde sie von diesen geholt!

    Ich hatte das Zeitgefühl verloren und saß stundenlang auf der Bank. Bei der Betrachtung der einzelnen Bäume und der Menschen, die sie symbolisierten, formten sich Bilder. Gab es von den Zeitgenossen meiner Mutti Fotos, die ich kannte, so begannen sich diese zu bewegen. Zuerst langsam, als würden sie in Zeitlupe verharren, und dann immer schneller, wie wir unseren normalen Bewegungsablauf kennen. Zu guter Letzt tobte um mich herum eine Gesellschaft von Menschen, von denen ich kaum einen zu Lebzeiten gekannt hatte. Diese unterhielten sich, sie lachten, sie stritten sich, sie zeigten ihre Eigenheiten und Angewohnheiten, sie lebten ihre Arroganz oder Bescheidenheit genauso aus, wie ihren Reichtum oder ihre Armut.

    Und dabei fiel mir auf, dass fast alle Personen, die von Rosalia Dix und ihrer Schwester Helene erzogen oder zumindest beeinflusst worden waren, einen redlichen Weg genommen hatten. Eine von zwei Ausnahmen war meine Oma, aus der niemals etwas anderes als eine Dienstmagd geworden wäre, wenn alles normal gelaufen wäre. Leider war sie nicht bereit gewesen, am neuen Deutschland mitzuarbeiten und der Verantwortung ihrer Tochter gegenüber gerecht zu werden. Deswegen hatte sie den scheinbar einfacheren Weg in die Immigration nach Amerika gewählt. Dass darunter meine Mutti nicht litt und letztendlich Nicole und ich davon profitierten, lag wiederum an den Dix-Schwestern. Die zweite Ausnahme war ein gewisser Kurt Pohl, der sich spektakulär nach oben geboxt hatte, aber leider in der falschen Organisation, aber dazu komme ich später.

    So saß ich auf dieser von Moos besiedelten Bank und die Feuchtigkeit hatte den Weg durch Hose und Unterhose gefunden. Als unbeteiligter Beobachter meiner Fantasie registrierte ich das nicht. Die unterschiedlich großen Bäume um mich herum bildeten die verschiedenen Charaktere ab. Ich hatte keine Rolle in diesem Spiel, wusste aber in diesem Augenblick, dass dieser einzigartige Moment für alle Zeiten verewigt werden musste. Mein Geisteskino hatte sein Programm beendet und die Geister verschwanden. Die Gegenwart übernahm wieder das Kommando, der Moment des Augenblicks auf dieser Holzbank, auf der meine Mutti jeden Tag gesessen hatte. Vielleicht war in ihrem Kopf das gleiche Programm abgelaufen, wie bei mir in den letzten Stunden.

    Ein neues Gespenst tauchte urplötzlich auf. Geräuschlos hatte es sich angeschlichen und erst als es unter mir miaute, nahm ich Rübezahl wahr. Ich war überrascht, dass sich Katzen so weit von ihrem Zuhause entfernen, aber definitiv gehörte dieser Hain zu seinem Revier. Der Kater war über zehn Jahre alt und damit ein gesetzter Herr. Selbstverständlich kannte er mich, auch wenn sich die Familie Grau seit Muttis Tod um ihn kümmerte, und selbstverständlich war der Preßlerhof immer noch sein Stammsitz.

    Rübezahl sprang auf die Bank und mir war klar, dass er jetzt gestreichelt werden wollte. Nein, es bedurfte keiner großen Gabe, dass es dieses Ritual bereits gegeben hatte, als hier meine Mutter gesessen hatte. Nur kraulte ihn jetzt deren Sohn. Nach ein paar Minuten hatte der Kater genug Streicheleinheiten bekommen, sprang von der Bank und schlich zum Waldrand. Ich verfolgte ihn mit den Blicken, bis er im Gras verschwunden war. Schon seltsam, wir hatten unsere Katzen immer Rübezahl genannt und dabei war es egal, ob es sich um eine Kätzin oder einen Kater gehandelt hatte. Dieser alte Herr trug in der Ahnengalerie der Hauskatzen des Preßlerhofs die Nummer acht.

    Ich erhob mich von der Bank und schaute mich um. Nein, hier war weit und breit kein anderes menschliches Leben, dieser Ort war ein Hort der Ruhe und Abgeschiedenheit, dieser Ort war einmalig. Er war das Muttis Heiligtum und mit dem heutigen Tag wurde er meines. Ich wollte mir überlegen, welcher Baum sie am besten charakterisiert und diesen werde ich hier pflanzen. Mein Weg führte mich zum Preßlerhof zurück und ich schaltete meinen Laptop ein.

    Im letzten Jahr hatte ich im Alter von zweiundvierzig Jahren die zweiundvierzig Tagebücher gefunden und jetzt wollte ich das erste Kapitel meines Buches verfassen. In ihm werden all diese Menschen verewigt, für die ein Baum drüben im Wald steht. Die weiteren Kapitel werde ich zuhause in Jork im Alten Land schreiben. Ich werde in meinem Büro im Dachgeschoss unseres Hauses sitzen und durch die Panoramascheibe schauen. Mein Blick wird über die Apfelpflanzungen schweifen und halbrechts werde ich den Deich erkennen, der uns vor der Elbe schützt, aber meine Gedanken werden viele hundert Kilometer weit fliegen. Grundlage des Buches werden die Tagebücher sein. Die Lücken dazwischen und der Teil des Lebens der Charaktere, der den beiden Tagebuchschreiberinnen unbekannt war, werde ich mit meiner Fantasie füllen.

    Nur zwei Dinge machten mir zu schaffen: Da ist zum einen der Schwarze Holunder, ein mächtiger Busch, acht Meter hoch. Ich werde noch einmal die Tagebucheinträge studieren, bin mir aber sicher, nichts zu finden. Aber so, wie die Pflanze im Hain steht, war sie bewusst gepflanzt worden.

    Und zum anderen das fehlende Blatt in Rosalias Band XVIII und damit die beiden ersten Dezemberwochen 1942.

    Das ist doch kein Zufall.

    1 European Aeronautic Defence and Space Company

    3. Das Wandern ist des Fabrikanten Lust – Fürth (1898)

    Johannes Ammon war ein vermögender Mensch. Seine prosperierende Firma, die ‚Spiegelfabrik Ammon‘, in der Fürther Gustavstraße hatte fast 100 Arbeiter. Diese arbeiteten sechs Tage in der Woche in der Fabrik, die im Hinterhaus eingerichtet war, und sorgten dafür, dass der Schlot immer rauchte. Er und seine Familie wohnten im Vorderhaus im ersten Stock und hatten die Gustavstraße im Blick. Johannes Ammon war von gedrungener Gestalt und trug stets einen dreiteiligen Anzug. Durch die licht gewordenen Haare war ein strenger Seitenscheitel gezogen und auf den, an den Seiten gezwirbelten, Schnurrbart war er ungemein stolz. Wenn er nicht in seinem Büro im Kontor saß, war er in der Fabrik. Bei aller Strenge galt Johannes Ammon als lobenswerter Brotgeber, denn er hatte in einem Seitenflügel im Hof Kammern eingerichtet, in dem die Arbeiter schliefen. Der Mietzins, den er dafür vom Lohn abzog, war deutlich geringer als der von Miethaien, die in ihren Mietkasernen Schlafplätze auf Zeit anboten. Deren Kammern beherbergten mehrere Schlafstätten, die sich jeweils zwei Mann teilten. Während der Fabrikant mit seiner Frau Mathilde und dem im Haus lebenden jüngeren Sohn Wilhelm in einer großzügigen Wohnung logierten, lebten siebzig Arbeiter auf einer deutlich kleineren Fläche im Hinterhaus.

    Ammons Verkaufsschlager waren mit Quecksilber beschichtete Gebrauchsspiegel. Nachteilig war die Hochgiftigkeit des Metalls, weshalb neue Arbeiter nach kurzer Zeit unter Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit litten. Später kamen Nieren- und Leberschäden dazu und kaum Einer erreichte das vierzigste Lebensjahr. Das wussten die Arbeiter und konnten daher nur durch hohe Löhne gehalten werden. Erschwerend kam dazu, dass die meisten Konkurrenten auf Silberbeschichtung umgestellt hatten, was weniger gesundheitsgefährdend war. Diese Beschichtung hatte allerdings das Manko, dass das Spiegelbild einen Gelbstich bekam und die Spiegel zum Anlaufen anfällig waren. Bei quecksilberbeschichteten Spiegeln gab es diese Nachteile nicht.

    Es war dem Fleiß von Johannes Ammon und seinen Arbeitern zu verdanken, dass sie Kunden nicht nur im Deutschen Reich hatten, sondern auch nach Holland, England und Italien exportierten, um nur die wichtigsten Märkte zu nennen.

    Der Unternehmer gönnte sich zweimal im Jahr eine Auszeit von jeweils einer Woche. Eine verbrachte er mit seiner Familie am Chiemsee, wo es Mathilde wichtig war, am Seeufer zu flanieren, während Johannes und die Söhne wie Schoßdackel hinterher trotteten. Wenn das Wetter nicht mitspielte und die Sommerfrische im Hotelzimmer stattfand, war die Laune im Keller und Johannes’ Wunsch, die Fabrik möglichst schnell wieder zu sehen, übermächtig.

    Die zweite Woche verbrachte Johannes Ammon alleine und jedes Jahr zog es ihn in exotische Gefilde. Über Nürnberg ging es nach Furth im Wald, wo die königlich-bayerischen sowie die k. u. k.-Beamten seinen Pass inspizierten, aber keinen Anlass sahen, ihm die Weiterfahrt zu verwehren. Ja, Johannes Ammon verließ das Königreich Bayern und reiste mit der Bahn in die österreichisch-ungarische Monarchie ein. Die Reise führte nach Prag, wo er auf seinen Anschlusszug wartete. Hier war es schon exotisch, denn, was hörte er nicht alles für Sprachen: Da war das Tschechische, dort das österreichisch gefärbte Deutsch, hier klang es Ungarisch und ein paar Meter weiter Ukrainisch. Es gab aber keine Orientierungsprobleme, denn alle Anzeigen waren ebenfalls auf Deutsch geschrieben und so fand Johannes Ammon den Bahnsteig, von dem es weiter nach Groß Wossek² ging. Der Tag war ein langer und so nutzte er die Wartezeit, um anständig zu Essen. Darauf hatte sich Ammon das ganze Jahr gefreut, denn in der Bahnhofsgaststätte gab es saftiges Gulasch mit Böhmischen Knödeln und dazu ein Pilsener. Hier spürte er, wie seine Erholung einsetzte. Dann wurde es Zeit, den braunen Lederkoffer zu schnappen und zum Bahnsteig zu eilen. In bester Laune schlängelte sich Johannes Ammon durch die Menschenmassen und kam rechtzeitig am Zug an, um es sich im Erster-Klasse-Abteil gemütlich zu machen. Vorher hatte ihm ein Bahnbediensteter den Koffer abgenommen.

    In Groß Wossek stieg Ammon aus und auf die von der ‚Österreichischen Nordwestbahn‘ betriebenen Strecke nach Trautenau³ um. Wie in jedem Jahr erwischte er die letzte Verbindung des Tages und bald stampfte die Dampflok hinauf durch enger werdende Täler einer reizvollen Landschaft. Als er in Trautenau ankam, war es dunkel. Ammon nahm vom Bahnbeamten seinen Koffer in Empfang, aber nur, um ihn an einen Kofferträger weiterzureichen. Mit diesem hatte er einen kleinen Spaziergang bis zur ‚Bürgerlichen Brauerei Trautenau‘, wo er ein Quartier gebucht hatte. Der Bedienstete brachte den Lederkoffer ins Zimmer und bekam dafür einen Heller Trinkgeld. Für ihn hatte sich der Tag gelohnt.

    Johannes Ammon gesellte sich zu den Einheimischen in den Gastraum der Brauerei und war bald in ein anregendes Gespräch vertieft. Nachdem er ein paar Krügel geleert hatte, fiel er wie ein Stein in sein Bett und hatte am nächsten Morgen Schwierigkeiten, aus diesem herauszukommen. Es half aber nichts, denn er wollte ein paar Scheiben Brot essen und musste dann zum Bahnhof. Er bestieg den Zug nach Freiheit⁴ und diese Fahrt dauerte weniger als eine Stunde. Mit dem Verlassen des Zuges betrat er nach einem Jahr wieder den Boden des Riesengebirges. Er holte einmal tief Luft und schon war der Kutscher des ‚Hotels Brauner Bär‘, der ihn seit Jahren kannte, zur Stelle, nahm ihm den Koffer ab und begleitete ihn zur Chaise, vor der zwei Schwarzbraune angespannt waren. Diese schnauften die drei Kilometer nach Johannisbad⁵ hinauf, wo seine Reise vor dem Eingang des Hotels endete.

    Der Spiegelfabrikant rechnete nach. Tatsächlich, es war das sechste Jahr, dass er eine Urlaubswoche im Riesengebirge verbrachte. Dabei war es ein Zufall, der ihn hierher verschlagen hatte. Dieser bestand aus einem Büchlein, das ihm zuhause in die Hände gefallen war und in dem die Sagen und Legenden von Rübezahl aufgeschrieben waren. Das Gelesene hatte ihn neugierig gemacht, so dass er mehr von dem darin beschriebenen Gebirge in Erfahrung bringen wollte. So erfuhr er, dass es das höchste Mittelgebirge nördlich der Alpen ist und sich ideal zum Wandern eignet. Das gefiel ihm. Dann las er, dass Speis und Trank ausgezeichnet sind und das gefiel ihm auch. Am allermeisten gefiel ihm aber, dass Wandern mit Sicherheit nicht Mathildes große Leidenschaft werden wird und sie, seiner Hoffnung folgend, keinerlei Ambitionen zeigte, um ihn zu begleiten. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als, leider, leider, die Woche alleine zu verbringen und das war der Garant zur vollständigen Erholung. Diese Wanderwoche war zur Tradition geworden und mittlerweile waren ihm die Bahnverbindung, die Brauerei in Trautenau und der ‚Braune Bär‘ in Johannisbad vertraut. Jedes Mal, bevor er abreiste, buchte er für das nächste Jahr.

    Aber jetzt war er erst einmal angekommen. Ammon bekam wieder das Zimmer im zweiten Stock, von dem es einen herrlichen Blick über Johannisbad gab. Dieses war großzügig angelegt, denn zwischen den Häusern standen überall riesige Bäume und breiteten Wiesen ihr sattes Grün aus. Das war in Fürth völlig anders, wo alles eng auf eng war, kaum Platz für ein Pflänzchen war und wo nur die Hochwasserwiesen das Gefühl von Fläche gaben. Hier konnte er

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