In 170 Tagen um die Welt: Tagebuch eines Bordpfarrers
Von Hanjo Sauer
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Über dieses E-Book
→ Gedanken und Erlebnisse eines Pfarrers auf einem Kreuzfahrtschiff
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Buchvorschau
In 170 Tagen um die Welt - Hanjo Sauer
I.
DER ATLANTIK
Dezember | Januar
Elbphilharmonie in Hamburg
Einschiffung in Hamburg
Es gibt drei Momente zu Beginn einer Schiffsreise, die von besonderem Zauber sind: das Schiff sehen, das Schiff betreten, in die eigene Kabine gehen. Wie oft schon habe ich bei der Anreise Ausschau gehalten, bis der Schornstein des Kreuzfahrtschiffes hinter den Häusern auftaucht. Dieser Blick ist eine erste Kontaktaufnahme, fast eine liebevolle Begegnung. Das wird mein Ort im nächsten halben Jahr sein, ein zeitlich begrenztes Zuhause, ein Zufluchtsort. Etwas, an das ich mich binden kann, das mir Sicherheit verleiht, auch wenn es manchmal eine bedrohte Sicherheit ist. Das Schiff betreten: ein magischer Moment, das feste Land zu verlassen und sich einem künstlichen Boden anzuvertrauen. Deutlich wird das freilich nicht bei einem gigantischen Stahl-Koloss, der sich unter der Last eines einzelnen Menschen keinen Millimeter bewegt. Deutlich wird dieses Gefühl bei einem kleinen Boot, das zu schwanken beginnt, wenn es eine neue Last aufnimmt.
Schon die kleinen Tenderboote, die bei Landausflügen ins Spiel kommen, wo keine entsprechenden Hafenanlagen zur Verfügung stehen, fangen unter der Last einiger weniger Passagiere zu schwanken an. Hier wird erlebbar, was es heißt, sich Wind und Wellen anzuvertrauen. Jetzt noch der dritte magische Augenblick: das erste Betreten der eigenen Kabine. Tipptopp geputzt, einladend hergerichtet, ist es eine Freude, das kleine Zuhause für das nächste halbe Jahr in Empfang zu nehmen.
Am ersten Tage einer Seereise steht grundsätzlich eine Sicherheitsübung auf dem Programm. Am meisten gefordert sind dabei die Crewmitglieder. Für sie ist die Übung Teil ihres Dienstes. Mit viel Geduld und gutem Zureden suchen sie, halbwegs für Disziplin zu sorgen. Die Ansage: „Dass Sie den Befehlen der Crew unverzüglich Folge leisten, kann über Leben und Überleben entscheiden!, beeindruckt nicht besonders. Zunächst geht es darum, der Demonstration zuzusehen, wie eine Schwimmweste sachgerecht angelegt wird. Die Ansage: „Bitte schauen Sie zunächst nur zu, bevor Sie dann selbst die Schwimmweste anlegen
, hindert manche Gäste durchaus nicht daran, sofort selbst auszuprobieren, wie das Ding funktioniert. Wieder geduldiges Zureden. „Bitte warten Sie! Nehmen Sie noch Platz! An der Schwimmweste ist eine Pfeife angebracht. Auch wenn die Ansage lautet: „Bitte benutzen Sie die Pfeife jetzt nicht!
, kann man darauf wetten, dass es einige Neugierige gibt, die in ein kleines Pfeifkonzert einstimmen. Dann der Gurt. Wenn die Schwimmwesten in der Kabine aufgehoben werden, ist der Gurt meist kurz zusammengezogen, um eine kompakte Unterbringung im Schrank zu gewährleisten. Also muss erst mal der Gurt auseinandergezogen werden, wenn ein Anlegen der Schwimmweste gelingen soll. Nicht wenige scheitern daran. Also geduldige Assistenz der Crew, bis endlich die Schwimmweste wirklich sitzt. Dann eine Demonstration, wie man sich bei einem eventuellen Sprung ins Wasser zu verhalten hat: die Nase zuhalten, die Schwimmweste dagegen sichern, dass sie durch den Sprung ins Wasser aufgetrieben wird. Alles wirkt sehr theoretisch und niemand mag sich vorstellen, wie es im Ernstfall aussehen könnte. Weil auch die Schiffsleitung daran interessiert ist, den Ernstfall nicht zu realistisch auszumalen, nimmt man zu diesem Ritual Zuflucht, das sich „Sicherheitsübung" nennt. Es endet meist damit, dass der Kapitän seine Runde dreht und sich persönlich überzeugt, dass alle Passagiere auf Deck angetreten sind. Wahrscheinlich wird auf dieser Reise irgendwann einmal der Film „Titanic", der gewaltige Blockbuster von James Cameron mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, auf dem Programm stehen. Er vermittelt recht realistische Bilder, was sich im Fall einer Katastrophe auf einem Schiff ereignet. Aber auch hier werden die Abwehrmechanismen funktionieren: Das war ja schon so lange her. Damals gab es die heutigen Sicherheitsstandards noch nicht …
Durch den Ärmelkanal
Habe zur Sicherheit den Wecker gestellt, denn heute, am Sonntagmorgen, steht ein Gottesdienst auf dem Programm. Die Albe mit Stola über den Arm! Kelch, Patene und Altarschmuck sind oben in der Apollo-Lounge auf Deck 9. Der Raum ist wunderschön, einer der schönsten auf dem Schiff überhaupt. Er befindet sich über der Kommandobrücke und erlaubt einen weiten Blick auf das Meer hinaus. Das Wetter ist bedeckt. Wir haben Windstärke 4, also schaukelt es etwas. Doch das dürfte sich heute im Rahmen halten, nicht so wie einmal im Mittelmeer, als wir gerade an der Mündung der Rhone vorbeikamen und der berüchtigte Mistral für eine stürmische See sorgte. Damals fand der Gottesdienst im Kino statt, als ich plötzlich bemerkte, dass sich durch die Erschütterungen der Altartisch langsam vorwärts, in Richtung Bühnenrampe, bewegte. Was blieb mir anderes übrig, als mit einer Hand den leichten, zusammenklappbaren Altartisch festzuhalten und mit der anderen die liturgischen Rituale zu vollziehen, für die ich sonst zwei Hände zur Verfügung hatte. Nein, so würde es heute nicht sein. Trotzdem, es ist gut, sich schön breitbeinig hinzustellen und für alle Fälle eine Säule im Blick zu behalten, die im Ernstfall Halt bieten könnte.
Es ist nun zehn vor neun. Die ersten Besucher kommen. Ich warte bis Punkt 9 Uhr und beginne dann mit der Begrüßung. Zuerst einmal mich selbst vorstellen.
Viele Gäste schätzen es sehr, von einem Bordpfarrer Persönliches zu erfahren. Ich bin Jahrgang 1944, geboren in der fränkischen Stadt Bamberg. Ich schaffte es gerade noch, in Bamberg auf die Welt gekommen zu sein, denn die meisten meiner Mitschüler hatten Burgwindheim als Geburtsort. Dorthin wurde nämlich die Frauenklinik verlegt, als sich die Fliegerangriffe häuften. Meine beiden Vornamen, Johannes und Joseph, verdanke ich den älteren Brüdern meiner Mutter, die beide in Russland gefallen sind. Der jüngere Bruder meiner Mutter hatte die Idee, dass man eine Abkürzung für beide Namen, Hans und Joseph, also „Hanjo" verwenden könnte. Diese hat mir immer gut gefallen. Aufgewachsen bin ich nach dem Krieg in Bamberg. Mein Vater ist früh gestorben. Nachdem ich das einzige Kind meiner Eltern war, hat sich die Beziehung zu meiner Mutter sehr intensiv gestaltet. Das brachte auch Probleme mit sich, aber nachdem meine Mutter eine sehr kluge Frau war, hat sie mir immer den Freiraum gegeben, den ich gebraucht habe. Mit den Lehrern am Gymnasium hatte ich großes Glück. Fast alle waren jung und als Pädagogen sehr engagiert. Mein Interesse für die Fächer Religion und Geschichte führte dann zu der Berufswahl, katholische Theologie zu studieren und Priester zu werden. Das habe ich mit großer Hingabe getan, zunächst in Bamberg, dann in Innsbruck und in Paris. Mit der Promotion war der Weg zu einer akademischen Laufbahn geöffnet. Doch vor der Habilitation in Würzburg kam für mich noch eine spannende Zeit: Ich habe zur Ausbildung von Projektleiter*innen für die weltweite SOS-Kinderdorf-Organisation fünf Jahre eng mit Hermann Gmeiner, dem Gründer der SOS-Kinderdörfer, zusammengearbeitet. Ein knappes Jahr war ich beim Aufbau eines SOS-Kinderdorfes in Kairo. Später folgte dann ein ehrenamtliches Engagement für den deutschen SOS-Kinderdorfverein. Als Professor für Fundamentaltheologie war ich dann ab 1993 in Linz in Oberösterreich tätig, wo ich viele Freunde und Freundinnen kennenlernen konnte. Der relative Freiraum eines akademischen Lehrers machte es mir möglich, jedes Jahr ein oder zwei Kreuzfahrten als Bordpfarrer zu begleiten. So weit zu meiner Vorstellung.
Es folgt dann ein nützlicher Hinweis auf den ökumenischen Charakter des Gottesdienstes mit einem Wortgottesdienst und einer Eucharistiefeier – natürlich muss ich diesen Begriff sofort übersetzen mit „Mahlfeier" oder „Abendmahl", zu dem ich herzlich einlade. Das erste Lied klingt leider recht dünn, obwohl es eines der bekanntesten Adventslieder ist: „Tauet Himmel". Ich hoffe, die Lust am Singen nimmt noch zu. Im Evangelium am heutigen vierten Adventssonntag ist von Johannes dem Täufer die Rede. Ein Evangelium, zu dem ich einen besonderen Bezug habe und zu dem mir viel einfällt. Bereits bei der Anreise nach Hamburg habe ich mir Gedanken gemacht. Ich möchte darauf hinaus, was es heißt, das Rechte zu tun. Das Rechte, das mir mein Gewissen sagt, nicht was im Umfeld der Gesellschaft besonders geschätzt wird. Das Projekt von Johannes dem Täufer scheint mit seinem gewaltsamen Tod gescheitert und doch bleibt er als aufrechter und kritischer Prophet, der sich nicht bestechen lässt, in Erinnerung und lebt so fort. Dabei fällt mir eine wunderschöne Formulierung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson für „unsere eigenen"Toten ein. Er sagt, es müsse an sie erinnert werden, damit „sie nicht umsonst gestorben sind". Für die Bibel ist Johannes der Täufer nicht umsonst gestorben. Er verkörpert die beste prophetische Tradition Israels, die an der Weisung des Herrn festhält, dem Inbegriff des Humanen, gegenüber aller Bedrohung durch Gewalt. Nach dem Gottesdienst bitte ich um Applaus für Oleg, den Pianisten, der schüchtern kurz aufsteht und sich verbeugt. Jetzt vor dem Mittagessen noch ein kurzer Gang über die offenen Decks, auch wenn das Wetter nicht gerade einladend ist: kühl und leicht regnerisch. Als ich auf das offene Meer hinausschaue, fällt mir der geschichtsträchtige Ort ein, den wir durchfahren, nämlich der Ärmelkanal. Was hat sich hier nicht alles an kriegerischen Auseinandersetzungen abgespielt, angefangen vom Untergang der spanischen Armada im Kampf mit der britischen Flotte, dann – viel später – die Evakuierung der britischen Truppen im Jahr 1940 von Dünkirchen aus, schließlich, vier Jahre später, die Invasion der amerikanischen und britischen Truppen am D-Day, die die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs einleitete. Bei einem Urlaub in der Normandie habe ich einmal die wichtigsten Schauplätze besucht: Utah Beach, Omaha Beach, Juno und Sword Beach. Aus heutiger Sicht ist es nur mehr schwer nachvollziehbar, dass dieses Unternehmen trotz des gewaltigen Einsatzes an Menschen und Material ein Wagnis gewesen war. Militärhistoriker berichten, dass General Eisenhower bereits ein Schreiben verfasst hatte, mit dem er im Fall des Scheiterns der Operation der Öffentlichkeit Rechenschaft für seine Entscheidungen geben wollte.
In der Bucht von Biskaya
Ausschlafen ist nicht. Wir haben wieder einen Seetag und ich bin zur Morgenandacht um 9:15 Uhr eingeteilt. Heute ist Montag, der Tag vor Heilig Abend. Gut, dass noch etwas Zeit bleibt, die Weihnachtsfeier vorzubereiten. Die Morgenandacht wird das Thema „Advent" haben. Eine liturgische Zeit, die ich sehr liebe, weil sie bewusst macht, wie sehr wir auf die Zukunft bezogen sind. Vom „Gott vor uns" hat der berühmte Münsteraner Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz in seinen Meditationen zum Advent gesprochen. Natürlich ist es dabei wichtig, keine Flucht in die Zukunft anzutreten, um damit den Herausforderungen der Gegenwart zu entfliehen. „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft" hat der Theologe und Bestsellerautor Harvey Cox in den Sechzigerjahren gewarnt. Der Untertitel seines Buches war „Aufforderung zur Weltverantwortung". Wenn wir uns gut neutestamentlich auf die Gestalt von Johannes dem Täufer beziehen – und das möchte ich heute in der Morgenandacht tun –, dann besteht keine Fluchtgefahr. Der Täufer setzte sich existenziell für die Veränderung der ungerechten Verhältnisse ein. Als er sich mit seinem Aufruf zur Buße nicht scheute, auch am Sessel der Mächtigen zu rütteln, bedeutete dies sein Todesurteil. König Herodes, der keinen Mahner und Sozialreformer brauchte und umstürzlerische Ideen im Keim ersticken wollte, ließ ihn enthaupten. Die junge Christengemeinde sah mit Recht in seiner Lebensgeschichte eine Parallele zur Lebensgeschichte Jesu und machte den Täufer zu einem „Vorläufer", auch wenn die historischen Daten eher auf ein Konkurrenzverhältnis hinweisen, zumindest was die jeweilige Anhängerschar betrifft.
Damit diese Gedanken für die Morgenandacht auch optisch ansprechend sind, habe ich kleine Farbbilder mitgebracht. Eines ist eine Reproduktion des Ölgemäldes „Die Predigt Johannes des Täufers" von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1566, im Original im Szépművészeti Múzeum in Budapest zu finden. Was ist zu sehen? Auf einer Waldlichtung hat sich eine Menschenmenge versammelt. Zu sehen sind im Hintergrund ein Flusslauf, Berge und eine Burganlage. Man muss erst eine Zeitlang suchen, bevor der titelgebende Protagonist, nämlich Johannes der Täufer, zu finden ist. Sehr klein dargestellt in einem einfachen, braunen Bußgewand. Die Landschaft weist nicht auf den Orient hin, sondern auf Flandern, die Heimat Bruegels. Bei genauer Betrachtung finden sich unter den Zuhörern des Täufers auch fremdartig wirkende Gestalten: ein Osmane mit Turban, ein Chinese, ein Mongole. Nicht alle hören der Predigt zu. Manche sind mit sich selbst beschäftigt, diskutieren miteinander, sind auf Bäume geklettert. Der Täufer selbst weist auf Jesus hin, noch kleiner dargestellt als er selbst, aber durch ein helles Gewand aus der Menschenmenge hervorgehoben.
Man muss nicht lange rätseln, dass Bruegel in der Gestaltung seiner Menschenmenge ein Sinnbild für die Universalität aller Menschen darstellt, nicht eingegrenzt auf bestimmte soziale Schichten von Reichen oder Armen, nicht eingegrenzt auf bestimmte Länder oder Kontinente. Globalität war in der Zeit von Philipp II., dem spanischen Monarchen, dessen Reich bereits die neue Welt mit umfasste, eine Realität geworden. Gleichzeitig war in Europa längst die einende Klammer der Politik, wie des gemeinsamen Glaubens, zerbrochen. In den südlichen Niederlanden war es unter dem Einfluss des Calvinismus zu Bilderstürmen gekommen, in denen die Kunstwerke in den Kirchen vernichtet worden waren. Allenthalben lag Aufruhr in der Luft.
Möglicherweise ist die Darstellung Bruegels auch den damaligen „Heckenpredigten" nachempfunden, in denen religiöse Eiferer das Volk für den neuen Glauben zu begeistern suchten. Nachdem solche Versammlungen offiziell verboten waren, fanden sie außerhalb der Städte unter offenem Himmel statt. Der Reiz des Bildes besteht darin, dass seine Botschaft nicht eindeutig ist. Eindeutig ist jedoch die Absicht des Malers, zwischen dem biblischen Geschehen und seiner Gegenwart einen Bezug herzustellen. Doch je mehr man die Symbole des Bildes zu entschlüsseln sucht, umso mehr Fragen ergeben sich. Genau dies ist die kreativste Einstellung gegenüber alten Texten, also auch der Bibel. Diese Texte werden aus dem toten Buchstaben wieder lebendig, indem wir mit ihnen zu kommunizieren beginnen. Gäbe es eine bessere Vorbereitung zum Weihnachtsfest als diese Offenheit dem Neuen gegenüber, wie sie Johannes der Täufer verkörpert?
Heiliger Abend – Fahrt um das Kap Finisterre
Heute ist Heiliger Abend. Wenn ich in das Tagesprogramm sehe, wird mir wieder die Paradoxie bewusst, einen ganzen Tag nach einem Teil des Tages, nämlich dem Abend, zu benennen. Aber der Abend ist so bedeutsam, dass er den ganzen Tag prägt. Für mich ist heute Großeinsatz: zunächst um 9:15 Uhr die Morgenandacht, dann um 20 Uhr bei der Show zum Heiligen Abend eine allgemeine Ansprache, schließlich ein Impuls im kleinen Kreis der Mitglieder des Ariadne-Teams (eine Idee, die ich mit dem Kreuzfahrtdirektor abgesprochen habe) und schließlich um 23 Uhr die Mitternachtsmette, zu der auch die Mitglieder der Besatzung eingeladen sind. Nachdem die meisten von ihnen von den Philippinen kommen, ist es zwingend, einen Teil der Liturgie in englischer Sprache zu gestalten. Einen Großteil des Programmes habe ich schon zu Hause vorbereitet, so kann ich mich richtig auf den Tag und insbesondere den Abend freuen. Glücklicherweise hat der Wind etwas nachgelassen, sodass kaum mit zu viel Seegang zu rechnen ist. Wäre ja schade, wenn auf diese Weise der Heilige Abend buchstäblich ins Wasser fallen würde. Zur Morgenandacht sind etwa 25 Personen erschienen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie auch heute Abend wieder dabei sein.
Dem Tag entsprechend geht es um die Herbergssuche. Im Johannesevangelium 1,11 so formuliert: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." Es liegt nahe, diesen Gedanken zu vertiefen: Was heißt Heimat? Wo sind wir zuhause? Was bedeutet es, in der Fremde zu leben? Mir fällt die Formulierung des Tübinger Philosophen Ernst Bloch ein, ein Philosoph, der sich selbst einen Atheisten nannte, aber die Bibel besser kannte als mancher Theologe. Er schreibt am Ende seines Werkes „Das Prinzip Hoffnung":
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. […] Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."
Der marxistische Hintergrund ist unverkennbar. Die Fokussierung auf den schaffenden Menschen, der sich selbst aus der Entfremdung befreit. Doch von Bloch kann man immer lernen. Und es tut gut, dem Klischee von „Heimat" – man muss nur an die rührseligen „Heimatfilme" denken – die Kritik in Form der Utopie entgegenzustellen. Heimat ist etwas, das erst werden muss. Ganze Bücher wurden über diese Bestimmung der Heimat geschrieben „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Im christlichen Glauben lässt sich der Begriff der Heimat, positiv besetzt und voller Versprechungen, in die Nähe des „Reiches Gottes", wie es Jesus verkündet hat, rücken. Und der Johannesprolog, den ich vorlesen möchte, schaut nicht nur in die Zukunft, sondern interpretiert die Gegenwart als den Ort, in den Gott selbst gekommen ist. Hohe Theologie und doch übersetzbar.
Weihnachten ist der Geburtstag Jesu. Die Schilderungen der Kindheitserzählungen in den Evangelien machen allesamt deutlich: Die Umstände von Jesu Geburt waren alles andere als idyllisch. Er hat keinen Ort, kein Bleiberecht, er rückt in die Gemeinschaft der Marginalisierten und die ersten, die an die Krippe kommen, sind selbst Marginalisierte, die kein Bürgerrecht haben, die im Ansehen der Gesellschaft ganz unten stehen. Gerade ihnen wird von den Engeln die Botschaft gesungen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seiner Gnade" (Lk 2,14).
Am Abend werde ich etwas zum Weihnachtsfest und seiner Bedeutung sagen. Ursprünglich wurde an diesem Datum im römischen Reich das Fest des unbesiegbaren Sonnengottes „Sol invictus" gefeiert. Die Christen legten dann auf diesen Tag die Feier der Geburt Jesu. Diese Entscheidung war genial, denn es kam zu einem Zusammentreffen von Natur- und Geschichtskategorien. In der Natur wird die Wintersonnwende gefeiert, der kürzeste Tag. Nun werden die Tage wieder länger. Diese Erfahrung greift tief in das Leben von Naturvölkern ein. Denn Licht bedeutet Leben – weiterleben können. Die Geschichte bezieht etwas historisch Greifbares, nämlich die Geburt Jesu, auf diese Grunderfahrung des Lichtes. Im Johannesevangelium ist das Licht ein Heilssymbol. Es ist nahezu synonym mit dem Leben. „In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst." So heißt es in den Versen 4 und 5. Und im Vers 9 heißt es von der Geburt Jesu: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt." Doch auf dieser abstrakten Ebene möchte ich mich bei meiner Weihnachtsansprache nicht bewegen. Sie soll ein erzählendes Moment haben.
Im Hinblick auf das Licht fiel mir die Geschichte vom König und seinen drei Söhnen ein. Sie eignet sich wunderbar zum Erzählen. Ein König kann sich nicht entscheiden, wem von seinen drei Söhnen er die Nachfolge der Regierung seines Reiches anvertrauen soll. Er liebt sie alle gleich. Er befragt seine Weisen, was er tun könne. Sie raten ihm, er solle seinen Söhnen eine Prüfungsaufgabe geben. Wer sie am besten erfülle, der solle der König sein. Die Aufgabe besteht darin, die größte Halle des Königreiches in einem Tag mit etwas zu füllen, das sich die Söhne aussuchen können. Der älteste Sohn wählt Stroh. Er organisiert Hunderte von Wagen und lässt sie alles Stroh, das er finden kann, in die Halle bringen. Doch so sehr sich die Knechte auch anstrengen, die Halle wird bis zum Abend nur bis zur halben Höhe voll. Nun kommt der zweite Sohn an die Reihe. Er überlegt, dass sich vielleicht Heu besser eignen könne. Es sei leichter. Tatsächlich kann er die Halle höher füllen als der älteste Sohn, doch ganz voll wird sie nicht. Nun kommt der jüngste Sohn an die Reihe. Alle wundern sich, dass den ganzen Tag über nichts geschieht. Keine Wagen sind unterwegs. Nichts wird transportiert. Am späten Abend lädt der Königssohn seinen Vater und dessen Gefolge in die Halle ein und lässt die Tore schließen. Es ist stockdunkel. Er öffnet ein kleines Kästchen und zündet eine Kerze an. Dieses Licht der Kerze dringt bei der völligen Dunkelheit bis in die letzten Winkel der großen Halle, bis ganz unter das Dach. Der König ist überzeugt. Indem sein jüngster Sohn das Licht gewählt hat, hat er sich als würdiger Nachfolger erwiesen.
Gisela, die Künstlerbetreuerin, hat mir den Ablaufplan der Feier gegeben. Ich habe für meine Ansprache einen prominenten Platz, nach den Worten des Kapitäns und des Kreuzfahrtdirektors. Und ich habe eine prominente Begleitung. Zwei junge Damen des Show-Ensembles begleiten mich, angetan mit einem Engelskostüm, auf die Bühne. Wunderschöne weiße Seide, mit einem Strahlenkranz auf dem Kopf. Sie tun das mit der ihnen eigene Grazie. Ich muss mich auf das konzentrieren, was ich sagen möchte und darf mich von ihnen nicht ablenken lassen. Das geht umso leichter, als sie nicht in meiner Blickrichtung stehen, sondern links und rechts von mir. Der Kameramann aus Wien, mit dem ich mich im Laufe der Zeit anfreunden werde, hat diese ganze Szene aufgenommen, sodass ich sie mir einige Tage später in Ruhe ansehen kann. Diese zehn Minuten gehören mit zum Kostbarsten, das ich je auf einem Schiff erlebt habe.
Nach der allgemeinen Weihnachtsfeier bleibt nicht viel Zeit. Ich gehe zum internen Treffen der Mitglieder des Ariadne-Teams. Einer von den jungen Leuten des Bordreisebüros hat eine Mundharmonika mitgebracht. Ihr Klang tut als Kontrast zur Bordkapelle, die mit kräftiger elektronischer Unterstützung spielt, ausgesprochen gut. Dann erzähle ich das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzchen von Hans Christian Andersen. Die Geschichte ist ganz einfach, aber sie geht ans Herz. Als ich von Andersen, seiner Lebensgeschichte und seinen Themen erzähle, bemerke ich, dass Meinhard, dem Golfprofi, dicke Tränen über die Wangen herunterlaufen. Ich werde ihn behutsam in den nächsten Tagen ansprechen. Heute bleibt keine Zeit für ein Gespräch, denn es gilt bereits, sich für die Christmette vorzubereiten, die um 23 Uhr in der Atlantiklounge stattfinden soll. Klugerweise habe ich auf meiner Kabine bereits alles zusammengestellt, was ich brauche. In der Mitte des Wortgottesdienstes wird die Weihnachtsgeschichte nach dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums stehen. „In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen."
Zur Christmette habe ich außer allen Gästen auch die Besatzungsmitglieder eingeladen. Ich verweise ausdrücklich darauf, dass wir den Gottesdienst zweisprachig feiern werden. In den nächsten Tagen werde ich zu einem eigenen Gottesdienst in englischer Sprache in die Crew-Messe kommen. Heute müssen sich alle Besatzungsmitglieder, die gekommen sind, mit nur einigen, wenigen Elementen in