Kartenland Schweiz: Geschichten aus der analogen Welt
Von Zytglogge Verlag
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Über dieses E-Book
Sieben Autor*innen haben sich eine besondere Karte aus der Vergangenheit herausgesucht und diese befragt. Entstanden sind sieben Geschichten über die Schweiz und ihre Menschen vom 19. Jahrhundert bis in die heutigen Tage.Mit Beiträgen von Barbara Piatti, Claudia Mäder, Thomas Brückner, Julia Weber, Bernard Degen, Margret Ribbert, Benedikt Pfi ster und Frédéric Zwicker
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Buchvorschau
Kartenland Schweiz - Zytglogge Verlag
Karten spielen im Alltag eine grosse Rolle: beim Bezahlen, beim Suchen oder beim Spiel. Oft nehmen wir sie gar nicht wahr. Sie sind selbstverständlich da, geben Halt und Orientierung, sie verunsichern oder spenden uns Trost. In ihnen schlummert das Potenzial, Räume und Zeiten zu vermessen oder Lebensmittelpunkte zu bestimmen.
Das Buch «Kartenland Schweiz» erzählt die Geschichte sieben solcher Karten. Sie sind in der analogen Welt der letzten 150 Jahre in der Schweiz entstanden und werden im digitalen Zeitalter betrachtet und befragt. Ein Buch, das gleichermassen von Alltäglichem wie von Besonderem handelt.
Mit Beiträgen von
Barbara Piatti
Claudia Mäder
Thomas Brückner
Julia Weber
Bernard Degen
Margret Ribbert
Benedikt Pfister
Frédéric Zwicker
titelGedruckt mit der Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel.
Die Publikation wurde gefördert durch die Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung und die Ernst Göhner Stiftung.
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 – 2024 unterstützt.
© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gregor Szyndler
Korrektorat: Susanne Schneider
Covergestaltung/Layout/Satz: Hug & Eberlein, Leipzig–Basel
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN: 978-3-7296-2356-9
www.zytglogge.ch
Inhalt
Willkommen
Thomas Brückner und Benedikt Pfister
Landkarte
Barbara Piatti
Postkarte
Claudia Mäder
Fiche
Thomas Brückner
Einwurf
Julia Weber
Lebensmittelkarte
Bernard Degen
Weihnachtskarte
Margret Ribbert
Eintrittskarte
Benedikt Pfister
Kondolenzkarte
Frédéric Zwicker
AutorInnenbiografien und Bildnachweise
Willkommen im Kartenland Schweiz
Liebe Leserin, lieber Leser!
Als wir uns im Oktober 2018 unter dem Arbeitstitel «Kartenland Schweiz» an das Buchprojekt machten, wollten wir anhand von Karten etwas Neues über die Schweiz erfahren und erzählen. Wir wollten die Vergangenheit durchstöbern und beim Nebensächlichen verweilen; bei einer kleinen Eintrittskarte für ein Fussballspiel beispielsweise, einer scheinbar nichtssagenden Postkarte aus Zürich oder einer einfachen Lebensmittelkarte mitten im Krieg. Uns reizte es, dass diese Karten aus Papier von einer digitalen Welt aus betrachtet wie Relikte erschienen, dass sie Quellen zum Anfassen sind. Wir glaubten, dass in der analogen Beschaffenheit einer jeden Karte auch Potenzial zur Orientierung in Zeiten politischer Unsicherheit und digitaler Reizüberflutung schlummert. Karten als Momentaufnahme der Vergangenheit, als ein Ausgangspunkt, von dem aus sich Geschichten entwickeln lassen – das schwebte uns vor. Wir wollten dabei nicht analytisch, sondern exemplarisch vorgehen. Es sollte nicht entscheidend sein, ob die Geschichte zu der Karte aus der Vorstellungskraft der Autorin oder des Autors entspringt oder aus gereifter Erkenntnis nach langer Recherche. Wichtiger schien uns, dass die Karten unerwartete Geschichten weitgehend unbekannter Menschen zutage fördern und als Ganzes Topografien von Land und Mensch skizzieren. Mit diesen Ideen traten wir an sieben SpezialistInnen des Geschichtenschreibens und der Geschichte heran. Sie sollten selbst eine Karte wählen, die sie bewegt und begeistert. So haben wir manche Sitzung und Arbeitsstunde miteinander verbracht.
Liebe Leserin, lieber Leser, es kommt nicht immer anders, als man denkt. Freilich war der Weg zum druckfrischen Buch verschlungen. Und durch den Ausbruch der Coronapandemie mag sich dieser Weg ein bisschen länger hingezogen haben als in «normaler Zeit» (wobei manche der folgenden Geschichten die Frage aufkommen lassen, was eine «normale Zeit» denn überhaupt sein mag). Letztlich aber ist bei dieser Gemeinschaftsarbeit das entstanden, was wir uns erhofften: eine bunte Mischung aus guten Karten und lebendigen Geschichten.
Was Karten für einzelne Menschen bedeuteten und welche Bedeutungen ihnen im Rückblick zugeschrieben werden, davon werden Sie in diesem Buch lesen. Wenn Sie in die Lektüre eintauchen, so können Sie an einem beliebigen Ort damit beginnen. Jede Geschichte steht für sich. Es bedarf keines Vorwissens, um in sie einzusteigen. Zu Beginn jeder Geschichte finden Sie die Karte, die Sie in den Text führt. Sie werden auch auf einen «Einwurf» in der Mitte des Buches stossen, der das «Kartenland Schweiz» beschwört und in das Reich der Vorstellungskraft weist. Auch die Anordnung der Geschichten folgt keinem strikten Plan und keiner konstruierten Chronologie. Einige Geschichten spielen oder beginnen im ausgehenden 19. Jahrhundert, andere führen in die Gegenwart. Zu Beginn des Buches werden Sie Geschichten entdecken, die von grossen Räumen handeln, von der Kartografie der Schweiz oder der Fichierung eines Teils der politischen Öffentlichkeit. Gegen Buchende hin werden Sie Geschichten finden, in denen die Karten im privaten Gebrauch Bedeutung erhielten; Weihnachtsgrüsse in Kartenform oder Worte der Anteilnahme in einer Kondolenzkarte. Was die Karten verbindet: Es zeigen sich Emotionen, es tritt das Leben in allen Schattierungen hervor. Die Geschichten weisen weit über den individuellen Bedeutungsgehalt einer Karte hinaus. Dadurch werden sie, als Gesamtheit, zu so etwas wie einem «Kartenland Schweiz».
Basel, im Mai 2021
Thomas Brückner und Benedikt Pfister
TeilLandkarte
Kartenkunst oder die Gier nach Daten
Erinnerungen des Gebirgsvermessers und Ingenieur-Topografen Xaver Imfeld
Barbara Piatti
In eisigen Höhen – ein Observatorium auf 4800 Metern
Rückenmarkslähmung. Hat das der Arzt wirklich gesagt? Hat er diesen Begriff überhaupt verwendet? Ich kann mich täuschen. Das tut nichts zur Sache, katastrophal ist es so oder so. Ich bin einfach zusammengebrochen, mitten auf dem Trottoir. Wie lange ich hier schon liege, mich kaum bewegen kann? Wochen schon. Keine Touren ins Gebirge, keine Expeditionen. Das Laken fühlt sich kalt an, das Fenster steht offen, ein kühler Hauch weht herein. Als würde Schnee in der Luft liegen. Schnee, Eis. Der Spätsommer auf dem Montblanc. Ja, dieser eine, letzte Sommer. Wenn ich mich anders entschieden hätte … wenn ich … Aber ein Auftrag aus Paris, von Gustave Eiffel! Im Ernst: Wer würde den ablehnen? Ein Observatorium auf dem Montblanc planen, auf 4810 Meter Höhe. Anfangs, ja, da musste ich schmunzeln bei dem Gedanken. Ausgerechnet. Auf dem höchsten Berg der Alpen. Verrückte Idee. Aber was für ein Abenteuer …
Wir sind losgezogen von Chamonix aus, mit Hunderten von Ausrüstungsgegenständen, Werkzeugen und Baumaterial. Nichts durfte länger sein als drei Meter, nichts schwerer als 18 Kilogramm, sonst hätte es nicht auf die Schlitten und die Maultiere gepasst. Ein eiserner Kochherd war dabei. Pelze. Messinstrumente. Es war ein malerischer Anblick, diese vielen Leute, auf alle möglichen Arten beladen: der eine mit Langholz für die Hütte, das er in ein Räf gesteckt am Rücken trug, der andere mit Weinfässchen, Petrolbomben, Brennholz. Es wurde immer heisser. Dörrzwetschgen und Schmelzwasser löschten kaum mehr den Hunger und Durst. Hätte mir zu dieser Stunde einer gesagt: «Pilsener Bier», er hätte eine Ohrfeige kassiert!
Absteigende kamen uns entgegen, Hals und Gesicht mit weissen Tuchmasken bedeckt und oft bis unter die Arme im Schnee versinkend. Für uns aber begann das Staunen: Diese weisse Wüste. Enorme Eisblöcke, angehäuft, aufgetürmt zu fantastischen Bauten, wie pharaonische Paläste … wie Eingangspforten zu Schatzkammern, verborgen in der Tiefe dieses Granitmassivs.
Auf 4400 Metern lag das kleine hölzerne Observatorium des Herrn Vallot. Dort richteten wir uns ein. Das war unser Basislager. 450 Höhenmeter trennten uns vom Gipfel. Wenn man schliesslich ganz oben steht, da sind die Täler und Hügel in milchiges Blau getaucht. Mir war, als sähe ich eine belebte Welt auf dem Grund eines mächtigen Ozeans.
Ganz oben suchten wir nach festem Grund, nach Felszacken, die unter dem Schnee bis dicht an die Oberfläche ragten, dienlich als Fundament. Wir trieben Stollen in die steinharte Firnkuppe, bei minus 12, manchmal minus 20 Grad … Eisstürme fegten über uns. Jeden Morgen hochsteigen, jeden Abend absteigen. Eine ganze Karawane, die über die Eisstufen des Gletschers kletterte, mit Strickleitern und Schlitten und über den letzten Grat dann mit der Last auf dem Rücken. In dieser kurzen Saison hatten wir 30 Träger und Arbeiter im Einsatz. Der Niklaus Imboden, aus dem Wallis, ein treuer Begleiter, der! Was konnte der Kerl Suppe kochen und Hosen flicken! Und der junge Jacottet … der zu Besuch hochkam. Ich habe ihm zum Abstieg geraten, wieder und wieder. Aber der Starrkopf wollte partout nicht. Am Ende, da konnte ich ihn nur noch Oxygen einatmen lassen. Er hat es nicht geschafft. Wir haben ihn aufgebahrt in der Hütte. Schlimme Bilder.
Ich hatte sie ja auch, die Höhenkrankheit. Hätte besser wissen sollen, wie’s da oben auf der Spitze des Montblanc sein wird, bin ja nun wirklich kein Anfänger. Es ist ganz einfach: Wir sind zu lange oben geblieben. Die Höhe fordert ihren Tribut. Jetzt lieg ich im Bett, mit Lähmungen, die kommen und gehen. Was für eine Schmach, ein nutzloser Gebirgskartograf, ein Vermessungsingenieur ohne Kraft in den Beinen … Gestern habe ich versucht, mich aufzurichten. Teufel! Ich kann kaum den Bleistift halten, die Hand, die zittert, der Arm ist steif. Auf dem Montblanc, da hatte ich mit dem Fernglas gezeichnet, viel fotografiert … Aber umsetzen, die grosse Karte vom Montblanc-Massiv, umsetzen kann ich sie nicht. Dabei hätte