Anderszeiten. Eine Pilgerreise durch das keltische Jahr: Mit Erzählungen aus Irland und Schottland im Gepäck
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Über dieses E-Book
Als Erzählerin und Theologin schöpft Claudia Süssenbach aus der Weisheit der keltischen Mythologie die Inspiration für eine spirituelle Praxis, die sich mit dem Kreislauf von Natur und Jahreszeiten verbindet. Beginnend mit dem keltischen Neujahrsfest durchwandert sie mit ihren Leserinnen und Lesern den jahreszeitlichen Kreislauf von Vergehen und Erneuerung. Jedes Fest verbindet die Autorin mit einer ebenso fesselnden wie poetischen Erzählung. Ein Kapitel unter der Überschrift "Nachgedacht" ergänzt jeweils die Geschichten. Gemeinsam mit ihrer Leserschaft taucht Claudia Süssenbach ein in die Gedankenwelt der keltisch-christlichen Spiritualität - einer Tradition, die um die Gegenwart des Göttlichen in allen Dingen und um die Heiligkeit der Erde weiß.
"Anderszeiten" ist nicht nur ein Buch für Schottland- und Irland-Liebhaber, sondern für alle Menschen, die sich nach einer geerdeten Spiritualität sehnen. Die zeitlose Weisheit der keltischen Tradition bietet hierfür eine tiefe und nährende Quelle. Aus dieser Quelle speisen sich auch die Gebete, die die einzelnen Kapitel des Buches abschließen und die hier erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Sie stammen zum überwiegenden Teil aus der Carmina Gadelica, einer Sammlung von Gebeten und Segensworten aus den schottischen Highlands und von den Äußeren Hebriden, die im 19. Jahrhundert von Alexander Carmichael zusammengestellt und veröffentlicht wurde.
Claudia Süssenbach
Claudia Süssenbach erzählt Geschichten aus Leidenschaft und am liebsten frei und ohne Buch in der Hand. Die Kunst des freien Erzählens erlernte sie an der Universität der Künste in Berlin. Als sie im Sommer 2018 zum ersten Mal nach Schottland reiste, verliebte sich die zweifache Mutter in die raue Landschaft der Highlands mit ihrer einzigartigen Erzähltradition. Es folgten zahlreiche Aufenthalte in Schottland und Irland, während derer sich die promovierte Theologin intensiv mit der inselkeltischen Tradition des Erzählens und der Schöpfungsspiritualität des keltischen Christentums beschäftigte. Claudia Süssenbach lebt mit ihrer Familie in Ostholstein. Sie begleitet Seminare, Pilgerwege und Auszeiten in der Natur an der Ostseeküste sowie in Schottland und Irland. In Vorträgen, Lesungen und Erzählprogrammen widmet Claudia Süssenbach sich der Suche nach einem achtsamen Leben in Verbundenheit mit dem Jahreskreis und der Kraft von Märchen und Mythen für persönliche und gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Mehr über Claudia Süssenbach auf der Website der Autorin: www.anderszeiten.de.
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Buchvorschau
Anderszeiten. Eine Pilgerreise durch das keltische Jahr - Claudia Süssenbach
Bevor die Reise beginnt
Wenn ich hier auf Iona durch heidebewachsene Hügel wandere, kommt es mir vor, als würde dieser kleine Flecken Erde träumen. Er träumt Mythen wie die, die wir auf unserer gemeinsamen Reise durch die Anderszeiten entdecken werden. Geschichten von Hügeln, in denen Feen wohnen, von heiligen Quellen und von Göttern, die zwischen Felsen schlafen, bis sie geweckt werden, um ihren Schutzbefohlenen zur Seite zu stehen.
Waren es wirklich Menschen, die sich die Geschichten ausgedacht haben? War es menschliche Fantasie allein, die die Erzählungen ersonnen hat von der Cailleach, von Angus Og, von Fionn MacCumhaill und all den anderen, die wir auf unserer Reise kennenlernen werden? Oder war es die Landschaft selbst, die sie erträumte – hoffend, dass ein lebendiges Wesen sie erlauscht und in Worte übersetzt?
Als aufgeklärte Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts haben wir uns daran gewöhnt, die Geschichten in die Kinderzimmer zu sperren. Dort gehören sie hin – meinen wir. Sie dienen der Unterhaltung und der Förderung der Fantasie unserer Kinder. Bestenfalls sind sie Teil eines kulturellen Erbes, das wir bewahren sollten. Wir wissen natürlich, dass die alten Mythen und Geschichten den schlichten Gemütern unserer Vorfahren entspringen. Während draußen Gewitterstürme tobten oder eine Sonnenfinsternis den Himmel verdunkelte, saßen sie vor Furcht zitternd in ihren Hütten. Um ihre irrationalen Ängste vor diesen Naturphänomenen oder schlicht die Endlichkeit ihres Daseins zu bewältigen, erdachten sie Märchen von numinosen Mächten, von Göttern und Feen.
Doch dieses Urteil über unsere Ahnen ist in erster Linie eine Aussage über uns selbst und unsere Beziehungslosigkeit zur Natur und ihren Phänomenen. Mit welchem Recht meinen wir, dass das Verhältnis unserer Vorfahren zu ihrer Umwelt vor allem von Gefühlen der Angst und Ohnmacht geprägt war? Sind es nicht eher wir, die den Kontakt verloren haben? Wir haben gelernt, der Natur zu begegnen, indem wir sie beobachten, analysieren, bewerten und als potenziell nützlich oder gefährlich einstufen. Ein Baum ist nicht mehr der Wohnort eines Ahnen, sondern Bau- und Heizmaterial. Ein Berg ist eine geologische Formation, aber nicht mehr der Wohnort einer Gottheit. Die Natur ist für uns nicht länger beseelt. Sie spricht nicht mehr zu uns und wir nicht zu ihr. Wir leben ein entzaubertes Leben, getrennt von der Welt, die uns umgibt.
Als aufgeklärte Menschen haben wir die Welt entmythologisiert und die Geschichten in die Kinderzimmer verbannt. Doch gleichzeitig beginnt unsere postmoderne Gesellschaft zu ahnen, dass wir auch als Erwachsene Geschichten brauchen. Der Mensch ist ein »storytelling animal«¹. Wir brauchen große und kleine Erzählungen, um durchs Leben zu kommen und uns durch die komplexen sozialen Probleme des Alltags hindurchzunavigieren. So wie Flugsimulatoren Piloten auf schwierige Situationen vorbereiten, so sichern Geschichten unser Überleben.
Und tatsächlich: Storytelling ist en vogue. Die Werbebranche hat schon lange erkannt, dass es eine gute Story braucht, um ein Produkt erfolgreich zu verkaufen. Aber auch Philosophen und Soziologen sprechen davon, dass unsere westliche Welt ein neues Narrativ, ein neues, großes Epos braucht, auf das sie ihre Identität gründen kann. Die alten Erzählungen der überlieferten Religionen und Ideologien haben sich überlebt – so die Überzeugung des Gründervaters der Postmoderne Jean-François Lyotard². Doch auch der Mensch der Postmoderne kann nicht ohne eine Story, ohne ein Erklärungsmodell leben, auf das er sein Handeln gründen kann.
Wir brauchen ein neues Narrativ, das uns die Rüstung liefert, um die Drachen der ökologischen und sozialen Katastrophen unserer Zeit zu besiegen. Diese Forderung nach einem »neuen Narrativ« ist seit einigen Jahren geradezu inflationär aus dem Mund von Aktiven in Politik und Gesellschaft zu hören. Aber woher soll dieser neue Mythos kommen? Welchen großen Erzählern unserer Zeit billigen wir die Fähigkeit zu, dieses neue Narrativ zu (er)finden?
Gemeinsam mit dem Mythologen Martin Shaw bin ich davon überzeugt, dass die Geschichten, die wir heute brauchen, längst da sind. Sie sind da – seit hunderten, ja tausenden von Jahren – und warten nur darauf, dass wir sie neu erzählen. Sie sind nicht die Erfindung eines einzigen genialen Geistes, der sie einst erdacht hat. Vielmehr haben sie durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch Orte und Zeiten durchwandert, Dutzende von Erzählerinnen und Erzählern haben sie geschmeckt und wiedergekäut, sie haben Resonanz gefunden in Abertausenden von Ohren und Herzen. Doch der Ursprung der großen Mythen liegt weder bei den Erzählenden noch bei den Hörenden. Wir haben nicht die Geschichten, sondern die Geschichten haben uns. Oder wie der Mythologe Martin Shaw in einem Essay treffend formuliert:
»Myth, in the way I am thinking about it, is an echo-location arising from the Earth itself. […] It [the earth] transmits pulses, coded information, lucid image, and then sits back to see what echos return from its messaging. […] Sometimes we get lucky. It may be an Inuit perched on the ice round a fishing hole, a tramp wandering Welsh lanes, a woman gardening early on a summer’s morning that receives it. These pulses tell us something about how to live.[…] This mystical morse code is the true underlying pattern of any myth deserving of the name. It is the sound of the Earth and its inhabitants thinking about itself. When the call hits whoever is tuned to receive it, it sends an echo back to its source; it confirms relationship, and in some way edifies that origination point. These pulses can get picked up when fasting on the mountain top, in the temple during a silent retreat, whilst grieving for an old love by a still lake. It is very mysterious, and requires a certain aliveness to pick it up. […] So to follow a wild mythology involves a lot of listening, a stilling, to get connected to this ancient form of calling. It is a love story really. Some old lover is gently trying to call us home.«³
Den Ruf dieses mythischen Echolots habe ich als einen leisen, weit entfernten Ton wahrgenommen, als ich während meiner Ausbildung als Erzählerin an der Universität der Künste in Berlin auf die großen Erzählungen der irisch-schottischen Tradition stieß. Die Resonanzen, die diese Geschichten in mir auslösten, waren anders und tiefer als die der deutschen Märchen oder der Erzählungen aus der griechischen oder nordischen Mythologie. Und ich ahnte: Es ist höchste Zeit, den weißen Fleck, den Irland und Schottland auf meiner inneren Landkarte bis dahin darstellten, mit Farbe zu füllen.
Es war bei meiner ersten Reise nach Schottland, als mein Sohn und ich eher zufällig in das Lost Valley gerieten, das eingebettet in die Bergkette der »Drei Schwestern« in Glencoe liegt. Der Reiseführer hatte uns diese Wanderung empfohlen, die mit einigen kleinen Kletterpartien verbunden sein sollte – genau das richtige, um einen 12-Jährigen zum Wandern zu motivieren. Es war ein strahlend schöner Sommertag und der Weg hielt, was der Reiseführer versprach: Die steil aufragenden Höhen von Glencoe sahen aus, als wären sie mit grüner Watte gepolstert. Dazu blauer Himmel und der sanft plätschernde River Coe, der sich hin und wieder über Felsvorsprünge hinabstürzte. Nach einigen Höhenmetern und der versprochenen Kletterpartie wurde uns ziemlich warm. In den flachen Pools des Flusses kühlten wir unsere erhitzten Gesichter und Hände. Mein Sohn konnte gar nicht genug davon bekommen. Immer wieder schüttete er sich mit beiden Händen das herrlich klare Wasser übers Gesicht. Nach kurzer Zeit war er klitschnass, aber das störte bei dem sommerlichen Wetter überhaupt nicht. Und dann sagte er zu mir: »Mama, hier möchte ich getauft werden!«
Als gewissenhafte Pastorin und Profi in diesen Dingen erklärte ich ihm, dass er bereits getauft sei und deshalb nicht noch einmal getauft werden könne. Das fand er bedauerlich, war aber durchaus zufrieden mit der kleinen spontanen Tauferinnerung, die wir dann am Fluss gefeiert haben. Schließlich leerte er die mitgebrachten Trinkflaschen und füllte sie mit dem Wasser aus dem River Coe. Dieses Wasser bezeichnete er als »heiliges Wasser« und trug es für den Rest des Tages mit sich herum, um immer wieder einen kleinen Schluck davon zu trinken. Und irgendwie haben wir beide mehr geahnt als gewusst: Dieser Ort ist für uns zu einem heiligen Ort geworden, zu einem »thin place«, einem dünnen Ort, wie es in der keltischen Welt heißt. Für einen Moment lang haben wir intuitiv die Heiligkeit von Wasser und Erde und die Verbundenheit aller Dinge wahrgenommen. Oder christlich ausgedrückt: Wir haben die Gegenwart der Welt Gottes, des Himmelreiches wie Jesus es nennt, gespürt.
Der Fluss in Glencoe, die Felsen und Hügel auf Iona oder die heiligen Quellen in Irland haben die Geschichten hervorgebracht, die ich dir in diesem Buch erzählen möchte. Anders als in vielen anderen Teilen Westeuropas sind diese Geschichten immer Teil der lebendigen Erzählkultur Irlands und Schottlands geblieben. Die Filid (Alt-Gälisch für Dichter oder Erzähler), die in vorchristlicher Zeit die Erzählungen ihrer heimatlichen Landschaften erlauschten, erzählten diese weiter – von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr und von Herz zu Herz. Aufgeschrieben wurden die großen keltischen Mythen jedoch erst von christlichen Mönchen. Ihnen, die selbst oftmals pagane keltische Wurzeln hatten, verdanken wir es, dass diese Geschichten bewahrt wurden und ihrerseits neue Geschichten hervorbrachten.
Es war zunächst die Faszination durch diese Geschichten und nicht die Theologie, die mich dazu brachte, mich näher mit dem Weg des keltischen Christentums zu beschäftigen. Wenn es Mönche waren, die diese Geschichten aufgeschrieben hatten, wie kam es dann, dass sie so wenig triumphale christliche Verkündigung darin hatten einfließen lassen? Die Mönche gestanden dem Volk der Túatha dé Danann, die wir noch kennenlernen werden, zwar keine Verehrung als Götter zu, sondern ließen sie stattdessen als mächtige Feen und Gestaltwandler erscheinen. Doch von einer Entwertung oder Dämonisierung dieser vorchristlichen Götter, wie man sie im übrigen Europa so häufig antrifft, ist in ihren Schriften wenig zu spüren.
Was war es also, das die irischen Mönche so anders mit den paganen Traditionen⁴ umgehen ließ, auf die sie trafen? Was unterschied den Weg des keltischen Christentums von dem der römischen Kirche im übrigen Europa? Welche Werte und Überzeugungen zeichneten diesen Weg aus?
Zu diesem Thema sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Bücher veröffentlicht worden – leider wurden nur wenige davon auch im deutschsprachigen Raum wahrgenommen. Das Erbe des keltischen Christentums wird zunehmend wiederentdeckt – manchmal sicherlich auch verbunden mit einer romantisierenden Vorstellung von einem »grüneren« Christentum, die eher den Wünschen und Bedürfnissen unserer Zeit als der Realität der frühen keltischen Kirche entspricht. Die keltisch-christliche Spiritualität ist sicher nicht die Antwort auf alle Herausforderungen unserer Zeit in Kirche und Gesellschaft. Doch sie hält Gedanken und Impulse bereit, die überlebenswichtig sein könnten, insbesondere für die westlichen Kirchen, die immer mehr an Relevanz verlieren.
Den Erzählungen in diesem Buch möchte ich daher unter der Überschrift »Nachgedacht« jeweils einige vertiefende Gedanken an die Seite stellen. Die meisten dieser Impulse speisen sich aus der Gedankenwelt eben dieser keltisch-christlichen Spiritualität. Somit ist dieses Buch auch der Versuch einer Einführung in eben diese Gedankenwelt, die uns lehrt, dem Echolot der Erde mit neuer Resonanz zu begegnen.
Das erste Wort in diesem Buch haben jedoch bewusst die Geschichten. Sie sind mehr als nur eine unterhaltsame Illustration. Das keltische Christentum hatte wenig Interesse an einer systematischen Darstellung seines Denkens. Doch in der Weise, wie es die Mythen seines paganen Erbes weitererzählt und eigene Geschichten und Legenden hervorgebracht hat, erzählt es auch von seinen eigenen Werten und Grundüberzeugungen.
Zugegeben: Dieses Buch wäre deutlich kürzer, wenn ich jede Geschichte nur als kurze Skizze erzählen würde. Das ist schließlich das, was wir alle schon in der Grundschule gelernt haben: Geschichten kann man zusammenfassen, extrahieren und abstrahieren, um dann die wesentliche Botschaft, die Essenz, in einem Satz zu formulieren. Doch Geschichten wollen atmen. Sie brauchen Zeit und Raum, um lebendig zu werden. Fast alle Geschichten in diesem Buch habe ich zu ganz unterschiedlichen Gelegenheiten frei erzählt. Ich habe mit ihnen über Tage und Wochen gelebt, sie haben mich verändert und geprägt und ich habe sie meinerseits verändert und geprägt. Es sind einige der Erzählungen, in denen mir jenes Echolot der Erde begegnet und die in mir eine Resonanz auslösen. Auf unserer gemeinsamen Reise durch das keltische Jahr möchte ich sie dir so erzählen, wie sie für mich lebendig sind.
Der oben bereits zitierte Mythologe Martin Shaw sagt: »To hear a story well told was to bear witness to the wily tale of your own life meeting the bigger epic that those before you had walked. Such speech was a way you tasted your ancestors. We don’t have such stories: such stories have us.«⁵
Statt Ausschau zu halten nach einer neuen großen Erzählung, sollten wir das erzählerische Erbe unserer Vorfahren aus den Kinderzimmern und von den Dachböden herunterholen. Wenn wir diese Geschichten neu erzählen – wirklich erzählen –, können wir mehr und mehr Hörende werden, die das Echolot der Erde neu empfangen und in Resonanz dazu gehen.
Anders gesagt: Die alten Mythen und Geschichten können uns dabei helfen, herauszufinden, wie wir die geworden sind, die wir heute sind. In ihnen begegnen uns – um noch einmal eine Formulierung von Martin Shaw aufzugreifen – »Bone-Memory«, Erinnerungen, die über die Erinnerungen unseres individuellen Lebens hinausgehen. »Bone-Memory«, das ist ein altes Wissen, das seit Generationen in unsere menschlichen Knochen eingepflanzt ist, unabhängig von selbst erworbener Erfahrung. Etwas, an das wir uns erinnern, wenn wir eine wirklich tief gehende Geschichte hören und denken: »Ja, genau das kenne ich!«
Unser »Bone-Memory« wird angesprochen von Bildern und Motiven solcher Geschichten, die direkt zu unserer Seele sprechen. Wir reagieren darauf wie die Küken in einem Labor-Experiment, die anfangen zu zittern, wenn man den Schattenriss eines Habichts über ihren Käfig hält, obwohl sie selbst noch nie mit einem Habicht konfrontiert waren.⁶
Dort wo Geschichten unser »Bone-Memory« ansprechen, wecken sie etwas in uns auf. Sie aktivieren ein Wissen, das wir vielleicht verdrängt oder vergessen haben, aber das wir tief in uns tragen. Damit können sie Hilfe sein zu einem achtsameren Leben, das den Herausforderungen unseres individuellen Weges, aber auch unseres Weges als menschliche Gemeinschaft wacher begegnet.
Die Geschichten in diesem Buch mögen nicht alle die Qualität eines großen Mythos haben, aber sie alle stammen aus dem Erbe einer lebendigen Erzählkultur und sind durch das Herz und den Mund von mehr als nur einem Erzähler gegangen. Sie alle haben mein »Bone-Memory« geweckt und eine Resonanz auf jenes Echolot der Erde ausgelöst, von dem Martin Shaw spricht. Es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, dass du etwas davon spürst, wenn du nun selbst in die Geschichten dieses Buches eintauchst.
Die Welt der keltischen Mythen ist bevölkert von »Shape-shifters« – Helden und Heldinnen, die ihre Gestalt wandeln, sich in Schwäne oder Raben verwandeln und auf diese Weise Gefängnisse und Mauern überwinden können. Sie erzählen uns davon, dass wir nicht in den fremd- oder selbstgemachten Gefängnissen unseres Lebens verharren müssen, sondern dass Veränderung immer möglich ist.
Es gehört zu den Grundzügen aller Mythen und Märchen, die diesen Namen tatsächlich verdienen, dass sie von – häufig mühsamen und verschlungenen – Wegen der Veränderung erzählen. Der Mythenforscher Joseph Campbell hat dieses Grundmuster der mythologischen »Heldenreise« beschrieben: Am Anfang steht der Ruf des Abenteuers. Der Held wird durch eine unerwartete Aufgabe aus der gewohnten Lebenswelt herausgerufen. Zunächst weigert er sich, seine vertrauten Sicherheiten aufzugeben. Doch durch die Hilfe von einem oder mehreren Mentoren überschreitet er schließlich doch die Schwelle und stellt sich dem Abenteuer. Auf dem Weg müssen verschiedene Prüfungen, Kämpfe und Versuchungen bewältigt werden. Es kommt zu einer verändernden Begegnung mit einer weiblichen Macht, durch die der Held schließlich den Schatz oder das Elixier erlangt, das die zurückgelassene Welt retten oder verändern kann. Nun beginnt der Rückweg, der zunächst nur zögernd angetreten wird. Noch einmal müssen äußere Bedrohungen überwunden werden, wobei sich häufig eine gute Tat an einem vermeintlich schwächeren Wesen auf dem Hinweg auszahlt. Schließlich kehrt der Held in die alte Welt zurück, die er nun durch den mitgebrachten Schatz und die gewonnenen Erfahrungen bereichert.
Dieses Grundmuster der Heldenreise wurde vielfältig adaptiert und unter anderem als Erfolgskonzept für viele Romane und Hollywood-Filme fruchtbar gemacht. Doch Campbell und in seiner Nachfolge zahlreiche Therapeuten betrachten die Heldenreise auch als ein Muster für individuelle Veränderungs- und Wachstumsprozesse.
Auch wenn sich das von Campbell beschriebene Muster im Prinzip auch auf weibliche Heldinnen übertragen lässt, ist das Bild des Helden ein recht einseitig männlich geprägtes Bild. Mit Blick auf die Lebensdaten des verdienstvollen Mythenforschers (1904–1987) ist das nicht verwunderlich.
Mir persönlich liegt das Bild der Pilgerin näher. Der Held bricht auf mit Schwert und Schild, bereit zu kämpfen und zu erobern. Das ist ein sehr männliches Verständnis von Veränderungsprozessen – wobei ich nicht leugnen will, dass diese kämpferische Energie auch für Frauen notwendig und not-wendend sein kann.
Die traditionelle Ausrüstung der Pilgerin ist der Wanderstab, die Muschel und ein Rucksack mit dem nötigsten Proviant. Symbole des Rückzugs, der Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit; Symbole aber auch, die andere dazu einladen, ein Stück des Weges und des Proviants zu teilen. Die Haltung des Helden ist eine Haltung der Abenteuerlust und der Selbstgewissheit. Die Haltung der Pilgerin dagegen zeichnet sich aus durch Demut, die allerdings nicht zu verwechseln ist mit Unterwürfigkeit. Das englische Wort für Demut (humility) kommt vom lateinischen Wort Humus (Erde). Die Pilgerin ist sich bewusst, dass sie von der Erde genommen ist und zur Erde zurückkehrt (1. Mose 3, 19). Dieses Wissen gibt ihrer Reise die Erdverbundenheit, die wir als Menschen dieser Zeit mehr brauchen als je zuvor.
Am Anfang jeder Pilgerreise steht die Sehnsucht, die Ahnung, dass etwas in unserem Leben fehlt. Etwas, das wir nur finden können, wenn wir ohne Eile einen Fuß vor den anderen setzen und Wege gehen, die wir noch nie zuvor gegangen sind. Wege, die schmal und oft nur zu ahnen sind. Wege auf felsigem und auf matschigem Grund, manchmal auch mit Blasen an den Füßen. Als Pilgernde hinauszugehen in die Landschaft, heißt auch hinauszugehen in unsere Seelenlandschaft. Die Heldenreise und der Pilgerweg führen uns vor die Tore der Stadt, hinaus aus der Komfortzone der luftigen Elfenbeintürme abstrakten, intellektuellen Wissens, hinein in die Wildnis und hinein in die Welt der Imagination und der »Bone-Memory«. Dort draußen begegnen wir unserer Trauer, unseren Verwundungen, unseren Verlusten, unserem Schatten. Wenn wir zurückkehren, sind wir nicht mehr dieselben, doch wir bringen etwas mit, was der Gemeinschaft dienen kann: Geschichten, Poesie, Musik und hoffentlich Visionen für die Zukunft dieser Gemeinschaft. Denn solch ein Aufbruch dient nicht nur dem eigenen Wachstum, sondern trägt – wie Campbell es für die Heldenreise beschreibt – Früchte für die Gemeinschaft, für das Dorf, die Stadt oder das Land, in das wir am Ende zurückkommen.
Unsere gemeinsame Pilgerreise wird uns durch den Jahreskreis der keltischen Feste führen. Viele der christlichen Feiertage haben bekanntlich pagane, am Lauf der Sonne und der Jahreszeiten orientierte Vorläufer. Das christliche Weihnachtsfest wurde mit der Wintersonnenwende verbunden und der Gedenktag für Johannes den Täufer mit der Sommersonnenwende. Das Fest der »Darstellung des Herrn« oder Mariä Lichtmess steht terminlich und inhaltlich dem keltischen Fest Imbolc nahe.
Doch anders als bei den keltischen Festen steht bei den kirchlichen Feiertagen in der Regel ein Ereignis aus der christlichen Heilsgeschichte im Mittelpunkt. Die Wahrnehmung der Jahreszeiten mit ihren besonderen Qualitäten des Werdens, Wachsens, Vergehens und Ruhens spielt dabei kaum eine Rolle. Dies ist nur einer von vielen Mosaiksteinen, die dazu geführt haben, dass im westlich-christlich geprägten Abendland der Bezug zur Schöpfung so weitgehend verloren gegangen ist. Aktive Christen und Christinnen leben mit dem Kirchenjahr und damit mit den wichtigen Stationen im Leben Jesu und der Kirche. Der Kreislauf des Jahres mit seinem Bezug zum Zyklus unserer Lebenszeiten findet bestenfalls in der persönlichen Spiritualität einen Platz, aber kaum in der Praxis der kirchlichen Feste.
Anders als unser gewohntes, westlich-christliches Denken verläuft das keltische Denken nicht linear hin auf ein zukünftiges Ziel am Ende der Zeiten, sondern zirkular. Wie in der Spirale, die sich so häufig in keltischen Illustrationen findet, durchlaufen wir im Jahreskreis immer wieder die gleichen Stationen und sind gleichzeitig unterwegs in einem Prozess der Wandlung. Am Ende unseres Pilgerweges durch die Jahreszeiten kehren wir als Veränderte zurück an den Anfang. Wir beginnen den Weg erneut, doch es ist nicht derselbe Weg, weil wir nicht mehr dieselben sind. Kreislauf, Wachstum und Veränderung gehen Hand in Hand.
Das keltische Jahr beginnt bezeichnenderweise nicht mit dem neuen Leben im Frühjahr, sondern nach der Ernte und somit mit jener Zeit, in der die Natur in einen Zustand der Ruhe übergeht. Wir werden unsere Reise also im Herbst zum keltischen Fest Samhain antreten und damit in einer Zeit, die viele Menschen als besonders herausfordernd empfinden. Diesem und allen anderen Festen habe ich jeweils eine Erzählung zugeordnet, die das Grundthema und die Qualität dieses Festes spiegelt. Mit Blick auf den zirkularen Charakter des keltischen Jahres möchte ich dich einladen, die Kapitel dieses Buches der Reihenfolge nach zu lesen. Notwendig ist das aber