Vom verzauberten Hexer in der Schildkröte: Erkenntnisgewinn ist besser als Fremdenhass
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Buchvorschau
Vom verzauberten Hexer in der Schildkröte - Carmen Sternetseder-Ghazzali
Vorwort oder zum Teufel mit unseren Stereotypen
Es gab eine Zeit in meiner Jugend, da habe ich sogenannte Holocaust-Romane geradezu verschlungen. Egal ob Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész oder Ist das ein Mensch? von Primo Levi.
Ich las diese Romane schwankend zwischen Grauen und wohltuender Gewissheit. Grauen ob der Abscheulichkeiten, die damals passiert sind, und wohltuende Gewissheit, weil ich dachte, das könnte niemals wieder passieren.
Leider sind Verbrechen an der Menschheit dann doch immer wieder passiert, nicht nur irgendwo auf der Welt, sondern auch in Europa, etwa Srebrenica. Nun gut, dachte ich mir, ein Ausrutscher.
Ich war trotzdem weiterhin sicher, es gäbe vor allem in Deutschland so etwas wie einen gesellschaftlichen Nothebel, der gezogen würde, sobald das gesellschaftliche Klima jemals wieder umkippt und es salonfähig wird, gegen eine spezifische soziale Gruppe zu hetzen.
Pustekuchen! Gerade braut sich so ein Gewitter wieder zusammen. Es ist salonfähig geworden gegen Flüchtlinge und gegen Muslime zu hetzen. Wie konnte das passieren? Hat das einfach nur mit diesen spezifischen Gruppen zu tun?
Oder hat es generell mit unserer Einstellung gegenüber kulturell fremden Menschen zu tun? Wenn ja, woher kommen diese Ängste und Einstellungen und was wäre die Alternative?
Wäre Weltoffenheit die bessere Alternative?
Auf alle Fälle. Denn Globalisierung beschränkt sich nun mal nicht auf Güter, Mode und Musikclips im Internet, sondern auch auf Menschen. Das Rad der Geschichte lässt sich ja bekanntlich nicht mehr zurückdrehen, und wenn man in die Zukunft blickt, wird sich die Fluktuation von Menschen noch beschleunigen. Wir haben nichts dagegen, dass unser neuer schicker Wintermantel mit hohem Alpaka-Anteil in den peruanischen Anden hergestellt wurde. Und wie wäre es, wenn plötzlich die Menschen, die in Peru den Mantel hergestellt haben, bei uns leben möchten?
Fakt ist: Egal ob es sich nun um einen federgeschmückten Amazonasindianer handelt, der auf deutschen Umweltkongressen über Medizin aus dem Regenwald spricht, um einen syrischen Flüchtling oder um eine strenggläubige Frau in Burka, alle drei stellen nicht nur unsere eigene Lebensweise infrage und provozieren uns durch ihr Anderssein, sondern konfrontieren uns auch mit der verwirrenden Tatsache, dass unser Lebensmodell nur eines von vielen ist.
Diese Erkenntnis ist für viele Menschen deshalb so erschütternd, weil die kulturellen Werte, die uns unsere Eltern vermittelt haben, plötzlich ungültig scheinen. Oder anders: die kulturellen Werte, die uns unsere Eltern vermittelt haben, sind unser Kompass, mit dem wir durch die Welt wandern. Durch die Welt, in der wir uns heimisch fühlen. Und sobald wir durch fremde Welten
wandern, fühlen wir uns nackt und orientierungslos.
Eine fremde Welt
, das kann eine Flüchtlingsunterkunft in einem bayerischen Dorf sein, eine Großstadt wie Bangkok oder das Bahnhofsviertel einer größeren deutschen Stadt. Überall dort, wo es nicht mehr so aussieht wie es zur Zeit unserer Kindheit ausgesehen hat.
Veränderungen wecken Ängste, man fühlt Heimat und Identität bedroht.
Was tun, um dieser Bedrohung durch kulturell Fremde den Stachel
zu nehmen?
Meist greifen wir auf eine uralte Strategie zurück, die bereits Christoph Kolumbus angesichts der indigenen Bevölkerung Südamerikas angewandt hat: wir entmenschlichen den Anderen. Wir betrachten ihn nicht mehr als ebenbürtigen und gleichrangigen Menschen. Wir reden nicht mit ihm, sondern über ihn, und wenn wir über ihn reden, dann wenden wir Stereotype an.
Diese Stereotype stammen allesamt aus unserer kolonialen Vergangenheit und haben dazu gedient, einer bestimmten Ethnie das ebenbürtige Menschsein abzusprechen, um sie schlimmstenfalls auslöschen zu können. Klingt hart, ist aber leider wahr.
Bizarr ist wirklich, dass sich der aktuelle Fremdenhass dieser Bilder und Klischees bedient, die aus imperialistischen Zeiten stammen, als der Rassismus noch salonfähig war. Und er scheint auch langsam wieder salonfähig zu werden, wenn wir nicht aufpassen. Ich meine nicht den, der gleich mit der Keule loshaut oder in der Gestalt des Brandstifters Farbe bekennt, sondern den stillen Rassismus. Er tritt im eleganten Gewand und mit eloquenter Sprache aus, findet Gehör in Talk-Shows und nistet sich so still und insgeheim in die bürgerlichen Wohnzimmer ein.
Stereotype sind sie stillen Helferlein des Rassismus, sein Einfallstor.
Das Buch zeigt an ausgewählten Beispielen die Tricks und falschen „Schätze" aus dieser miefigen und gefährlichen Mottenkiste. Egal ob wir uns in dem Buch auf die Spuren früherer Goldsucher, Missionare und Forscher in den tropischen Regenwald Papua-Neuguineas, West-Malaysias oder Venezuelas begeben, oder in deutsche Flüchtlingsunterkünfte unter Sozialpädagogen, Sie werden staunen, wie sich die Urteile und Stereotype über den kulturell Fremden ähneln.
Am Schluss werden Sie wissen: Egal welches Stereotyp – edel, wild oder defizitär – man wählt, um kulturell fremde Menschen zu beschreiben, immer hängt es von den eigenen Interessen ab. Kurz gesagt: Man projiziert in den kulturell Anderen das, was einem selber nützt. Als ebenbürtiger und gleichrangiger Mensch kommt der Fremde nicht zu Wort. Man spricht über ihn, aber nicht mit ihm.
Vielleicht fragen sich so manche: Abgesehen von einem friedlichen Miteinander, welche Vorteile bringt es noch, kulturell fremden Menschen und überhaupt Andersdenkenden (Punks, Ghotics, Barfussläufer, Exzentriker ...) neugierig statt pauschal verurteilend entgegenzutreten?
Mir fallen da schon einige Argumente ein. Wir würden friedlicher zusammenleben. Die Toleranz, die wir anderen gegenüber hegen, dürfen wir selber einfordern. Es würden sich weniger junge Menschen, deren Eltern aus anderen Ländern eingewandert sind, in Deutschland ausgegrenzt und diskriminiert fühlen. Das sänke die Kriminalitätsrate.
Ein wichtiges Argument hat jedoch mit unserer Erkenntnisfähigkeit zu tun. Dazu fällt mir ein Beispiel ein, auf das sich der Titel bezieht.
Vor einiger Zeit besuchte ich in München einen Filmabend auf dem der anwesende Regisseur Samuel Loe einen Film über Hexerei in Kamerun zeigte. Nach dem Film, während der Diskussionsrunde, erzählte der Filmemacher von Flussbewohnern, die schreckliche Angst vor Schildkröten haben, während Schildkröten auf der anderen Flussseite mit Wonne als Delikatesse verspeist werden.
Das versetzte das Publikum in großes Staunen. Zwei Nachbardörfer, aber zwei völlig konträre Weltbilder! Wie ist das möglich, wo man doch insgeheim schon immer gedacht hat, Afrikaner ticken
alle gleich?
Und: Wie ist er überhaupt zu verstehen, der seltsame Bedeutungswandel, den eine Schildkröte von Dorf zu Dorf erfährt?
Um das zu erfahren, müssen wir erst einmal unsere Denkschablonen und Ängste über Bord werfen, die wir in diesem Beispiel gegenüber Afrikanern
haben und auf etwas zurückgreifen, das uns als Kinder mit in die Wiege gegeben wurde: unsere absolute, offene Neugierde auf die Welt.
Ja, als Kinder waren wir noch weltoffen, bedingungslos weltoffen, das waren wir, und das sind alle Kinder auf Welt. Sie wollen wissen, was sich hinter der Spielkiste, dem Sandkasten, dem Gartenzaun, dem Wald, der Stadt, dem Horizont verbirgt. Aber natürlich hindert man sie daran, schnurstracks (mit Füßen und im Geiste) loszulaufen, um es herauszufinden.
Doch ein Stück weit müssen wir zurück zu dem großen Schatz unserer Kindheit.
Wenn uns das gelingt, werden nicht nur unsere Kontakte mit Menschen anderer Kulturen gelingen, sondern wir werden auch viele Dinge verstehen, die uns bisher bizarr und abwegig erschienen sind. Und ist der Mensch nicht ein erkenntnisfähiges Wesen? Und vielleicht sind unsere Neugierde und Erkenntnisfähigkeit das Werkzeug schlechthin für eine friedlichere Zukunft.
Die ist wichtig, denn schließlich rückt die Welt immer näher zusammen.
Oder glaubt jemand ernsthaft, man könnte das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen? Das versprechen höchstens rechtsextreme Populisten. Und denen zu glauben, ist gefährlich.
Wie alles anfing: Das Bordbuch des Kolumbus
Als Kolumbus auf der Suche nach einem kürzeren Seeweg nach Indien am 12. Oktober 1492 auf die Bewohner der Bahamasinsel Guanahani stieß, reagierten die spanischen Seeleute angesichts der fremdartigen Menschen geschockt, ablehnend und fasziniert zugleich. Was passierte da genau? Die Guanahanier wurden von den Spaniern augenblicklich als radikal andere Menschen erkannt, die alles auf den Kopf stellten, was sie bisher von der Welt zu wissen glaubten.
Man muss wissen: Zur Zeit Kolumbus′ prägte der auf höfische Manieren und eleganten Kleidungsstil Wert legende spanische Hof das Menschenbild, daher waren die „nackten braunhäutigen" Guanahani für die Spanier auf körperlicher Ebene wie ein Schlag ins Gesicht. Aber nicht nur das: Es folgte auch auf beiden Seiten die beunruhigende Erkenntnis, dass die jeweils fremde Kultur durchaus auch eine attraktive Alternative zum eigenen Lebensstil hätte darstellen können. Man beäugte sich gegenseitig gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Die zwangsläufige Infragestellung der eigenen kulturellen Werte, religiösen Überzeugungen und Weltbilder erschütterte die eigene Identität.
Wenn man die eigene Identität bedroht glaubt, reagierten und reagieren Menschen stets auf ähnliche Weise: Man hebt die kulturell fremden Menschen in transzendente Sphären empor und betrachtet sie als Götter oder Traumwesen. Oder man verweist sie ins Reich des Bösen, Barbarischen, Unzivilisierten. Oder man sieht in ihnen arme, hilflose, oftmals pathologische Kreaturen, die dringend unsere Hilfe benötigen. Für welche Möglichkeit man sich auch immer entscheidet, stets geht es darum, den für uns Fremden nicht auf Augenhöhe zu betrachten, und zu entmenschlichen.
Kolumbus hat sich für die ersten beiden Möglichkeiten entschieden. Er beschreibt in seinem Bordbuch die Arawak der westindischen Inseln als nackte, aber glückselige und edle Wilde und die Kariben als kriegerische und böse Bestien. So wie er die einen idealisierte, so verteufelte er die anderen. Sie waren für ihn keine „normalen" Menschen, sondern verwilderte Fabelwesen, die jenseits der menschlichen Sphäre existierten. Nur dadurch, dass er die provozierend andersartigen Menschen zu Wilden stereotypisierte, konnte er Mensch bleiben.
Das war vor über 500 Jahren! Daher ist es kaum zu glauben, aber Kolumbus' Bordbuch wirkt bis heute bei uns nach. „Wie bitte, werden Sie jetzt fragen, „ist mir etwa entgangen, dass Kolumbus′ Bordbuch ein vielgelesener Longseller ist?
Natürlich ist es das nicht. Longseller aus anderen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden sind mit Gewissheit Cicero- oder Ovidtexte oder die Bibel. Cicerotexte werden immer wieder neu aufgelegt, weil Lateinschüler sie lesen müssen, und die Bibel, das versteht sich von selbst, ist die Grundlage der christlichen Religion.
Christoph Kolumbus ist für uns zuerst einmal der große Entdecker aus dem Geschichtsbuch oder – noch viel mehr – ein Kinoheld, gespielt vom französischen Schauspieler Gérard Depardieu, aber gewiss kein Autor, der uns mit seinem Bordbuch ein ausgezeichnetes Dokument hinterlassen hätte. Eines,