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Wir von Haus 3: Keine Gesellschaftskritik
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eBook224 Seiten3 Stunden

Wir von Haus 3: Keine Gesellschaftskritik

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Über dieses E-Book

Ein Haus voller Menschen – und voller Überraschungen
Billy ist Mitte dreißig. Sie raucht selbstgedrehte Joints und hat eine Vorliebe für T-Shirts mit provokanten Sprüchen. Außerdem hat Billy zum zweiten Mal Brustkrebs.
In der an der Ostsee gelegenen Rehaklinik Schloss Schönbye treffen zahlreiche skurrile Charaktere aufeinander, die alle ihre eigene Krankheits- und Lebensgeschichte mitbringen. Schon bald findet sich eine bunte Truppe zusammen, die jedoch bei verschiedenen Gelegenheiten aneinandergerät. Treffpunkt ist oft vor Haus 3, dem Raucherpavillon – auch wenn nicht jeder mitquarzt.
Da ist zum Beispiel Walda, eine ehemalige Varieté-Sängerin aus Hamburg, die an Brustkrebs und Diabetes leidet. Der Alkoholiker Manni mit Lungenkrebs, der ausschließlich Cowboy-Klamotten trägt und diskriminierende Sprüche von sich gibt. Uta, die frustrierte Leipzigerin mit einem Desinfektionszwang, die nach der Wende ihr Haus verloren hat. Und da ist Friedrich, der Pastor, eine tickende Zeitbombe, denn er kann jeden Moment einfach tot umkippen.
Friedrichs sehnlichster Wunsch ist, einmal in seinem Leben eine Schifffahrt mit seinem Vater zu unternehmen, mit dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Gemeinsam beschließen die neuen Freunde, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.
In ungewohnter Gefühlsoffenheit und mit sehr viel Lebenserfahrung zeichnet Bijou Beberniß ein Ensemble aus tiefgründenden, lustigen, coolen und beeindruckenden Figuren. Sie bedient sich dabei einer zuweilen subtilen wie auch sehr direkten Sprache, die aufrütteln soll sowie zum Lachen und Nachdenken animiert.
Ein Buch, das Mut macht!
SpracheDeutsch
HerausgeberKellner Verlag
Erscheinungsdatum12. Okt. 2020
ISBN9783956512841

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    Buchvorschau

    Wir von Haus 3 - Bijou Beberniß

    people.psd

    Keine Gesellschaftskritik

    Wir

    von Haus 3

    Bijou Beberniß

    Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

    Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

    Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Örtlichkeiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

    »Glück ist, Freunde zu haben.«

    (Schottisches Sprichwort)

    Den starken Frauen

    in meiner Familie,

    Lothar (†), Bettina (†) und Andi,

    Tammo, Pily und Jutta

    1. Kapitel

    »L egalize it!« Billy Bonbons Finger trommeln im Takt des Kiffersongs von Peter Tosh auf das Lenkrad ihres altersentsprechend klappernden Mini Cabriolets. Die warme Frühsommerbrise treibt ihren schrägen, etwas zu kehligen Singsang und den lässigen jamaikanischen Sound über glühende Rapsfelder am Rande der glitzernden Ostsee: »Don’t criticize it, and I will advertise it.« Dabei klopft sie sich auf die Brust, ihr orangefarbenes T-Shirt mit dem alten Spruch: Why drink and drive when you can smoke and fly . Sie liebt beschriftete und bebilderte Shirts.

    Die Pappeln rauschen als Palmen an ihr vorbei und der Wagen ächzt etwas müde, als er über eine Kuppe auf der Landstraße fliegt.

    »Komm, alte Missy, das schaffen wir!« Aufmunternd streicht Billy über das ergraute und raue Armaturenbrett ihres Wagens Missy. »Ist nicht mehr so weit, dann sind wir da.« Eigentlich ist Billy Bonbon mit fünfunddreißig zu alt, um ihrem Auto einen Namen zu geben und mit ihm zu reden. Aber Missy und Billy sind seit siebzehn Jahren ein Team. Billy hatte das orangefarbene Mini Cabriolet zu ihrem achtzehnten Geburtstag bekommen und war wie bei einem »Best Buddy« an ihr hängen geblieben. Sie drückt am alten Radio, um auf der CD den richtigen Track zu finden. Die Playlist hat sie extra für die Fahrt zum Schloss zusammengestellt und auf CD gebrannt. Die Selbstgespräche mit Missy stammen aus besseren Tagen – wenn auch weniger verrückten.

    Das Loslassen von allem anderen war mit der Krankheit gekommen – eine neue innere Freiheit.

    »Du weißt ja, dass wir statt in den Urlaub nach Schloss Schönbye müssen«, ermuntert sie mehr sich selbst und tritt dabei das Gaspedal durch. Bei Missys Höchstleistung von 120 Stundenkilometern vibriert das Lenkrad im Takt mit Bob Marleys Beat und Billys Stimme: »Won’t you help to sing … These songs of freedom? ’Cause all I ever have. Redemption songs …« Sie dreht den Rückspiegel zu sich und betrachtet sich beim Singen. Ihre Glatze lässt ihre eisblauen Augen riesig aufblitzen, und sie streicht sich über den nackten Schädel. Das könnte echt mein Style werden, und suchen wir nicht alle nach Erlösung?, fährt ihr durch den Kopf. Sie fingert an der ehemaligen Minzdose auf dem Beifahrersitz und bekommt sie einhändig nicht geöffnet. »Es ist Zeit für eine Pause und etwas Medizin, old Missy. Wir suchen uns jetzt ein lauschiges Plätzchen. Weiß du, ob wir richtig sind? Google hat uns jetzt schon ziemlich oft aufgefordert zu wenden. Aber egal – ich kann mich einfach nicht vom Meer losreißen.«

    Rechts taucht ein Parkplatz auf. Billy geht voll in die Eisen, und da Missy frei von modernster Technik und der Asphalt sandig ist, beginnt der Wagen zu rutschen. Routiniert lenkt Billy und bringt den Wagen in einer großen Staubwolke zum Stehen. Sie dreht das Radio auf, öffnet die Minzdose und saugt auch schon den süßlichen Geruch ihrer verordneten Medizin ein. Genüsslich führt sie eine selbstgedrehte Zigarette unter der Nase entlang und atmet tief ein. Gleich werden die Schmerzen und das Jucken in den Beinen besser.

    Der Parkplatz ist leer, und keine Menschenseele ist zu sehen. Sie hat sich definitiv verfahren. Egal, alles zu seiner Zeit, und jetzt ist »me time«, denkt sie und sucht wieder nach einem bestimmten Song auf der CD.

    Die Vibrationen der lauten Musik erfassen Missy, während Billy lauthals betet: »Kiffer unser, der du bist in Jamaika, geraucht werde dein Joint, dein Hash komme, dein Flash geschehe, wie in der Bong so auch in der Tüte. Unser tägliches Gras gib uns heute und schenke uns Erlösung, wie wir auch unsere Medizin preisen, und erlöse uns von den Strafen, denn dein ist die Reggae Musik und das Weed und Seligkeit in Ewigkeit. Peace!« Sie findet diese Abwandlung einfach lustig, und Reggae-Musik liebt sie seit ihrer Kindheit. Warum Deutschland sich nach wie vor mit medizinischem Cannabis so schwer tut, ist ihr ein Rätsel.

    Sie entfacht ein Streichholz am rauen Armaturenbrett. Beim Anzünden schließt sie die Augen und atmet tief ein. Vor einem Jahr hatte sie nicht geglaubt, dass sie heute hier sitzen würde.

    *****

    Vor einem Jahr hatte sie sich – mehr aus Routine als dem Gefühl der Notwendigkeit – zur Krebsnachsorge zu ihrem Gynäkologen um die Ecke, im Kieler Stadtteil Düsternbrook, auf den Weg gemacht.

    Sie genoss die warme Herbstsonne im Gesicht, und der Wind zerzauste ihr rückenlanges, blondes Haar, als sie bergab radelte. »Zehn Jahre sind so gut wie rum. Und der Scheiß ist nicht wiedergekommen! Ich habe es geschafft. Yeah! « Bei diesem Gedanken lächelte sie in sich hinein, ließ das Lenkrad los und streckte die Hände in einer Siegerpose in die Luft. Jetzt würde sie mit Ben steinalt werden können.

    Erfrischt und zufrieden stellte sie ihr altes, kornblaues Damenrad vor der Praxis ab und ging die drei Stockwerke zügig und leichtfüßig nach oben. Ihre erste Brustkrebserkrankung mit nur vierundzwanzig Jahren hatte sie gelehrt, dass Gesundheit, neben ihrem Mann Ben, das Kostbarste ist – obwohl sie sich 2007 noch nicht kannten. Billy hatte sich damals vorgenommen, diese Zeit nicht zu verschwenden. So hatte ihr Leben nach der Genesungsphase eine neue Dynamik aufgenommen, die ihr sehr gut gefiel.

    »Hallo, Dörte! Ich mal wieder!« Billy schloss die Tür der Praxis hinter sich und drehte sich fröhlich zur Arzthelferin hinterm Tresen. Die beiden hatten vor zehn Jahren, als Billy in der akuten Chemotherapie das Gefühl hatte, durch die häufigen Termine schon fast zur Belegschaft zu gehören, so etwas wie Freundschaft geschlossen.

    »Hey Billy, alles frisch?«

    Billy liebte diese Begrüßung, denn sie ließ viele Antwortmöglichkeiten zu, je nach Stimmung und Gesundheitszustand. Es erinnerte sie daran, wie viel sich in den vergangenen zehn Jahren verändert hatte.

    »Ich fühle mich super«, erwiderte sie und schlug automatisch den Weg zum Wartezimmer ein. »Fitter als damals.« Sie lachte.

    *****

    »A u! Scheiße!« Billy lässt den Joint fallen, der ihr gerade die Finger verbrannt hat. Er rollt in den Fußraum unter dem Steuer. »Scheiße!« Sie schluckt den Kloß im Hals herunter, und ihre Hand zittert, als sie nach der Kippe angelt. Es nervt sie, dass manche Erinnerungen sie immer wieder überfallen – wie Gewohnheitsverbrecher schleichen sie im Schatten ihrer Gedanken umher und springen sie hinterrücks an, wenn sie einen Moment nicht aufpasst. Gereizt wirft sie den glimmenden Filter auf den Schotterparkplatz, dreht das Radio bis zum Anschlag auf, sodass die geschlossenen Fenster geradezu aus ihrer porösen Verankerung gedrückt werden.

    Die Vibrationen der Musik wirken endlich und hüllen sich, wie eine Fata Morgana in der Wüste, schützend um ihre Seele. Sie legt den Kopf auf Missys Lenkrad ab, saugt den alten Kunststoffgeruch tief ein.

    Um sich vor den Ereignissen, die sie hierhergebracht haben, zu lösen, fängt sie leise an mitzusingen: »Baby, I’ve been here before!« Mit jeder Silbe von Pentatonix werden die Töne der schmerzenden Erinnerungen weniger – »But all I’ve ever learned from love was how to shoot somebody who outdrew ya.« Sie fühlt, wie sich ihre Stimmung wieder bessert und sich die Erinnerungen im summenden Bass des Songs verlieren. Nicht die Liebe hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, sondern der Krebs. Sie atmet tief durch, richtet sich auf, öffnet die Fahrertür. Billy steigt aus, sieht sich auf dem Parkplatz um und entdeckt einen schmalen Trampelpfad, der direkt an einen Strandabschnitt mit Kies führt.

    »Wir lassen uns nicht unsere gute Laune verderben, Missy!« Dabei setzt sie ihre runde Hippie-Sonnenbrille auf. Da sie auf Billys eingecremter Glatze keinen Halt mehr findet, hat sie die Brille an einem Lederband befestigt.

    Vor fremden Blicken nur durch die offene Autotür geschützt, zieht sie schnell ihren neuen Badeanzug aus dem Sanitätshaus an. Als sie ihr medizinisches »Quetschleibchen« auszieht, fällt ihr auf, dass ihre Brüste aussehen wie eine vulkanische Kraterlandschaft, in ihrem Hautton gefärbt. Sofort drängt sich ihr diese bescheuerte Karte mit dem Spruch vom kleinen Prinzen auf – »Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar« –, die Billy von einem ach so sensibel wirkend wollenden Menschen zur Mastektomie bekommen hatte. Mit einem Edding hatte Billy die Karte um »aber das Auge isst immer mit« ergänzt.

    In Zeiten der Selbstoptimierung und Selbstdarstellung sind solche Zitate pure Heuchelei, denkt Billy. Glaubten die Absender solcher Belehrungen allen Ernstes, dass es einfach ist, ein Stück vom eigenen Körper zu verlieren und es durch das Unsichtbare, ach so Tugendvolle zu ersetzen und trotzdem jeden Tag durch Schmerzen oder Spannungsgefühle in der Haut erinnert zu werden? Wehmütig denkt Billy an ihre ehemaligen Brüste in ihrem alten Lieblingsbikini, aber seit der Mastektomie hat sie nun mal Silikonbrüste, und diese erfordern besonders geschnittene Badeanzüge. Also landete der Bikini im Müll. Billy hat sich für Pragmatismus entschieden. Aus und vorbei. Forever! Das hat mit Tugend genauso viel zu tun wie die »Frauen ohne Mann sind wie Fische ohne Fahrrad«-Sprüche früherer Kampf- und Krampfemanzen, wie Billy diese Art von Protestfrauen gerne nennt.

    Warum schaffen Frauen es nicht, konstruktiver für die Dinge zu kämpfen, die ihnen am Herzen liegen? Die #MeToo-Debatte zum Beispiel ist wie ein elektronischer Scheiterhaufen, auf dem gleich ein ganzes Geschlecht verheizt wird. Der jedoch von einer Generation Frauen errichtet wird, die durchaus die Macht haben, die Opferhaltung abzulegen. Das hat für sie mit Emanzipation wenig zu tun. Statt Quoten und Gesetze aufstellen zu wollen, sollten diese Frauen ihre Forderungen selbst in die Hand nehmen. Das dies unbequem, aber wirkungsvoll ist, hat die russische Punkband Pussy Riot gezeigt. Was bei #MeToo fehlt, ist das konkrete Handeln von Frauen, die die Wahl haben im Sinne von einem Diskurs #ohneMich. Wir müssen aus der Opfer- und Rachehaltung herauskommen und eine neue Selbstbestimmtheit ergreifen. Da helfen virtuelle Aggressionen nur bedingt weiter. Man kann sich nur selbst aus der Opferrolle befreien – ganz im Sinne der Selbstbestimmung.

    Was Billy angeht, stehen ihre Selbstbestimmtheit, ihre Arbeit und ihre Beziehung mit Ben in keinem Konkurrenzverhältnis, sondern sind gleichwertig und schließen einander nicht aus. Natürlich hat sie dieses Selbstverständnis auch den politischen und feministischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und ihrer Erziehung zu verdanken. Sie ist den vorherigen Generationen dankbar für die Freiheit, die sie erstritten haben.

    Barfuß rennt sie den Pfad hinunter und lässt die Gedanken hinter sich. Dank der Empfindungsstörungen in den Füßen durch die Krebstherapie kann sie die stechenden Steinchen am Meeressaum nicht spüren. Hat auch Vorteile, wenn die Nerven in den Füßen tot sind, denkt sie, als sie ins Wasser rennt. Sie lässt sich rückwärts in die Ostsee fallen. Jede Pore ihrer Haut zieht sich zusammen, und ihr bleibt die Luft weg, als die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlagen und ihr Rücken den Boden berührt. Wie ein Delfin springt sie nach oben und versucht, sich um ihre eigene Achse zu drehen. Sie fühlt Leben durch ihren Körper strömen. Ihre Zähne klappern bei vierzehn Grad Wassertemperatur und sie denkt: Geil! Ich bin noch da! Ich kann wieder baden.

    Die Kälte treibt Billy schnell wieder aus dem Meer. Sie geht den Weg zurück, fällt nass zitternd auf den Fahrersitz und zündet sich einen Joint an. »Dieser ist für dich, Doc Müller. Danke für mein Leben.« Sie atmet tief ein und ganz langsam wieder aus.

    Ihr Onkologe war es gewesen, der Gras als Teil der Krebstherapie empfohlen hatte, um die Nebenwirkungen der Chemotherapie in Schach zu halten. Zuvor hatte sie mit Drogen nie etwas am Hut gehabt. In der Studentenzeit war mal die eine oder andere Tüte gekreist. Harmlos und lange her. Da sie die Nebenwirkungen von ihrer ersten Krebserkrankung kannte, hatte sie große Angst, das ganze Elend wieder durchmachen zu müssen, und suchte nach jedem Strohhalm – denn bei einem triple-negativ Brustkrebs, einem sehr aggressiven Krebs mit multipler Persönlichkeit, war Chemo die beste Behandlung. Nach Beratung und Tumorkonferenz hatte Dr. Müller entschieden, dass sie achtzehn Regime mit je zwei Zystotika bekommen müsse. Also musste sie sich, um zu leben, sechsunddreißig mal vergiften lassen. Das war der Moment, in dem sie um ein künstliches Koma bat. Billy wusste einfach nicht, wie sie die Kraft aufbringen sollte, diese Tortur des multiplen Zelltods ein weiteres Mal durchzuhalten.

    *****

    Nach dem Bad hat sie nun das Gefühl, sich den umherstreifenden Erinnerungen vom letzten Jahr stellen zu können.

    Sie sind sofort da. Das Wartezimmer. Wie sie auf einem der Plastikstühle saß und die Textnachrichten auf ihrem Telefon checkte. Sie schmunzelte, als sie sah, dass Ben – ihr neuer Freund seit dem Jahr zuvor – ihr schon geschrieben hatte, obwohl sie sich erst vor einer Viertelstunde noch geküsst hatten. Eine kurze Unterhaltung entspann sich:

    »Ich vermisse dich jetzt schon. Freue mich auf gleich. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich liebe dich endlos. Ben«, geschmückt mit Kuss-Emojis.

    »Bin ganz aufgeregt. Freue mich auf später und küsse dich zart«, gefolgt von einem pochendem Herzen.

    Ben fragte: »Wegen der Untersuchung?« Die Nachricht war mit einem nachdenklichen Emoji versehen.

    »Quatsch! Nach zehn Jahren kommt da nix mehr, nur Routinetermin«, unterstrichen durch ein augenrollendes gelbes Gesicht.

    Dies meinte Billy ernst. Mit jedem weiteren verstrichenen Jahr war sie entspannter geworden. Die Überlebensstatistik sprach für sie. Nach zehn Jahren ist man über den statistischen Berg. »Aufgeregt, weil du mir heute Morgen einen besonderen Abend mit allem Schnickschnack in Aussicht gestellt hast!« Mit küssenden Emojis schloss sie die Nachricht.

    »Frau Bonbon, kommen Sie bitte!« Dr. Dirks strahlte sie an. Ende der Unterhaltung mit Ben.

    »Gerne, Doc. Heute ist unser zehnter Jahrestag. Cool, oder?« Sie zwinkerte ihm zu, als eine ältere Dame ihr gegenüber etwas pikiert dreinschaute. Spontan folgte sie dieser Steilvorlage: »Aber wir sagen es nicht Ihrer Frau?«

    »Auf gar keinen Fall, Frau Bonbon.« Der Arzt erwiderte das Zwinkern, und seine Hand lud sie ein, ihm in das Sprechzimmer zu folgen.

    Wie üblich tastete er als Erstes ihre feste B-Körbchen-Brust ab. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir vom dreimonatigen auf das sechsmonatige Untersuchungsintervall umsteigen. Ich fühle nur etwas festes Drüsengewebe. Die Narbe auf der rechten Seite sieht man kaum noch. Das sieht also alles sehr gut aus. Zur Sicherheit mache ich noch einen Ultraschall.« Dr. Dirks lächelte zufrieden, als er die Hände herunternahm, um sich zum Ultraschallgerät zu drehen und die Tube mit dem Gel in die Hand zu nehmen. »Nach neununddreißig Nachsorgeterminen kennen Sie das ja.« Seine freie Hand signalisierte Billy, sich auf die Liege zu legen. Entspannt legte sie sich halb seitlich auf das Stillkissen. Welch Ironie, dachte sie nun zum vierzigsten Mal und legte die Arme über den Kopf. Das Stillkissen erinnerte sie daran, dass sie keine Kinder würde bekommen können, da ihre Eierstöcke infolge der ersten Krebserkrankung prophylaktisch entfernt worden waren. Eierstockkrebs hatte es auch in ihrer Familie gegeben.

    Als sie sich streckte, spannte die alte OP-Narbe an der rechten Brust. Billy hatte sie in den letzten neundreiviertel Jahren als ihr persönliches Wetterbarometer lieben gelernt, denn vor Wetterveränderungen kribbelte sie. Das hatte Billy bisher nur aus Erzählungen von Kriegsversehrten gekannt. Aber solange sie gesund war, war ihr das ziemlich egal.

    Über den Monitor verfolgten sie und der Arzt die Struktur des Brustgewebes. Es sah weich und grau aus. Wie immer. Plötzlich wiederholte Dr. Dirks den Scan an einer bestimmten Stelle – dem linken äußeren Quadranten, Billy konnte die Bilder mittlerweile gut mitlesen. Seine Mimik wurde sehr konzentriert, und sofort sah Billy den Grund. Zwei dunkle Stellen auf dem Monitor.

    »Echt jetzt?«, entfuhr es ihr.

    Dr. Dirks drehte die Auflösung auf Maximum. »Wir müssen stanzen, um sicher zu sein, dass alles in

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