Abschiedslied
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Über dieses E-Book
Ein lebendiges Porträt einer Familiengeschichte in der Nachkriegszeit. Aber vor allem eine bewegende Mutter-Tochter-Erzählung von der Vergangenheit ins Heute - eine weibliche Identitätssuche.
Gabi Teresa Klohn
Gabi Teresa Klohn wurde 1956 geboren und lebt in Dachau. Die autobiografische Erzählung ist ihre erste Veröffentlichung. Nach der Mitwirkung an einem Theaterprojekt 2014 in Dachau begann ihr Schreiben von Gedichten, Kurzgeschichten und Buchmanuskripten. Aktuell schreibt sie an einem Roman.
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Buchvorschau
Abschiedslied - Gabi Teresa Klohn
Sieh, dass du Mensch bleibst.
Menschsein ist von allem die Hauptsache.
Und das heißt, fest und klar und heiter sein,
ja heiter, trotz alledem.
Rosa Luxemburg
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Mutter in Weberbach
Wildmosers in Weberbach
Anderl
Kapitel 2
Greta bleibt zu Hause
Greta und Lorenz
Wildmoserfrauen
Beschwingte 60er Jahre in Weberbach
Kapitel 3
Die wilden 70er Jahre
Kapitel 4
Ausgeträumt in den 80er Jahren
Kapitel 5
Es geht weiter, immer weiter, aber anders
Abschied
Erinnerungen
Kapitel 1
»DIE GEDANKEN SIND FREI.« Meine Mutter sitzt auf ihrem Bett, ihre Beine baumeln herunter, zu kurz, um den Fußboden zu erreichen. Sie schwingt mit ihnen hin und her wie ein kleines Mädchen – ich stehe vor ihr und kämme behutsam und zärtlich ihr schlohweißes Haar, ihren Einheitsschnitt im Altersheim. Wir genießen es, das kurze, vertraute Berühren, die Nähe, die sie jetzt zulassen kann, die ich zulassen kann. Sich gegenseitig zu spüren.
Es klopft an der Tür, eine Pflegeschwester kommt energischen Schrittes ins Zimmer. »Gehen sie mit ihrer Mutter auf die Toilette, bevor sie zur Kaffeerunde kommen?«
»Wir brauchen noch gemeinsame Zeit, und, klar doch gehe ich mit meiner Mutter aufs Klo.«
Schnell verlässt sie das Zimmer wieder, die oder der Nächste wartet ja schon. Wir atmen auf, ich kämme ihr Haar weiter, sie singt ihr Lied mit klarer, klangvoller Stimme und Leidenschaft, »die Gedanken sind frei«, wobei sie vor »frei« innehält, um Luft zu holen, damit sie es mit voller Kraft und Inbrunst herausschmettern kann, nicht schrill, sondern vollmundig. Im Takt bewegt sie ihre Arme und Hände dazu, eine Dirigentin ihrer selbst – voll im Hier und Jetzt, im Augenblick. Ich bringe den Kamm ins Bad. Sie wiederholt den Liedanfang immer wieder. Ich komme zurück und setze mich auf den Sessel ihr gegenüber, betrachte sie, meine Mutter, in ihrem Tun, erstaunt, berührt, so frei habe ich sie selten erlebt. Sie hört auf zu singen, spricht mich an: »Sind die Gedanken frei?«
Perplex über die plötzliche Stille, über ihre eigene Frage, wartet sie auf meine Antwort. In welchen Sphären und Räumen bewegt sie sich – dieser vor mir sitzende Mensch?
»Ich glaube, Mama, dass du dich frei singst. Und endlich hast du Zeit dafür!«
»Ja, das stimmt.« Sie lächelt und singt weiter. Ihre eigene Zensur scheint sich immer mehr aufzuheben, die alten verinnerlichten Gedankenmuster – »Ich darf hier nicht faul rumsitzen und nur singen!«, oder »Ich habe so viel zu tun, ich muss das alles schaffen!« – werden aufgeweicht. Die kognitiven Verbindungen funktionieren so nicht mehr und machen Platz für ihre jetzigen Empfindungen und die Wiederentdeckung ihrer Sinne. Plötzlich wirft ihr Langzeitgedächtnis Erlebnisse in kurzen, prägnanten Sätzen aus, die ich so noch nie von ihr gehört habe – wie das Abspulen einer Filmrolle mit Sequenzen von Bildern, die angehalten und ausgespuckt werden und neue Dimensionen eröffnen. Freud lässt grüßen, die Verdrängungswiderstände weichen, ungefiltert werden Erinnerungen wach und neu ausgedrückt. Meine Mutter erlaubt sich nun die Muse des Nichtstuns – einfach nur Singen genügt. Die Schatten fliegen vorbei, und ihre jetzige Umwelt akzeptiert sie in ihrem Sosein.
»Was denken die anderen Leute dann.«
Wie oft habe ich diesen Satz von ihr gehört, wie hat er mich immer aufgeregt und wütend gemacht, diese Richtschnur, dieses gesellschaftliche Verpflichtungsgefühl, das ihr wichtiger war als die individuelle Freiheit als Person.
Die Wut meiner Mutter, ihr Zorn über ihre Krankheit – ihren »kaputten Löcherkopf«, wie sie ihn nannte, sind nun kein Thema mehr. Das Notizbuch mit ihren letzten Aufzeichnungen liegt seit einiger Zeit unbenutzt auf dem Tisch in der Ecke, in ihrem kleinen Reich, einem quadratischen Raum, gemütlich eingerichtet. Ein Bett, daneben das rollende Nachtkästchen, schräg gegenüber ein Stuhl, das alles war schon da. Der farbig bunte Sessel gegenüber dem Bett, der geparkte, gedrechselte Servierwagen, daneben die von ihr einstmals so geliebte Eichenkommode reihen sich hinter dem Tisch die Wand entlang. Diese persönlichen Möbelstücke, die sie nicht mehr als solche erkennt, sind hier nun unwichtig. Die Fensterfront zum Süden gibt den Blick frei in den begrünten Innengarten des Heims, die übrigen weißen Wände des Zimmers sind bestückt mit großen und kleinformatigen Familienfotos, gebannte Erinnerungen aus vergangenen Zeiten. Zum Ausgang ihres Zimmerreichs steht links der dunkelbraune Kleiderschrank, gegenüber ist die Tür zum ebenerdigen Bad mit Toilette. Meine Mutter singt und singt, sie nimmt sich diesen Raum, die Freiheit, dieses Lied so oft zu singen, wie sie es mag, es beruhigt sie wie ein Mantra, ein sich wiederholendes, vertrautes Klingen.
Warum hat sie sich gerade dieses Lied unter all den altbekannten Liedern ausgesucht, die sie vormittags bei der Singgruppe singen. Ich nehme sie an die Hand und führe sie ins Bad. Sie erledigt ihre Toilette selber und zieht anschließend ihre Windelhose hoch.
»Händewaschen nicht vergessen«, sage ich, wie sie es früher immer zu mir gesagt hat. Die Rollen haben sich vertauscht. Sie braucht jetzt Anleitung und Begleitung in ihrem Tun. Ich atme tief durch und ertappe mich bei dem Gedanken, dass alles wie eine Seifenblase zerbirst und wir beide auf die grüne Gartenbank im Hof ihres Hauses katapultiert werden, in der Sonne sitzen und lachen, und ihre Demenz wie weggeblasen ist. Ein Trugbild, ein Traum, der von der Wirklichkeit schon längst eingeholt ist. Gemeinsam verlassen wir ihr Reich, nicht ohne ihre inzwischen verbeulte rote Handtasche, die muss immer mit, wenn sie ausgeht. Diese Eigenart wird von allen hier respektiert. Mit ihrem speziellen Attribut in der Hand, hakt sie sich bei mir ein, und ich führe sie zu ihrer Tischrunde in die Küche, wo sie ihren Stammplatz hat und schon von den anderen Frauen erwartet wird. Auf dem Weg dorthin erzählt sie mir, sie fühle sich wohl mit denen, »denn da stimmt die Chemie!«
Dieser Ausspruch entspannt mich und erleichtert mir den Abschied, sie dort zurückzulassen.
Auf dem Rückweg in ihr Zimmer, um mein Gepäck abzuholen, setze ich mich an ihren Tisch und schlage ihr Notizbuch auf. Seite für Seite umblätternd, suche ich ihre Einträge, ihre zittrig flüssigen Aufzeichnungen in der gelernten Schönschrift, ab. Neugierig auf Entdeckungen – ein Zeichen, ein Wort, einen Gedanken, aber ich finde keinen neuen Eintrag. Ihre letzten Schriftzüge, die aufgelisteten Vornamen und Geburtsdaten ihrer zwei Schwestern, die ihres Mannes, der beiden gemeinsamen Kinder, und die ihrer zwei Enkelkinder, springen mich an wie Relikte, Zeugnisse des Bewahrens, des Festhaltenwollens ihrer vertrauten Menschen. Ich atme tief aus, blättere langsam weiter, es wiederholen sich x-mal meine Telefonnummer und die meiner Schwester, mehrmals leuchtet ihre eigene Girokontonummer der Sparkasse auf, die letzten Zahlen der Verbindung mit der realen Welt. Konzentriert sehe ich auf den Schriftzug, ihren eigenen Vornamen mit dem Geburtsdatum: Greta, 7. Februar 1928.
Es fällt mir schwer, diese, ihre langsame Verabschiedung zu akzeptieren. Was werden meine letzten Worte und Zahlen einmal sein, was bleibt übrig von diesem Menschsein? Ich schlage das Buch zu, spüre im Bauch meinem Ein- und Ausatmen nach, traurig und tief bewegt. Ich bewundere sie, meine Mutter, wie sie nun die letzten Kraftreserven entfaltet, wie sie mit Mut und Würde ihrem körperlichen und geistigen Verfall entgegentritt. Mein Blick fällt auf ein schwarzweißes, vergilbtes Foto, an der Wand gegenüber, auf dem sie mit