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Dein Bild in Meinen Augen
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eBook508 Seiten7 Stunden

Dein Bild in Meinen Augen

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Über dieses E-Book

"Man tut dumme Dinge aus dummen Gründen, wenn man emotional involviert ist. Aus irgendeinem Grund setzt der gesunde Verstand aus. Du hast das Gefühl das einzig Richtige zu tun und verletzt am Ende die Person, die du eigentlich schützen wolltest."

Das Einzige, was der stille Design-Student Cale Bexter weiß ist, wer er nicht ist. Neben seiner anhänglichen Freundin und dem problematischen Familienleben hat Cale kaum Raum darüber nachzudenken, wer er sein will. Nimmt man noch den Leistungsdruck dazu, ist sein Dilemma perfekt. Erst Gideon Marchand - ein angesehener und verstörend attraktiver Kunstfotograf, dessen Angebot Cale beim besten Willen nicht ablehnen kann - bewegt ihn dazu, die Perspektive zu wechseln und diverse Schicksalsschläge zu verarbeiten, stürzt ihn aber ebenso in Verwirrung. Wird Cale sein Bild finden oder sich in dem Chaos verlieren?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum9. Sept. 2021
ISBN9783740778118
Dein Bild in Meinen Augen
Autor

Dina Metzmacher

D i n a M e t z m a c h e r, geboren 1996 in Bensberg, lernte das Verfassen von Geschichten in allen Farben und Formen schon in den Kinderschuhen lieben und schreibt seitdem wie sie lebt. Ehrlich - manchmal etwas zu unverblümt -, ein wenig chaotisch, gern außerhalb der Norm und mit einer ordentlichen Portion trockenen Humors. Cale und Gideon ermutigend an ihrer Seite, wagt sie mit "Dein Bild in Meinen Augen" erstmalig den Sprung auf den Buchmarkt.

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    Buchvorschau

    Dein Bild in Meinen Augen - Dina Metzmacher

    »Man tut dumme Dinge aus dummen Gründen, wenn man emotional

    involviert ist. Aus irgendeinem Grund setzt der gesunde Verstand aus.

    Du hast das Gefühl das einzig Richtige zu tun und verletzt am Ende

    die Person, die du eigentlich schützen wolltest.«

    Das Einzige, was der stille Design-Student Cale Baxter weiß, ist, wer er nicht ist. Neben seiner anhänglichen Freundin und dem problematischen Familienleben hat Cale kaum Raum darüber nachzudenken, wer er sein will. Nimmt man noch den Leistungsdruck dazu, ist sein Dilemma perfekt. Erst Gideon Marchand – ein angesehener und verstörend attraktiver Kunstfotograf, dessen Angebot Cale beim besten Willen nicht ablehnen kann – bewegt ihn dazu, die Perspektive zu wechseln und diverse Schicksalsschläge zu verarbeiten, stürzt ihn aber ebenso in Verwirrung. Wird Cale sein Bild finden oder sich in dem Chaos verlieren?

    Dina Metzmacher, geboren 1996 in Bensberg, lernte das Verfassen von Geschichten in allen Farben und Formen schon in den Kinderschuhen lieben und schreibt seitdem wie sie lebt. Ehrlich - manchmal etwas zu unverblümt -, ein wenig chaotisch, gern außerhalb der Norm und mit einer ordentlichen Portion trockenen Humors. Cale und Gideon ermutigend an ihrer Seite, wagt sie mit Dein Bild in Meinen Augen erstmalig den Sprung auf den Buchmarkt.

    »Ich weiß nicht, was ich tun soll,

    und ich weiß nicht, wohin.

    Ich hab vergessen, wer ich sein will,

    und vergessen, wer ich bin.«

    -

    Julia Engelmann

    Für alle Zweifler:

    Die Lösung liegt meistens, wo man sie am wenigsten vermutet.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Deal!

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    If we play

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kiss, marry, stay

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Prolog

    Gideon kam gerade von einem längeren Shooting nachhause. Es war ein Werbeshooting, bei dem er für einen Freund ausgeholfen hatte, weil der in einen Unfall geraten war und die Firma nicht genügend Zeit hatte, um Ersatz zu finden. Allerdings war Gideon mal wieder klar geworden, warum er die Kunstfotographie bevorzugte. Der kreative Spielraum war bei diesem Job genauso beschränkt, wie die Einzigartigkeit des Produktes. Bei Unterwäsche hat man schließlich nur eine begrenzte Auswahl, wie man sie auf Plakaten darstellen kann. Diese Art zu fotografieren empfand er als eher eintönig und er war froh, wieder zuhause zu sein. Gideon bog gerade um die Ecke, als er mehr oder weniger vor seiner Tür jemanden liegen sah. Einen jungen Mann, wahrscheinlich so alt wie er selbst, mit pechschwarzem Haar, scharfen Gesichtszügen und einem offensichtlich größeren medizinischen Problem. Gideon wusste nicht viel über Anfallsleiden, doch dass dieser Mann Hilfe brauchte, war offensichtlich. Genauso offensichtlich wie, dass er unerwartet in diesen krampfähnlichen Zustand gefallen war, besah man sich die Blöcke und Bücher, die um ihn verstreut lagen. Er war sicher einer der Studenten an der nahegelegenen Kunstakademie.

    Geistesgegenwärtig rief Gideon sich alles in den Kopf, was er über Erste Hilfe gelernt hatte und wählte gleichzeitig den Notruf. Der Körper des Mannes zuckte immer noch krampfhaft und er schien nicht bei Bewusstsein zu sein, obwohl seine Augen geöffnet waren. Ein ungewöhnlich sattes Blau machte seine Augen unter gesünderen Umständen zum Hingucker. Vorsichtig drehte Gideon ihn auf die Seite, damit er besser Luft bekam und hielt ihn fest, um zu verhindern, dass er sich zurückdrehte. Der arme Kerl musste doch bestimmt Angst haben. Gideon hätte die an seiner Stelle definitiv gehabt.

    »Hey Mann, ganz ruhig, Hilfe ist unterwegs«, versuchte Gideon den Mann zu beruhigen, allerdings hatte er keine Ahnung, ob er ihn überhaupt hörte. Trotzdem faselte er weiter beruhigend auf den Mann ein und stellte sicher, dass er sich nicht verschluckte und genügend Luft bekam. Gerade als der Notarzt eintraf, entspannt sich der Körper des Mannes und er blieb bewegungslos liegen. Gideon schilderte den Sanitätern, was geschehen war. Sie sagten irgendwas von tonisch-klonischen Anfällen, bevor sie den Mann ins Krankenhaus brachten. Gideon hatte keine Ahnung, was das hieß, doch er hatte weder Zeit nachzufragen noch die Sachen des Mannes einzusammeln und den Sanitätern mitzugeben, bevor sie fuhren. Also machte er sich später noch mal auf den Weg und gab die Habe des Mannes im Krankenhaus an der Rezeption ab. Was für ein verrückter Nachmittag. Der arme Kerl. Wie sich sowas wohl anfühlte ....

    Deal!

    Kapitel 1

    »Cale, da bist du ja endlich. Was hat dich aufgehalten?«, fragte Toni, die ungeduldig von dem einen Highheel versehenen Fuß auf den anderen trat.

    »Eine Hausarbeit, sorry«, antwortete ich ihr. Ich beeilte mich nicht gerne beim Malen und jetzt am Ende des Semesters warteten viele Abgaben auf mich.

    »Ich verstehe immer noch nicht, warum es ausgerechnet Design sein musste. Du hättest auch Journalist werden können«, meinte sie, während sie den Türsteher des Clubs bezirzte. Ich für meinen Teil war nicht so versessen in einen Club zu gehen, aber Toni liebte das Nachtleben und mich lenkte es von den hunderttausend Bildern und Ideen in meinem Kopf ab. Toni war meine Freundin. Wir kannten uns seit der Highschool und waren seitdem ein Paar. Doch während sie sich für ein Medizinstudium entschieden hatte, wählte ich ein künstlerisches Studium. Das war der Grund, warum ich doppelt so hart arbeitete, denn ich war abhängig von dem Stipendium, das ich bekommen hatte. Meine Familie sah ich seitdem nur noch an Weihnachten. Zumindest meine Eltern, meine Schwester hatte ich des Öfteren gesehen, bevor sie an Leukämie erkrankt war. Das war jetzt zwei Monate her. Besonders gut kam ich damit trotzdem nicht klar. Eigentlich nutzte ich lieber jede Gelegenheit diesen Umstand zu vergessen, weswegen ich Toni zu ihren nächtlichen Eskapaden begleitete.

    »Aus dem gleichen Grund, aus dem du nicht Biologin geworden bist, Toni.«

    »Das ist ein Argument. Aber wie gesagt, meine Eltern würden deine Studienkosten übernehmen, dann müsstest du dich nicht so stressen«, meinte sie und steuerte die Bar an. Zu dem Vorschlag mit ihren Eltern schwieg ich. Das war ein ewiges Streitthema und ich hatte keine Lust, da gerade jetzt drauf einzugehen.

    »Wusstest du, dass dieser Fotograf, dessen Bilder letztens für diese Parfümwerbung genommen wurden, ein neues Projekt startet und noch Models sucht?«, fragte sie, nachdem sie an ihrem Drink nippte und wechselte damit einfach das Thema. Ich war ihr dankbar dafür.

    »Welcher Fotograf?« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

    »Dieser Gideon, der dich damals gefunden hat.«

    »Das war ein Fotograf? Ich habe nicht wirklich viele Erinnerungen daran.«

    »Ja, er ist Fotograf und ich will unbedingt einen Platz in seiner neuen Reihe.« Toni war schon immer fasziniert von der Glamourwelt. Daher versuchte sie sich als Model, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatte. Das Einzige, was ich allerdings von diesem Nachmittag vor zwei Monaten noch in Erinnerung hatte, war jemand, der den Notarzt rief und bei mir blieb, bis dieser eintraf. Man sagte mir keinen Namen, deswegen hatte ich mich nicht bedanken können. Doch Toni hatte erfahren, wer er gewesen war, weil sie offensichtlich gemeinsame Freunde hatten und die Geschichte rum ging. Was mir aber im Kopf geblieben war, war die beruhigende Stimme, die Unverständliches sagte, was eher an meinem Delirium als an seiner Verfassung lag. Tag und Nacht huschte die Stimme durch meine Gedanken. Selbst jetzt, als ich wieder an den Tag dachte, hatte ich das dunkle Summen in den Ohren. Allerdings hatte ich mich nach so viel Zeit, nicht mehr getraut nach seiner Nummer zu fragen und mich zu bedanken.

    »Dann frag ihn doch«, riet ich meiner Freundin pragmatisch. Ich hatte mal gelesen, dass man sich bei solchen Anfällen die verschiedensten Sachen einprägte, manche davon mussten nicht einmal tatsächlich geschehen sein. Vielleicht war die Stimme ja darauf zurückzuführen.

    »Hab ich ja, aber er meinte, ich sei nichts für diese Reihe.«

    »Kann passieren, vielleicht nächstes Mal. Was ist denn das Thema?«, fragte ich sie nicht wirklich aus Interesse, sondern eher, um ihr das Gefühl zu geben, dass ich zuhörte und probierte an ihrem Drink. Purer Zucker. Eigentlich passte das ja nicht zu ihrer Diät, aber die war auch eher ein Vorwand, wie ich vermutete.

    »Künstler und ihre Werke oder so«, antwortete Toni und zog mich auf die Tanzfläche. Das war der einzig gute Teil am Clubbing. Toni, die sich an mich schmiegte, die bewundernden Blicke, die sie auf sich zog, ohne es zu merken… Sie war kleiner als ich, ging mir bis zum Hals, hatte aber lange schlanke Beine, eine schlanke Figur und ein schönes, feingeschnittenes Gesicht umrahmt von kastanienbraunen Wellen. Was ich den gaffenden Männern voraushatte, war, dass ich mit ihr nachhause ging. Sie gehörte zu mir. Dass sie angegafft wurde, bewies mir nur, wie viel Glück ich hatte.

    »Übrigens hat mein Bruder die Geschenkeliste für die Hochzeit geschickt, wir sollten morgen mal nach einem schauen«, rief sie mir über die Musik hin zu. Stimmt, Ben hatte ich fast vergessen.

    »Aber nicht vor zwölf Uhr Mittag. Ich habe Schlaf nachzuholen«, antwortete ich grinsend und zog sie an mich. Da ich sie in der Woche nicht besonders oft zu Gesicht bekam, waren diese Abende unserer Beziehung eigentlich zuträglich. Sie war die meiste Zeit im Krankenhaus und ich hing über meinen Arbeiten, da blieb nicht viel Zeit für Zweisamkeit.

    »Stimmt, du brauchst ja deinen Schönheitsschlaf, Dornröschen.«

    »Profitierst du doch von«, gab ich lachend zurück. Sie war so redselig, dass ich mich fragte, wie sie auf der Arbeit überhaupt die Belange der Patienten mitbekam. Doch meistens fand ich es eher süß als nervig.

    Am nächsten Morgen war es tatsächlich Toni, die verschlief. Belustigt beobachtete ich, wie sie erschrocken aus dem Bett sprang, ihre Kleidung zusammensuchte und im Bad verschwand, bevor sie mich hochscheuchte.

    »Es ist ja nicht so, als hätten wir da einen Termin«, meinte ich, während auch ich mich nach einer kurzen Katzenwäsche anzog und mir einen Kaffee machte.

    »Du willst jetzt nicht echt noch einen Kaffee trinken«, meinte sie anklagend.

    »Toni, entspann dich. Wir haben früh genug und außerdem ist Montag auch noch ein Tag.«

    »Montag kann ich nicht.«

    »Deswegen gehen wir ja heute.« Besänftigend machte ich ihr ihren Lieblingstee und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

    »Wenn du so weiter machst, hast du mit dreißig einen Herzinfarkt.«

    »Das ist medizinisch gesehen eher unwahrscheinlich.«

    »Du weißt, wie ich das meinte.«

    »Ja, ich weiß. Es ist nur, ich liebe Hochzeiten. Manchmal wünschte ich, es wäre unsere«, erklärte sie. Natürlich ganz ohne Hintergedanken. Belustigt musste ich grinsen.

    »Toni, bei allem, was im Moment los ist, sollten wir besser noch warten. Außerdem haben wir dafür kein Geld«, antwortete ich und lehnte mich gegen die Küchenplatte.

    Toni verdrehte ungeduldig die Augen.

    »Da du kein Journalist wirst, wird die nächsten zwei Jahre sicher nichts reinkommen. Aber meine Eltern würden uns das bezahlen. Das haben sie schon oft angeboten.« Ja, genauso wie mein Studium zu finanzieren, was bedeuten würde, dass ich an sie gebunden wäre, bis ich ihnen alles zurückgezahlt hätte. Etwas, das ich wirklich vermeiden wollte.

    »Toni, ich liebe dich und deine Familie ist super, aber wenn möchte ich selbst dafür aufkommen können. Was wäre denn der nächste Schritt? Wollen deine Eltern auch unsere Kinder finanzieren?«

    »Du willst ja nicht mal welche.«

    »Zumindest im Moment nicht.« Es tat mir leid, dass es Toni enttäuschte, aber andersrum würde sie über kurz oder lang nur unglücklich, würden wir unglücklich werden. Das Thema war kein Neues, aber immer, wenn es aufkam, stellte es uns vor größere Fragen. Und jedes Mal entschieden wir uns doch für uns. Irgendeinen Weg würde es schon geben und mit zweiundzwanzig hatten wir eindeutig auch noch genügend Zeit, uns über diese Dinge klar zu werden.

    »Cale, ich möchte auf jeden Fall irgendwann Kinder.«

    »Ich weiß und ich möchte, dass du glücklich bist. Aber jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt, um über Kinder zu sprechen, noch um über Hochzeit zu reden.«

    »Und was ist mit einer gemeinsamen Wohnung?«

    »Über die können wir uns unterhalten, wenn wir ein Geschenk für deinen Bruder haben. Ich muss später noch mal zur Uni, aber heute Abend können wir reden.«

    »Versprochen?«

    »Ja, Ehrenwort.« Ich stellte meine leere Tasse in die Spüle und gab ihr einen gedehnten Kuss.

    Nachdem wir ein Hochzeitsgeschenk für Ben gefunden hatten und anschließend Frühstücken waren, machte ich mich auf den Weg zur Uni, um meinen Block zu holen, den ich im Spint vergessen hatte. Für Ben musste es unbedingt der Flachbildfernseher sein, doch ich konnte verstehen, dass Toni als Schwester etwas Besonderes schenken wollte. Genau das Gleiche hätte ich für Luna auch getan.

    Es war verhältnismäßig leer auf dem Campus und das Wetter war so mild, dass ich mich entschied, mich mit meinen Blöcken auf der Wiese niederzulassen und dort zu arbeiten, statt nachhause zu fahren. Ich hatte noch eine Abgabe zum Thema Maltechniken, die bis Dienstag fertig sein musste, also würde ich mich über das Wochenende ranhalten und an der frischen Luft hatte ich die besten Ideen. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich erschrak, als sich plötzlich ein Schatten über mich legte. Als ich aufsah, nahm ich meine Kopfhörer aus dem Ohr. Vor mir stand ein junger, dunkelblonder Mann mit markanten Gesichtszügen, tiefgrünen Augen und einer Reihe Tattoos auf den Unterarmen. Oberflächlich betrachtet war er höchst attraktiv. In der rechten Hand hielt er eine Kamera. Er schien etwas gefragt zu haben, denn er sah mich mit einem freundlichen Lächeln abwartend an.

    »Entschuldige, ich hatte die Hörer drin. Hast du was gefragt?«, fragte ich ohne die übliche Höflichkeitsform, da ich davon ausging, dass er ebenfalls Student war.

    »Ich fragte, ob ich ein Foto von dir machen darf. Ich arbeite an einer Fotoreihe, und du bietest ein großartiges Motiv... Sag mal, kenne ich dich nicht?« Er wirkte etwas irritiert, als er mich genauer musterte. Irgendwas an seiner Stimme kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht was.

    »Nicht, dass ich wüsste. Bist du Fotograf oder so?«, fragte ich sicherheitshalber.

    »Du bist doch der Kerl, mit dem Anfall, oder?« Also hatte ich mir die Stimme nicht eingebildet.

    »Sehr schmeichelhafter Titel, aber ja, wahrscheinlich.«

    »Ich bin Gideon, sorry, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht. Ich habe damals den Notarzt gerufen.« Das erklärte die Sache natürlich.

    »Gideon, der Fotograf. Meine Freundin hat von dir erzählt. Danke für die Hilfe damals.« Der Mann winkte ab.

    »Das hätte doch jeder an meiner Stelle getan. Freut mich, dass es dir wieder gut geht ...«

    »Cale.«

    »Cale«, beendete er seinen Satz.

    »Was für eine Fotoreihe ist das denn?«, wechselte ich das Thema.

    »Es geht um Künstler und deren Werke. Wenn man so will um die Widersprüchlichkeit des Künstlers zu seinen Motiven. Ich muss mir noch einen eingängigen Titel einfallen lassen.«

    »Einer oder mehrere?«, fragte ich. Ich würde mich nicht direkt als Künstler bezeichnen, jedenfalls, wenn ich nach meiner Berufsausbildung ging, aber das lag wahrscheinlich ihm Auge des Betrachters.

    »So genau weiß ich das noch nicht. Erst dachte ich an mehrere, aber wahrscheinlich ist einer in verschiedenen Zuständen und mit unterschiedlichen Bildern besser.«

    »Und dieser eine jemand soll ich sein?«, fragte ich skeptisch.

    »Ich könnte mir vorstellen, dass es funktioniert.«

    »Da gibt es nur ein Problem. Ich bin Design-Student und kein Künstler«, meinte ich.

    »Das da sieht aber schwer danach aus.« Er deutete lächelnd auf mein Bild. Ich war wohl etwas von dem Thema abgekommen, stellte ich fest, als ich das karikative Selbstporträt betrachtete. Ich war in Gedanken, bei Toni und ihren Ansprüchen an die Beziehung gewesen. Anscheinend war dieses Bild das Produkt, das dabei herauskam.

    »Also gut, wie muss ich mir denn die Arbeit an einem solchen Projekt vorstellen?«, fragte ich, als meine Neugierde siegte.

    »Ein bisschen wie eine Dokumentation.«

    »Heißt du begleitest mich zu Kursen und siehst mir beim Malen zu?« Meine Skepsis wuchs, auch wenn ich fand, dass sein Ansatz interessant klang.

    »So in etwa. Ich brauche echte Motive, nicht gestellt meine ich. Natürlich mit Gewinnbeteiligung. Du kannst auch nächsten Sonntag zur Ausstellung kommen und dir ansehen, womit ich arbeite, wenn du dich nicht sofort entscheiden möchtest.«

    »Darf ich das Bild sehen, das du gemacht hast?«, fragte ich ihn und deutete auf seine Kamera, ohne auf den Vorschlag einzugehen. Überrascht sah er mich an.

    »Woher weißt du ...?«

    »War nur eine Vermutung, da du wahrscheinlich nicht über den Campus rennst und jeden fragst. Also musst du ja irgendwas gesehen haben.«

    »Gut geschlussfolgert. Ich sehe schon, du weißt, wie es funktioniert.« Gideon hielt mir seine Kamera hin.

    »Ich bin nur davon ausgegangen, wie ich es machen würde. Fotografieren ist schließlich auch eine Kunstform, würde ich mal behaupten.«

    »Wahrscheinlich hast du recht.« Das Bild war gar nicht schlecht getroffen. Aus der Perspektive war sowohl das Bild als auch ich gut zu sehen. Es wirkte trotz der äußeren Ruhe aufgewühlt und etwas nerdy, dank meiner Brille. Und aufgewühlt war ich tatsächlich gewesen.

    »Das ist echt gut«, bemerkte ich verwundert und gab ihm die Kamera wieder.

    »Danke. Für die richtigen Arbeiten fotografiere ich allerdings analog.«

    »Und du meinst, ich bin der Richtige für den Job?«

    »Ich bin zu achtundneunzig Prozent sicher.«

    »Okay, unter einer Bedingung«, stimmte ich lachend zu.

    »Und die wäre?«

    »Ich brauche für meine Mappe eine Studie zu Lebendmodellen.«

    »Also du für meine Fotos, ich für deine Bilder?«

    »Genau.«

    »Klingt fair. Deal!« Er gab mir die Hand.

    »Darf ich seine Nummer haben?«, fragte Toni mich am Abend begeistert, als ich ihr von der Begegnung mit ihrem Lieblingsfotografen erzählte. Ich lachte angesichts der großen Augen, die sie machte.

    »Die kann er dir nächsten Sonntag selbst geben, sollte er das wollen. Wir sind zu seiner Ausstellung eingeladen. Aber ich dachte, die hättest du bereits«, antwortete ich ihr und wickelte mir ihre Haare um den Finger.

    »Was im Ernst? Der Eintritt ist sündhaft teuer«, antwortete sie und vergaß meinen Einwand dabei völlig.

    »Wir stehen auf der Gästeliste.«

    »Ich glaub’s ja nicht. Wieso machst du keine Luftsprünge? Das ist unglaublich cool und außerdem ein Karrierepusher für dich.« Toni konnte gar nicht richtig stillsitzen.

    »Ich finde es eher interessant, aber ein Karrierepusher ist das sicher nicht«, meinte ich nachdenklich.

    »Für dich als Künstler wahrscheinlich schon.«

    »Auf einmal bin ich ein Künstler? Ich dachte, ich sei einfach der Typ, der verpennt hat, Journalist zu werden.« Ich konnte mir ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. Toni war ähnlich praktisch oder besser einfach veranlagt wie meine Eltern, daher war für sie eigentlich der Titel Design-Student das höchste der Gefühle. Journalist war ihrer Meinung nach ebenfalls kreativ, aber mit etwas mehr Ansehen und geregeltem Einkommen verbunden.

    »Natürlich bist du einer. Ich finde nur nicht, dass man das beruflich ausleben sollte. Das bringt nichts ein. Zumindest nicht, wenn du nicht schon mehr als hundert Jahre tot bist.«

    »Aber ich laufe wenigstens nicht wie diese Schreibtischzombies herum«, war meine einzige Antwort darauf. Über dieses Thema waren wir schon so oft in Streit geraten, dass ich einfach auf Durchzug schaltete. Dieser Streit führte zu nichts und machte keinen von uns glücklicher. Also, warum drauf eingehen? Im Endeffekt musste jeder mit dem eigenen Weg zufrieden sein und dieser war eben meiner. Ich machte Toni schließlich auch keine Vorhaltungen, dass sie nach ihrem Studium wahrscheinlich so gut wie immer im Krankenhaus und nicht etwa zuhause zu finden war. Das war ja jetzt schon oft genug der Fall.

    »Schon gut, ich verstehe dich ja. Irgendwie. Was ist jetzt mit der Wohnung?«, wechselte sie das Thema.

    »Was ist, wenn wir uns in den Semesterferien darum kümmern? Bis dahin können wir ja ein paar Anzeigen durchsehen.«

    »Willst du das wirklich?«

    »Natürlich. Ein großer Unterschied zu jetzt ist es ja nicht. Ich bin nur so zögerlich, weil ich so viel anderes im Kopf habe im Moment.«

    »Luna?«, fragte sie und zwirbelte sich unbewusst eine Strähne um den Finger.

    »Vor allem.«

    »Wie geht’s ihr denn? Ich habe sie diese Woche nicht gesehen«, fragte Toni und knetete mein Knie. Sie saß nie still, nie. Wenn sie nicht in Bewegung war, machte sie eben sowas, wie Knie kneten. Hauptsache, sie hatte irgendwas zu tun.

    »Sie hat wohl eine Chance, aber die Ärzte garantieren nichts.«

    »Das tut mir so leid, Cale. Wenn ich wüsste, wie ich euch helfen könnte.«

    »Du kannst nicht helfen, das kann keiner von uns.«

    »Und du? Bist du stabil?«, fragte sie vorsichtig und berührte meine Lippen. Sie meinte meine Anfälle, die dank des Stresses wieder vermehrt aufgetreten waren. Wie der, als dieser Gideon mich gefunden hatte. Am Abend vorher hatte ich von Lunas Zustand erfahren.

    »Ich bin wieder gut eingestellt. Glaub ich jedenfalls.«

    »Es tut mir leid, dass du die Dosis erhöhen musstest«, meinte sie und küsste meinen Hals. Sie war wie eine Katze unglaublich verschmust, wenn ihr danach war.

    »Da kannst du doch nichts für«, meinte ich und strich ihr ihre Wellen über die Schulter.

    »Ich weiß, aber ich weiß auch, wie sehr du das hasst.« Ihre braunen Augen beobachteten mich mitfühlend, ihre Hände schon wieder auf der Suche nach Beschäftigung. Manchmal war sie mir echt zu viel. Wenn man eigentlich nur abschalten wollte, war das etwas hinderlich, auch wenn sie es nur gut meinte.

    »Noch mehr hasse ich die Anfälle. Wenn sich alles beruhigt hat, kann ich ja wieder reduzieren. Mach dir keinen Kopf.« Sie hatte recht, ich hasste die Medikamente, die ich nehmen musste. Sie beeinträchtigten meine Stimmung und mein Denken. Doch ohne sie, hatte ich diese Anfälle, also gab es für mich keinen anderen Weg.

    »Trotzdem, das ist doch echt mies.«

    »Gegen keine dieser Dinge kann ich etwas tun, Toni, und du auch nicht. Drüber zu reden macht es nur noch schlimmer«, meinte ich, um das Thema zu wechseln. Es reichte schon, dass ich mich beschissen fühlte, das musste nicht auch noch rund um die Uhr in meinem Gedächtnis bleiben.

    »Also gut, aber wenn du reden willst, bin ich da. Und jetzt zeig mir mal das Kunstwerk, das einen bekannten Fotografen überzeugt hat.«

    Kapitel 2

    »Mom, du tust gerade so, als gäbe es für Luna keine Hoffnung mehr.« Meine Mom hatte gerade angerufen, als ich mich für diese Ausstellungsgeschichte umziehen wollte. Natürlich gab es kein anderes Thema als Luna – was ja auch verständlich war – und nach meinem Studium erkundigten sich meine Eltern ohnehin aus Prinzip nicht, doch ich fand es relativ unbegreiflich, sich in einem solch frühen Stadium von der eigenen Tochter zu verabschieden und alles in Gottes Hand zu legen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Diese religiöse Fixierung hatte ich noch nie verstanden. Obwohl ich katholisch erzogen wurde, war ich der Meinung, dass Wissenschaft – wozu meines Erachtens auch Medizin gehörte – recht wenig mit Gott zu tun hatte. Und sie war es, der ich hinsichtlich Luna vertraute. Meine Familie war da anscheinend etwas anders.

    »Na ja, die Statistiken sind jetzt nicht so rosig und Glück kann ihr nur Gott geben. Ich finde sowieso, wir sollten sie nicht unnötig mit erfolglosen Behandlungen quälen«, faselte meine Mutter weiter in den Hörer.

    »Mom! Weißt du eigentlich, was du da redest? Noch hat Luna eine echte Chance und du redest davon, sie ihr zu nehmen und ihr Schicksal in die Hand eines mehr oder weniger realen Gottes zu legen? Sorry, aber haben sie zu den Hostien zu viel Wein geboten?«, fragte ich entgeistert. Gut der letzte Satz war vielleicht weniger angebracht, aber angesichts der Tatsache, dass Luna sechzehn und damit von unseren Eltern abhängig war, rutschte es mir einfach raus. Zudem war ich mir ziemlich sicher, dass Luna tatsächlich kämpfen wollte und nicht den Rest ihres – im gewünschten Falle unserer Eltern – sehr kurzen Lebens mit Beten verbringen wollte.

    »Cale! Ich finde nur, sie leidet unter der Behandlung zusätzlich, vielleicht sollten wir ihr das ersparen.«

    »Wenn ihr ihr das erspart, dann wird sie auf jeden Fall sterben und zufällig weiß ich, dass sie das auf gar keinen Fall will.«

    »Wahrscheinlich stirbt sie sowieso«, die Stimme meiner Mutter klang brüchig, »Ich will auf keinen Fall, dass sie leidet. Und in Anbetracht ihrer Überlebenschancen ist ihre Behandlung auch recht teuer. Das muss dir bewusst sein.« Ich verdrehte genervt die Augen. Ich konnte diesen Stumpfsinn einfach nicht mehr hören.

    »Wofür habt ihr das Geld, wenn ihr nur sammelt? Sie ist euer eigen Fleisch und Blut und ich werde jetzt auflegen, du kannst dich ja melden, wenn ihr beiden wieder klar denkt.« Es war ein Leben, zudem ein Menschenleben, über das sie hier redete. Wie konnte man nur so verbohrt und von sich überzeugt sein wie die beiden? Mich wunderte mittlerweile ungemein, dass wir derselben Familie angehörten.

    »Cale...«

    »Nein, Mom, ich möchte sowas nicht hören. Das ist unglaublich naiv und unvernünftig. Und anzunehmen, dass Luna euch zustimmt oder dass ich dem irgendwie recht gebe, macht mich sauer. So einen Mist kannst du Dad erzählen, mir nicht.«

    »Cale, wir sind eure Eltern und haben eine Verantwortung.«

    »Ja, aber ich bin erwachsen und habe einen eigenen Kopf und Luna ist alt genug, um zu entscheiden, ob sie die Behandlung will oder nicht.«

    »Sie ist sechzehn und ein Kind. Es ist unsere Aufgabe, sie zu schützen. Und du hast nicht die Lebenserfahrung, um bei sowas mitreden zu können«, maßregelte sie mich.

    »Ihr schützt sie mit einem Behandlungsabbruch nicht, ihr bringt sie um. Und sie ist alt genug, um ihre Lage einschätzen zu können und um zu entscheiden, ob sie leben will. Und ich spiele beim Kaffee vielleicht noch nicht Bingo, aber ich weiß genug, um zu sagen, dass es Lunas Entscheidung ist und dass sie in einem Alter ist, wo es Sinn macht zu kämpfen. Sie hat alles noch vor sich. Und bevor du jetzt weitere komische Argumente findest, lege ich auf. Und wenn ihr anfangt, gegen Lunas ausdrücklichen Willen zu handeln beantrage ich die Vormundschaft für sie. Immerhin ist sie meine Schwester.«

    »Das kannst du nicht.«

    »Und wie ich das kann. Ich habe euch lieb, aber ich werde nicht zusehen wie ihr Lu‘ sterben lasst. Und ganz sicher werde ich nicht über ihren Tod sinnieren, solange sie noch halbwegs lebendig, wach und stark ist. Gute Nacht, Mom, grüß Dad.« Damit legte ich auf. Als ich mich umdrehte, stand Toni im Türrahmen.

    »Ich verstehe ja, was dich so stört, aber findest du nicht, du solltest ihre Meinung achten?«

    »So, wie sie meine achten, oder Lunas? Sie hat mir vorgestern noch gesagt, dass sie die Behandlung weiter machen will. Sie will sich von Daniel noch ihren Anhänger zurückholen, bevor sie den Löffel abgibt. Das waren ihre Worte.«

    »Aber deine Eltern müssen auch ihren Weg damit finden.«

    »Die müssen immer irgendwas und wir müssen das immer verstehen. Echt, Toni, erspare mir deine Ratschläge, davon hatte Mom heute schon genug.« Bevor ich ganz ausgesprochen hatte, war mir schon bewusst, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Toni klappte den Mund zu und funkelte mich an.

    »Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du dich beruhigt hast.« Damit drehte sie sich um und ging.

    »Was ist mit der-«

    »Fick dich, Cale.« Ups, sie war richtig sauer. Normalerweise redete sie nicht obszön. Mir tat es leid, sie gekränkt zu haben, aber darum würde ich mich wohl später kümmern müssen. Aber es regte mich immer auf, wenn sie für meine Eltern Partei ergriff. Nach außen wirkte unsere Familie immer friedlich und bodenständig, doch hinter verschlossenen Türen war sie geschwängert von Kontrollsucht, Verständnislosigkeit und den eigenartigsten Formen von Egoismus. Bevor ich ausgezogen war, hatte ich jedes Mal Bauchschmerzen, wenn ich von Freunden nachhause kam, weil ich genau wusste, dass die nächste haltlose Diskussion hinter der Haustüre wartete. Wenn es nicht um meine Berufswahl ging, die ihnen nicht behagte, dann ging es um die Katze oder Lunas sozialen Umgang und immer wussten es Mom und Dad besser. Luna und ich zählten dabei herzlich wenig, ebenso wie unsere Gefühle oder Meinungen. Toni kam dagegen aus einem Haushalt, in dem sie sich wohl gefühlt hatte. Das war der Unterschied zwischen uns. Es war für sie einfach unverständlich, dass man sich zuhause nicht wohl fühlte und wenn, war es der eigene Fehler. Aus ihrer Sicht gab es für mich keinen Grund, mich zu beschweren. Aber erstens kannte sie auch nur die familiäre Fassade und zweitens kannte sie das Gefühl kontrolliert und fremdbestimmt zu werden überhaupt nicht. Sie teilte die Ansichten ihrer Eltern, was die grundlegenden Dinge betraf, ich hatte das noch nie getan.

    Seit ich ausgezogen war, hatte sich die Situation zwar etwas beruhigt, aber der Grundtonus war geblieben. Es war nicht so, dass ich meine Familie nicht liebte, aber irgendwann war ich so frustriert gewesen, dass ich öfter mit negativen, als mit positiven Gefühlen diesbezüglich eingeschlafen bin. Durch Lunas Erkrankung kam das alles jetzt wieder hoch.

    Gideons Ausstellung war eindrucksvoll. Die Ausstellungsstücke selbst wirkten mit Bedacht gewählt und jedes für sich war schon ein Kunstwerk. Anscheinend hatte der Mann ein Händchen dafür, bestimmte Stimmungen einzufangen und sichtbar zu machen. Darüber hinaus war die Galerie ein Hingucker und die Klientel geschmackvoll – lag vielleicht auch an dem Thema der Ausstellung. Es lautete High Society der 2010er. Ich fühlte mich unter diesen Leuten etwas fehl am Platz, doch es war nicht zu leugnen, dass Gideon wusste, was er tat. Ich verstand, weshalb er mich eingeladen hatte. Hiermit war Überzeugungsarbeit überflüssig. Seine Bilder waren großartig!

    »Cale, ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt«, begrüßte mich Gideon breit grinsend eine dreiviertel Stunde später. Neben ihm stand eine hübsche, blonde Frau, deren Lächeln wohl auch gut auf eines seiner Fotos gepasste hätte.

    »Das ist Amanda, meine Freundin. Amanda, das ist Cale, mein neuestes Motiv.« Das war ein Titel, mit dem man gerne vorgestellt wurde ... Ich grüßte sie freundlich.

    »Ich verstehe, was Gideon sich dachte. So ein Gesicht sieht man sich gerne an«, begrüßte Amanda mich und musterte mich von Kopf bis Fuß.

    »Das liegt wohl im Auge des Betrachters«, antwortete ich und drückte ihre Hand.

    »Und wie gefällt es dir?«, fragte Gideon und machte eine ausholende Handbewegung.

    »Ich find‘ s gut, obwohl ich überrascht war, dass alles so edel anmutet.«

    »Liegt wahrscheinlich an den Gästen. Komm, ich führe dich rum.« Während Amanda zwischen Gideons restlichen Gästen herum tänzelte, zeigte Gideon mir die Highlights.

    »Es wirkt nicht so, als seien die Leute, die du ablichtest, dir unbekannt«, stellte ich fest, während ich die Bilder betrachtete. Wie das Bild, das er auf dem Campus von mir geschossen hatte, wirkten auch die Ausstellungsstücke authentisch. Das eine mutete kalt an, das andere warm, ein wieder anderes anziehend, das daneben abweisend – genau wie die Personen, die darauf zu sehen waren.

    »Ein bisschen lernt man sie schon kennen.«

    »Hast du diese Leute auch spontan begleitet?«, fragte ich interessiert.

    »Nein, es gab feste Termine. Was ich gemacht habe, war, die Leute über den Tag zu begleiten. So war die Auswahl vielfältiger und die Bilder echter«, antwortete Gideon.

    Obwohl er anscheinend eine bekannte Persönlichkeit war, schien er sich nichts drauf einzubilden.

    »So Ideen müssen einem erst mal einfallen.«

    »Weshalb bist du eigentlich allein?«, fragte Gideon mich und wandte den Blick von einem der Bilder.

    »Toni und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit, bei der sie sich entschieden hat, lieber zuhause zu bleiben«, antwortete ich, »Ich werde mich wohl bei ihr entschuldigen müssen.« Gideon lachte herzlich.

    »Das ist so eine Männerkrankheit, schätze ich.«

    »Das Entschuldigen oder hinterherrennen?«, fragte ich grinsend.

    »Beides.«

    »Na ja, ich schätze, ich hab ihre Zurechtweisung verdient.«

    »Was hast du denn verbrochen, wenn ich fragen darf?«

    »Ich hab ihr gesagt, sie solle mir ihre Ratschläge ersparen«, antwortete ich ehrlich.

    »Autsch. Uh, ich kenne den Zusammenhang nicht, aber es gibt Situationen, in denen helfen gut gemeinte Ratschläge einfach nicht.«

    »Eben, aber fair war es trotzdem nicht, sie meinte es ja nur gut.«

    »Der Wille ist nicht immer das, was zählt«, meinte Gideon achselzuckend.

    »Klingt, als hättest du damit Erfahrung«, stellte ich fest. Ich hatte das Gefühl, das sich hinter Gideon mehr verbarg, als er die Leute sehen ließ.

    »Es gab Zeiten, da wäre es mir besser gegangen, wenn sich ein paar Leute ihre gutgemeinten Aktionen gespart hätten. Manchmal braucht man eben keine Aktion, um klarzukommen, sondern nur ein Ohr oder nicht mal das.« Offensichtlich kannte Gideon solche Situationen. Bei manchen Sachen konnte einfach keiner helfen, mit denen musste man selbst zurechtkommen und einen Weg finden, aber das ging nicht schneller, wenn man von beiden Seiten mit Weisheiten bombardiert wurde. Mich beschlich das Gefühl, dass Gideon und ich vielleicht gar nicht so verschieden waren, wie ich anfänglich dachte.

    ~

    Als Gideon bei der Adresse angelangte, die Cale ihm gegeben hatte, musste er grinsen. Dieses umgebaute Industriegebäude passte zu dem Bild, das er von dem Künstler hatte. Edgy, sparsam, kreativ, echt. Er mochte Cale. Es war angenehm, mit ihm zu reden, und er wirkte inspirierend. Gideon war sich nicht sicher, ob Cale sich als Künstler bezeichnen würde, doch dass in ihm ein solches Herz schlug, sah man ihm an. Objektiv betrachtet, war er einfach heiß, irgendwie stylisch mit den Lederjacken und Hosen, den grauen Shirts und den beringten Händen, die Gideon bisher an ihm gesehen hatte. Würde er keinen zweiten Blick verschwenden, könnte man Cale vielleicht als Badboy oder Frauenheld sehen, oder Lifestylemodel. Allerdings bezweifelte Gideon, dass Cale Ersteres oder Drittes war, bei Nummer zwei enthielt er sich lieber. Als Cale an die Tür kam, überraschte er Gideon damit, dass er zu ihm hinaustrat und die Tür hinter sich schloss.

    »Ich dachte, arbeiten tust du zuhause«, bemerkte Gideon, nachdem sie sich begrüßt hatten.

    »Gemalt wird erst später, wir fahren ins Krankenhaus«, antwortete Cale und steuerte einen älteren silbernen Fiesta an.

    »Wieso, geht’s dir nicht gut?«, fragte Gideon alarmiert, »Wir können das auch verschieben.«

    »Mit mir ist alles in Ordnung, ich arbeite nur ehrenamtlich im Krankenhaus auf der Kinderstation. Das wolltest du doch, oder nicht? Tiefgründige Einblicke in das Leben deines Motivs, für authentische Bilder.« Überrascht musterte Gideon Cale. Er war definitiv nicht auf den Kopf gefallen.

    »Wie kommst du darauf?«, fragte er neugierig.

    »Weil ich es genauso machen würde«, antwortete Cale grinsend. Gideon fiel darauf nichts ein. Ihm gefiel, wie der junge Mann dachte. Seine Offenheit und Ehrlichkeit war eine erfrischende Abwechslung.

    Wie sich herausstellte, war Cale auf der Kinderstation festes Inventar. Die Schwestern grüßten ihn auf dem Gang, die Ärzte nickten ihm lächelnd zu und die Kinder sammelten sich um ihn. Der sonst so ernste Mann, wirkte unter den Kindern gelöst und fröhlich. Scheinbar hatte er einen guten Draht zu ihnen. Sie schienen ihm zu vertrauen, in ihm eine Art Ansprechperson zu sehen. Außerdem half er den Schwestern, die Fälle zu betreuen, die aus psychologischer Sicht mehr Zuwendung brauchten. Er redete gut zu, tröstete, lenkte ab und brachte sie zum Lachen. Er erfand Geschichten, baute Luftschlösser und weckte ihre Fantasie. Mit manchen malte er, während er sich ihre Sorgen anhörte. Gideon hätte gerne ein paar Fotos gemacht während er ihm bei der Arbeit zusah, doch aus Respekt vor den Kindern und rechtlichen Gründen tat er das nicht. Außerdem wollte er nicht stören. Das hier war besonders und, wie er fand, völlig unterbewertet, also verbrachte er die Zeit als stiller Beobachter. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit, Cale auch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, was ihm wichtig war, um sich ein passendes Bild von ihm zu machen und in Bezug auf seine Arbeit die richtigen Momente aufzunehmen.

    Zumindest tat er das, bis ein kleines Mädchen ihn am Shirt zupfte. Überrascht schaute er hinab. Die Kleine war sehr zierlich und hatte einen dieser Sauerstoffschläuche an der winzigen Nase. Ihr Gesichtchen bestand nur aus Augen. Braune, neugierige Augen.

    »Was hast du da?«, fragte sie und deutete auf seine Kameratasche.

    »Das ist eine Kamera.«

    »Für Fotos?«

    »Genau, hier schau.« Er hockte sich zu ihr und gab ihr seine Kamera, dann zeigte er ihr, wie sie Fotos schießen konnte. Als er aufsah, bemerkte er, dass Cale ihn beobachtete. Als sich ihre Blicke begegneten, grinste Cale und wandte sich dann wieder dem Grüppchen Kinder zu.

    Auf einmal entstand auf dem Gang ein kleiner

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