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Wer ist dein Richter?
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eBook193 Seiten2 Stunden

Wer ist dein Richter?

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Über dieses E-Book

Nachdem der erste Schnee fiel, erprobte ein kleiner Junge mit seinem Vater, dem Landpolizisten, seinen neuen Schlitten. Unterdessen ist der Junge ein erwachsener Mann, doch an jenen kalten Novembertag der 1930er Jahre erinnert er sich haargenau. Es ist der Tag, an dem er seinen Vater zum letzten Mal lebendig sah. Auch wenn die Ermordung seines Vater zum Tabu-Thema geworden ist, entschliesst sich der erwachsene Junge dennoch den Mord aufzudecken. Seine Ermittlungen führen ihn nicht nur in den Kreis einer mächtigen Familie, sondern auch in ein Netz aus Lügen und Intrigen. – Ein literarisch gelungener Kriminalroman. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Jan. 2016
ISBN9788711444290
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    Buchvorschau

    Wer ist dein Richter? - Jean Bolinder

    I

    Erster Teil

    Erstes Kapitel

    Das Bild starrte mich von der Staffelei an. Ein mageres Gesicht mit tiefliegenden Augen. Das Hemd am Hals offen.

    Das Gesicht hatte sein eigenes Leben. Es grinste mich höhnisch an und veränderte sich fortwährend wie ein Spiegelbild in windbewegtem Wasser. Das Gesicht verbeulte und verzerrte sich, bis mir der Anblick Verwirrung und Unbehagen bereitete. Die Proportionen stimmten nicht. Kinn und Hals wurden plötzlich katzenhaft. Ein Bild im Bild, und das Ganze verwandelte sich noch mehr. Eine bösartige Katze starrte mich aus neapelgelben Augen an, und ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.

    Vorsichtig führte ich den Pinsel über die Leinwand, um die Katze verschwinden zu lassen. Ich führte den Pinsel gegen den Strich, worauf die Katze fauchte und einen Buckel machte. Sie schlug mit der Pfote nach meiner Hand und kratzte mich in Sekundenschnelle. Ein kadmiumroter Striemen zeichnete sich auf der hellen Haut ab.

    Ich schloß die Augen, um dem lähmenden Gedankenkreis zu entrinnen. Als ich wieder hinschaute, blickte mir mein Vater von der Leinwand entgegen. Er sah vorwurfsvoll aus, und ich hörte meine Schuld durch die Dunkelheit ihm zurufen.

    „Wenn er nur nicht die Katze sieht! dachte ich. „Wenn er nur nicht merkt, daß ich die Katze mit dem Pinsel gegen den Strich gestreichelt habe.

    Durch die Farbe traten titanweiße Flecken hervor. Zuerst war es wie ein Ausschlag, dann aber verbreiteten und vergrößerten sich die Flecken, bis sie ineinander flossen und ein schimmerndes weißes Rechteck entstand.

    In dem Weiß ahnte ich die Katze. Sie schlich durch den Schneefall und lauerte mir auf. Mein Vater war längst in das Weiß fortgeradelt und war weder mit Rufen noch mit Wünschen mehr zu erreichen.

    Ich gab es auf. Ich konnte an diesem Tage keine Ordnung in mein Selbstporträt bringen. Es blieb unvollendet und unsinnig.

    Draußen blies ein frischer Wind von der Laholmsbucht her. Es roch nach Salz und Grün, und die Sonne stach in die Augen.

    Zweites Kapitel

    Ich haßte sie.

    Ich mußte sie hassen. Sie war eine Noijbe, und ich haßte alle Noijbes.

    „Guten Tag, sagte sie und lachte. „Ich heiße Beatrice. Gestehen Sie ruhig, daß Sie mir gefolgt sind.

    Ich haßte sie, und doch liebte ich sie. Als sie mich anlachte, liebte ich sie. Es war, als hätte ich sie schon immer geliebt, obwohl ich sie zum erstenmal sah. Als ob wir in einem früheren Leben vereinigt gewesen und bis jetzt getrennt worden wären. Jeder war allein umhergeirrt. Wir hatten einander entbehrt, ohne zu wissen, was uns fehlte. Bis wir wieder vereinigt wurden.

    „Dan Johansson, stellte ich mich vor und reichte ihr meine farbenbekleckste Hand. „Ich hörte, daß Sie heute Geburtstag haben, und habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht.

    Es war nur eine Skizze, die ich für meinen Blitzbesuch in Nybo hervorgeholt hatte.

    „Dan Johansson ist Maler, mußt du wissen", sagte Marianne Bundin, als ob mein Geschenk irgendwie erklärt werden müßte.

    „Das brauchst du nicht zu betonen, erwiderte Beatrice. „Das sehe ich an dem Bild! Es ist richtig spannend. Ein Anschlag oder eine Andeutung von etwas Bestimmtem. Es kommt mir vor wie eine Mitteilung für mich persönlich ... ein ganz verwirrendes Geschenk, das Sie mir gemacht haben, Dan.

    Sie ließ es nicht zu, daß ich sie haßte. Als sie sprach, hätte sie mir zuwider sein müssen; statt dessen bewirkte sie, daß ich sie liebte. Trotz allem, was sie vertrat.

    Das war Anfang Juni 1973. Vor dem Hause der Familie Noijbe blühte der Flieder, und der Goldregen hatte einen besonders hellen Kadmiumton. Der Hallandsche Landrücken glitt in weichen Linien zu den kecken Strandumrissen der Laholmsbucht hinab. Das Wasser war so grün, wie August Becker es zu malen pflegte, und der Horizont verschwamm indigoblau.

    Absurd, an einem solchen Tag Haß zu fühlen!

    Aber ich dachte die ganze Zeit an die Worte meiner Mutter: Daß die Noijbes meinen Vater umgebracht hatten. Sie waren schuld, nicht ich. Der kindliche Schrecken, den ich durchs Leben mit mir herumtrug, war unbegründet. Die Noijbes waren schuld, und ich mußte es beweisen. Ich hatte mich bei ihnen eingenistet wie ein Soldat in einem Trojanischen Pferd, und ich war mit meinem Haß bewaffnet.

    Beatrice fegte mit Kaffeekanne und Kuchenschüssel herein. Sie war wie ein Frühlingshauch in einem muffigen Krankenzimmer, kühl, frisch und unehrerbietig. Ihr Körper war schmal und sehnig, das kurzgeschnittene Haar dunkel und ungebändigt. Sie konnte ein wenig ungeduldig wirken, aber hinter der Maske fand man mehr Wärme, als ihr Verhalten ahnen ließ. Die Brüste waren klein, die Schultern ausdrucksvoll. Das Gesicht enthüllte nichts von dem, was die Schultern verrieten. Mir fiel ihr feiner und doch kräftiger Nacken auf.

    Sie war funktionell wie die Ausstellung in Stockholm, in deren Zeichen sie das Licht der Welt erblickt hatte.

    Aber ich greife den Tatsachen voraus. Als sie den Kaffee hereinbrachte, wußte ich noch nichts von der Ausstellung. Da haßte und liebte ich sie nur.

    Ihr Bruder, Erland Noijbe, betrachtete mit Abscheu die Mahlzeit. Seine Frau machte sich daran, den Kaffee einzuschenken. Sie war blond und blauäugig und hochschwanger. Sie trug ein blödsinniges Umstandskleid, das geziert kleinmädchenhaft aussah, denn es hatte Rüschen und Puffärmel.

    „Soll das heißen, meckerte Erland zu Beatrice hinüber, „daß wir dieses Rattengift ohne einen kleinen Schuß Kognak trinken sollen?

    „Du weißt, Papa kommt heute abend", antwortete Beatrice und kramte aus einer Kommode einen X-Haken hervor.

    „Na, und?" knurrte Erland, erhielt aber keine Antwort. Bald hing meine Skizze an dem X-Haken. Darauf waren ein Stückchen Strand mit zottigen Grasbüscheln, die Silhouette einer Brücke mit blasigem Gegenlichtwasser und ein kleiner Junge, der mit einer Plastikschaufel grub. Ich hatte sie vor einer halben Stunde unter meinen Bildern in Nybo ausgesucht, und zwar mit voller Absicht, um etwas zu übergeben, das mir gleichgültig war. Jetzt merkte ich, daß ich das richtige Bild für Beatrice gewählt hatte. Sie hatte die Skizze als persönliche Mitteilung bezeichnet, und das war sie auch.

    „Mir gefällt das Bild, sagte sie. „Es ist in gewisser Weise idyllisch, hat aber einen interessanten, beunruhigenden Unterton. Als ob der kleine Junge im nächsten Augenblick sterben würde. Oder als ob die ganze Landschaft zum Untergang verurteilt wäre.

    Sie wußte es genau. Unsere Kommunikation war hundertprozentig.

    „Malen Sie nur Landschaften?" erkundigte sich Eva Noijbe.

    „Nein. Gerade jetzt bin ich an einem Selbstporträt. Aber ... es will nicht fertig werden. Ich ändere es immer wieder um, und nie bin ich damit zufrieden."

    „Künstler sind Egoisten, äußerte sich Erland Noijbe. „Sie lassen sich von der unerhörten Aufgabe lähmen, ihre eigene Seele einzufangen. Wahrscheinlich finden sie nichts so sublim wie die eigene Seele.

    Erland war zu dick für den Stuhl, auf dem er saß. Anscheinend hatte er in letzter Zeit stark zugenommen, denn er platzte auch aus den Kleidern. Ein paar Hemdenknöpfe waren aufgegangen, und die Hosen spannten sich eng um die fetten Schenkel. Er hatte die bleichsüchtige Korpulenz, die manche Alkoholiker bekommen.

    Der gewichste Schnurrbart schien ein verzweifelter Versuch zu sein, sich das fehlende Ansehen einer Persönlichkeit zu verleihen. Die Mundwinkel hingen nach unten, und die scharfen Falten zum Kinn verstärkten den mißmutigen Ausdruck. Die himmelblauen Augen unter den geschwollenen Lidern hatten einen furchtsamen und selbstbedauernden Blick.

    Ihn haßte ich. Haßte seinen überheblichen Ton und sein unverschämtes Auftreten. Er war ein echter Noijbe. Ein echter Mörder.

    Ich dachte an einen Frühlingsabend in Uppsala zurück. Tage und Nächte des Grübelns waren ihm vorausgegangen. Angst. Dann faßte ich endlich einen Entschluß. Ohne meinen Mantel anzuziehen, ging ich den ganzen langen Weg zur Polizeiwache am Marktplatz. Ging rasch durch die Tür zu dem Pult, schob einen Mann weg, der mit dem diensthabenden Polizeibeamten über einen Fahrraddiebstahl sprach, und sagte mit einer Stimme, die vor Erregung und Entsetzen zitterte:

    „Ich habe ihn getötet. Ich halte die Schuld nicht mehr aus. Kann sie nicht mehr ertragen. Hören Sie, ich habe ihn ermordet. Hören Sie mich nicht? Hören Sie mich nicht? Hören Sie mich nicht ..."

    Drittes Kapitel

    „Ja, heute abend kommen Vater und Irma, sagte Erland, „und vielleicht noch mehr von der alten Garde, um eine Rede auf dich zu halten, Schwesterlein. Also will ich meine kleine Rede jetzt halten. Wenn du sie zu trocken findest, bist du selbst schuld.

    „Du wirst heute abend noch mehr als genug zu trinken bekommen, versetzte Beatrice unmutig. „Beklag du dich nicht.

    „Nun wird er von sich selbst reden, flüsterte Marianne mir zu. „Erland spricht nie von etwas anderem als von sich selbst. Außer meinem Mann Jöran, der Gott sei Dank bei den Kindern in Gotland bleiben mußte, ist Erland der schlimmste Egoist, den ich kenne.

    „Ich selbst bin um zehn Uhr vormittags an einem kalten, windigen Novembertag 1935 geboren, unterrichtete uns Erland. „Es schneite, und es war der Todestag Karls XII. Deshalb habe ich mich immer ein wenig verfroren und auf der Schattenseite des Lebens gefühlt ...

    Erland war Schriftsteller. Nach mehreren mißglückten Romanen gelangte er zu einem gewissen Erfolg, da eines seiner Bücher vom Fernsehen verfilmt wurde. Das mit der Schattenseite des Lebens war also mit Vorbehalt aufzunehmen.

    „Du, Schwesterchen, hast dich immer auf der Sonnenseite des Lebens befunden, fuhr Erland fort. „Du wurdest auf der Funkausstellung in Stockholm geboren ... „Ich muß doch bitten, fiel Beatrice ein, „ich wurde in Linköping geboren. Vater war allerdings in Stockholm auf der Ausstellung. Egoistisch wie alle Männer.

    „Jetzt halte ich eine Rede, sagte Erland ärgerlich, aber niemand hörte ihm mehr zu, außer vielleicht seiner Frau. Marianne war damit beschäftigt, kleine Blumen in einem Silberbecher zu ordnen, und Beatrice erzählte mir: „Diesen Becher bekam ich als Taufgeschenk von Tante Irma und ihrem damaligen Verlobten. Ich hole ihn immer an meinem Geburtstag und an meinem Tauftag hervor. Mein Tauftag ist übrigens Vaters Geburtstag. Wir feiern ihn immer hier.

    Ich ließ mir den Becher von Marianne geben und las die Gravierung: „Für Beatrice von ihren Taufpaten Irma und Kurt."

    Die anscheinend harmlose Widmung rüttelte mich auf. Ich wußte, daß sie ein Fadenende der ganzen verwikkelten Geschichte war, die hinter meinem Haß auf die Familie Noijbe lag. Ich bemühte mich, einen unverfänglichen und gleichgültigen Ton anzuschlagen, als ich fragte: „Irma und Kurt — Verwandte von Ihnen?"

    „Irma ist meine Patin, antwortete Beatrice, und ihre Stimme hatte etwas Abweisendes. „Eine Verwandte ist sie eigentlich nicht. Aber ... Sie unterbrach sich und sagte gleichsam begütigend: „Sie kommt heute abend. Dann werden Sie sie kennenlernen. Sie bleiben doch zum Essen?"

    „Gern, danke, gab ich zurück. „Wer ist denn Kurt? Kommt er auch?

    Ich wußte, wer Kurt war. Aber Beatrice wußte nicht, daß ich ihn vom Hörensagen kannte. Er hatte in meiner Lebenstragödie eine sehr wichtige Rolle gespielt. Nun wollte ich unter allen Umständen herausfinden, welche Rolle es gewesen war.

    Beatrice antwortete mir nicht. Statt dessen blickte sie zu Erland hinüber, der sich aus einem Barschrank eine Whiskyflasche geholt hatte und sich mit einem Drink versah.

    „Man kann einen Siebenunddreißigjährigen nicht mehr erziehen, murmelte sie und zuckte die Schultern. „Das wird ja heiter werden, wenn Papa kommt.

    Als ich vor ein paar Tagen auf Erland gestoßen war, hatte er in der Bar des Hotels Båstad Bloody Mary getrunken. Eva und Marianne hatten ihn wie unglückliche Kükenmütter umflattert. Das hatte nichts geholfen. Im Verlauf des Abends war er immer betrunkener geworden.

    Da ich selbst einst auf dem Wege gewesen war, Alkoholiker zu werden, kannte ich das Verhaltensschema gut. Und ich freute mich, daß ein Noijbe auf den Weg bergab geraten war. Gleichzeitig nahm ich die Gelegenheit wahr, mit ihm in Verbindung zu treten, ich kannte ja Marianne von früher her.

    Ihr hatte ich es auch zu verdanken, daß ich zu dem Geburtstagskaffee mitgenommen worden war. Das hatte nun zu einer Einladung zum Abendessen geführt.

    „Möchten Sie vielleicht auch etwas trinken, Dan? fragte Beatrice. „Da die Flasche doch zum Vorschein gekommen ist ...

    „Nein, danke. Ich trinke keinen Alkohol mehr. Aber Sie haben meine Frage nach Kurt nicht beantwortet. Wer war ... ich meine, wer ist er?"

    Es verwirrte mich, daß ich mich versprochen hatte; doch niemand schien es bemerkt zu haben. Dann aber begegnete ich Erlands Blick im Spiegel über Beatrices Kopf. Er sah mich verschlagen und berechnend an, als ob er hinter etwas gekommen wäre, das er für seine Zwecke auszuschlachten gedachte.

    Zuerst erhielt ich wieder keine Antwort auf meine Frage, aber dann sagte Erland: „Er hieß Kurt von Spoor. Er ist tot. Körperlich und ... geistig. Sein Andenken ist ausgelöscht, wie man das Andenken an einen verhaßten Diktator in einem totalitären Staat auslöscht, indem man seinen Namen von allen Erinnerungsstätten und Inschriften entfernt."

    Nachdenklich fügte er hinzu: „Wenn man sich vorstellt, daß einer, der gelebt hat, so tot sein kann ... Daß man sich nicht an ihn erinnert. Keiner will sich mehr an ihn erinnern. Dabei war er

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