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Die Rache der Märchenwesen
Die Rache der Märchenwesen
Die Rache der Märchenwesen
eBook307 Seiten4 Stunden

Die Rache der Märchenwesen

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Über dieses E-Book

Irgendwann sitzt ein Zeichner an seinem Schreibtisch und entwirft ein Wesen. Dieses Wesen lebt in einer Geschichte. Es spricht, es atmet und es handelt. Aber es ist bloß eine Fantasie. Ist es das?

Prinz Ferdinand von Hagebutte ist ein junger, naiver und wohlbeleibter Thronprinz. Er lebt in einem Märchenbuch, das auf einem Regal in Hannas Zimmer steht. Auf diesem Wandregal lernt er den Magier Phrasius kennen, der gerade seinen besten Freund, den Waldgeist Argentarius verlor und in Ferdinand einen neuen Freund findet. Prinz Ferdinand sieht sich nach einer Prinzessin um, denn wenn er heiratet, darf es nur eine Prinzessin sein, weil die Tradition es so gebietet. Der Magier Phrasius und er werden rasch die besten Freunde. Phrasius ist ein lebenserfahrener, älter und sehr weiser Mann.

Ferdinand muss mit ihm viele Abenteuer überstehen. Sie lernen einen Drachen kennen, besuchen die 5 Rabauken und Ferdinand sieht seine Jugendliebe Lisa wieder, die er allerdings nicht mehr erkennt, weil der Fluch einer Hexe sie entstellte.

Auch der Schöpfer aller Fabelwesen findet Erwähnung, denn er kreierte anlässlich einer besonderen Feierlichkeit das Einhorn.

Ferdinand und Phrasius sind keineswegs auf ein Leben in ihren Geschichten reduziert, denn sie bewegen sich durch alle Märchenbücher, die auf dem Regal in Hannas Zimmer stehen, denn Hanna liebt nichts mehr als Märchen.

In ihren Büchern existiert eine andere Welt. Eine Welt mit kleinen Wesen von Königinnen und Königen, Prinzen und Prinzessinnen, Zauberern, Zwergen und Riesen.

Beide sind zwar bloß Märchenwesen, sich ihres Daseins als auf Papier gezeichnete Wesen jedoch bewusst. Sie wissen aber auch, dass sie allein darum unsterblich sind.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Nov. 2023
ISBN9783384027863
Die Rache der Märchenwesen
Autor

Lutz Spilker

Lutz Spilker wurde am 17.2. des Jahres 1955 in Duisburg geboren. Bevor er zum Schreiben von Büchern und Dokumentationen fand, verließen bisher unzählige Kurzgeschichten, Kolumnen und Versdichtungen seine Feder. In seinen Veröffentlichungen befasst er sich vorrangig mit dem menschlichen Bewusstsein und der damit verbundenen Wahrnehmung. Seine Grenzen sind nicht die, welche mit der Endlichkeit des Denkens, des Handelns und des Lebens begrenzt werden, sondern jene, die der empirischen Denkform noch nicht unterliegen. Es sind die Möglichkeiten des Machbaren, die Dinge, welche sich allein in der Vorstellung eines jeden Menschen darstellen und aufgrund der Flüchtigkeit des Geistes unbewiesen bleiben. Die Erkenntnis besitzt ihre Gültigkeit lediglich bis zur Erlangung einer neuen und die passiert zu jeder weiteren Sekunde. Die Welt von Lutz Spilker beginnt dort, wo zu Beginn allen Seins nichts Fassbares war, als leerer Raum. Kein Vorne, kein Hinten, kein Oben und kein Unten. Kein Glaube, kein Wissen, keine Moral, keine Gesetze und keine Grenzen. Nichts. In Lutz Spilkers Romanen passieren heimtückische Morde ebenso wie die Zauber eines Märchens. Seine Bücher sind oftmals Thriller, Krimi, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy und selbst Love-Story in einem. »Ich liebe die Sprache: Sie vermag zu streicheln, zu liebkosen und zu Tränen zu rühren. Doch sie kann ebenso stachelig sein, wie der Dorn einer Rose und mit nur einem Hieb zerschmettern.«

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    Buchvorschau

    Die Rache der Märchenwesen - Lutz Spilker

    Kapitel 1 – Unbeschriebenes Papier

    Nichts liebte Hanna mehr als Märchen. Wenn sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag und sich in die Geschichten ihrer Märchenbücher vertiefte, versank sie in einer Welt, die nur in diesen Büchern zu existieren schien. Dort befand sich ihr eigentliches Zuhause. Dorthin zog es sie immer wieder und dort erlebte sie die Abenteuer, die ihr nicht mehr aus dem Sinn gingen. Von Königinnen und Königen, von Prinzessinnen und Prinzen, und von Drachen und Zauberern war die Rede. Sie wohnten mitunter in prunkvollen Schlössern, sprachen vornehm, aßen erlesene Speisen, tranken edle Weine, und kleideten sich in kostbare Roben.

    Schon aus weiter Entfernung baute sich ein solches Schloss im Blick des Herannahenden auf und forderte seinen Tribut in Form von Ehrfurcht und Bewunderung, denn es war der Sitz des Königs.

    Hanna fuhr nach dem Schulunterricht meistens sofort nach Hause. Sie hatte es immer eilig. Mitten in der Auffahrt zur Garage stellte sie ihr Fahrrad ab, rannte ins Haus, hastete die Treppe hoch, drückte die Klinke zu ihrem Zimmer herunter und stürzte hinein. Anstatt sich mit ihren Hausaufgaben zu beschäftigen, wollte sie umgehend in der Geschichte weiterlesen, deren weiteres Geschehen sie mit Spannung erwartete. Alles geschah wie automatisiert, denn so geschah es fast täglich. Direkt links an der Wand, neben der Türe in ihrem Zimmer, stand ein Schreibtisch, gegen dessen Flanke sie ihre Schultasche lehnte. Eigentlich ließ sie lediglich aus der Hand rutschen und hoffte, dass sie genau dort landen würde. Dann warf sie sich geradeaus auf ihr Bett, schnappte nach dem Buch, das auf ihrem Nachtschrank lag, und kugelte sich in gehabter Manier nach hinten. Während sie sich auf ihr Kopfkissen drehte, schlug sie bereits die richtige Seite zum sofortigen Weiterlesen auf, welche sie am Abend zuvor bereits mit einem Eselsohr kennzeichnete. Irgendwann bat sie ihre Mutter um ein Lesezeichen, denn sie selbst hatte keines zur Hand. Ihre Mutter gab ihr den Rat, eine Seite einfach einzufalten. Seither knickte Hanna die entsprechende Buchseite einfach um. Und so schlug sie die Geschichte des Märchenbuchs erneut auf und befand sich schon nach wenigen Sekunden wieder mitten im Geschehen. Direkt gegenüber des Fußendes ihres Bettes überspannte die gesamte Breite der Wand ein Regal, auf dem sich all ihre anderen Märchenbücher befanden. Es waren Dutzende. Rechts von ihr war das Fenster, von wo aus sie in den kleinen Garten des Hauses schauen konnte. Doch Hanna lag auf ihrem Bett und las …

    Der Thronfolger Prinz Ferdinand von Hagebutte lief wie ein Kleinkind vor dem Weihnachtsfest nervös in seinen Gemächern auf und ab, weil die Feierlichkeiten anlässlich seines zwanzigsten Geburtstages das gesamte Schlosspersonal in Atem hielten. Alles und jeder war mit dem Ausschmücken der großen Schlosshalle beschäftigt. Ferdinand hielt es vor Neugier kaum noch aus, stopfte sich mit Süßigkeiten voll, was er eigentlich immer tat, und beabsichtigte sich dadurch zu beruhigen.

    Auch warf er unentwegt einen kontrollierenden Blick aus dem Fenster, zumal er eine Kutsche zu erblicken erhoffte, die seine künftige Frau zum bevorstehenden Fest bringen würde. Nicht nur sein Geburtstag wurde also gefeiert, sondern gleichsam seine Verlobung. Es war eine Tradition, dass der Thronfolger mit Erreichen seines zwanzigsten Lebensjahres einer Frau das Eheversprechen gab, die er allerdings noch nie zuvor sah. Vielleicht hatte das Ganze auch historisch, kulturelle Hintergründe – Ferdinand hielt es jedenfalls für ein unzeitgemäß.

    Da ihn keine 50 Pferde mehr in seinen vier Wänden hielten, beschloss er auf Erkundungstour zu gehen. Ein flinker Blick nach links und ein ebensolcher nach rechts signalisierten ihm freie Fahrt. Zwei Dinge hätte Ferdinand besser unterlassen sollen. Zum einen sollten diese Massen von Lakritz und Schokolade in dem Zusammenhang erwähnt werden und zum anderen wäre da dieser Säbel, der an einer offensichtlich viel zu langen Schnur am Gürtel befestigt war, und irgendwie bloß störte. Wenn Ferdi tief einatmete, schwand sein Umfang, ließ aber den schwarzen Ledergürtel seiner Uniform ein kleines Stück herunterrutschen, wodurch der Säbel erneut vor den Stiefeln baumelte, und beim Gehen den Weg in jede Richtung versperrte. Als Ferdinand das letzte Loch des Gürtels benutzte und es irgendwann auch nicht zu erreichen war, setzte man in der Mitte seines Gürtels den Teil eines anderen Leibriemens ein, um ein komplettes Koppel präsentieren zu können. Ferdinand war es von Kindesbeinen an gewöhnt in Uniform mit Säbel und Stiefeln zu erscheinen, sobald er seine Gemächer verließ. Niemand würde ihm den nötigen Respekt zollen, würde er im Schloss mit Morgenrock und einer Schlafmütze erscheinen, hieß es. Mit den Jahren wuchs er jedoch mehr in die Breite, statt in die Höhe. Darauf war seine Uniform nicht vorbereitet und reagierte entsprechend störrisch. Auch sein Pferd Salsa täuschte gerne einen verstauchten Huf vor, wenn sich Ferdi den Stallungen näherte.

    Ferdinand pirschte sich langsam an sein Ziel. Es war die große Halle, also der Thronsaal, in der die Feierlichkeiten stattfinden sollten. Mehr und mehr fühlte er sich wie ein Einbrecher, der sich um keinen Preis erwischen lassen wollte. Vor dem steinernen Rundbogen, der das schwere Holzportal mit den schmiedeeisernen Verzierungen zur großen Halle einrahmte, patrouillierten mit Lanzen bewaffnete, königliche Gefolgsleute auf beiden Seiten des Eingangs. Prinz Ferdinand glitt rasant, jedoch fast geräuschlos die Stufen der breiten Treppe hinab, hielt seinen Säbel im Zaum, und näherte sich beinahe unbemerkt dem gut bewachten Eingang des Thronsaales.

    »Er steht auf meinem Fuß!«, knurrte der lanzenhaltende Portalwächter hinweisgebend, ohne jedoch seinen Blick zu verändern.

    »Wer er?«, fragte Ferdinand verwundert.

    »Na er doch!«, zischte der Gardist zwischen seinen Zähnen.

    »Jener etwa?«, fragte der Prinz und deutete mit beiden Händen auf sich selbst, und sah seinen Gegenüber zustimmend nicken.

    »Er nun wieder«, amüsierte sich der Prinz, und machte einen Schritt nach vorn. Umgehend wurde die Erleichterung im Gesicht des Dieners sichtbar, zumal Prinz Ferdi kein Leichtgewicht darstellte. Sein Bauchumfang maß immerhin so viel, dass sich die Mamsell und die Zofe an den Händen festhalten, und dann um ihn herumfassen konnten. Ferdinand genoss es immer, wenn sie es taten. Es besaß für ihn so etwas wie eine Liebkosung und er fühlte sich geschmeichelt. Nur für sein Pferd Salsa geriet seine Behäbigkeit immer wieder zur Pein. Auf das Überspringen irgendwelcher Hindernisse, wie auch auf das Erreichen möglicher Höchstgeschwindigkeiten, wurde schon seit jeher verzichtet. Ferdi hatte es nie eilig. Er war ein gemütlicher Zeitgenosse, der sich irgendwann die Worte gemach, gemach auf seine Fahne schreiben lassen wollte – doch dazu müsste er zunächst König werden.

    Als Thronfolger standen seine Aussichten gar nicht so düster. Zunächst galt es allerdings einen Blick auf seine Zukünftige werfen zu können. Vielleicht wurde sie durch einen Geheimgang ins Schloss gebracht. Zuzutrauen wäre es der Tradition schließlich. Ferdi verfolgte so gut es irgend ging ein Geräusch, das durchaus zu einer Frau passen könnte, die sich gerade in ein Hochzeitskleid zwängte.

    »Vorsicht bei meiner Frisur und Tritt bloß keiner mehr auf die Schleppe«, klang es aus einem der angrenzenden Räume. Ferdinand fiel es sehr schwer, sich in diese Stimme zu verlieben. Auch begann er schlagartig sich dagegen zu wehren, das dazu passende Gesicht sehen zu wollen. Nichts davon war plötzlich mehr sein Wunsch.

    Seine Oma sagte ihm immer, dass sich Gegensätze anziehen, und er war jahrelang der Ansicht der Gegensatz zu sein. Hatte sich Ferdis Oma etwa geirrt? Glücklicherweise waren sämtliche Leute derart mit der zeitigen Fertigstellung ihres Auftrags beschäftigt, dass er selbst dann nicht aufgefallen wäre, wenn er sich des Tafelsilbers und etlicher, massiver Leuchter bemächtigt hätte.

    So unauffällig wie er gekommen war, stahl er sich auch wieder davon, und ließ die Feier, Feier sein und die Verlobung ebenso. Mit nichts und niemandem wollte er im Augenblick etwas zu tun haben. Ferdinand bewegte sich noch langsamer als sonst in Richtung seiner Gemächer, setzte sich auf seinen Lieblingsschemel, ließ den Kopf hängen, und trat mit voller Wucht gegen seinen Säbel, als ob genau der an allem schuld gewesen wäre.

    Kannte er eigentlich sämtliche Seiten in dem Buch, in dem er sich selbst befand? Er wollte es auf der Stelle herausfinden, denn mit einem Frauenzimmer, deren Stimme den Geräuschen eines knarrenden Truhendeckels nahekam, wollte er nicht einen einzigen Tag verbringen. Vielleicht schlüge sie nachts um sich, würde ihn noch treffen und verletzen. Womöglich trüge er einen dauerhaften Schaden davon. Dieses Risiko einzugehen war Ferdinand keineswegs willens. Er zog die Jacke seiner Paradeuniform aus, warf sie im hohen Bogen auf sein Bett, und griff sich ein weniger auffälliges Exemplar aus seiner Garderobe. Eigentlich wechselte er bloß von einem knalligem Rot zu einem knalligem Blau. Seine schwarze Hose behielt er ebenso an wie auch die Reitstiefel. Und den Säbel behielt er bei sich, »denn schließlich muss man auf alles vorbereitet sein«, dachte er.

    Ferdinand wollte sich ganz vorsichtig einige Seiten im Buch nach vorne bewegen, um zumindest einen winzigen Eindruck von dem Weibsbild zu erheischen, vor dem er letztendlich davongelaufen war. Auch das Donnerwetter seines Vaters wollte er sich keinesfalls entgehen lassen, denn schließlich saß eine ganze Gesellschaft bloß wegen ihm jetzt herum. Aus allen Gegenden waren sie eingetroffen, um dabei zu sein, wenn Prinz Ferdinand von Hagebutte seinen Geburtstag feiert, und zu seiner Verlobung bittet. Vielleicht feierte man jetzt ohne ihn. Was würde es für eine Rolle spielen, wenn er nicht anwesend wäre?

    Sein Vater König Leberecht von Hagebutte geleitete Ferdinands Mutter Königin Merle von Hagebutte in den überaus geschmackvoll hergerichteten Saal. Links und rechts bildeten die geladenen Gäste eine Art Spalier und verneigten sich merklich, als das gekrönte Paar durch den Mittelgang schritt, und sich mit erhabenen Neigungen des Hauptes ob der Referenzen bedankte. Anschließend nahmen sie an der königlichen Tafel Platz und mussten feststellen, dass Ferdinands Stuhl leer blieb. Ohne den Thronerben als Geburtstagskind und gleichsam baldigen Verlobten, machte es für die Prinzessin und ebenso künftige Braut keinen Sinn zu erscheinen. Schmollend und trotzig harrte sie im Nebenzimmer aus, konstatierte die Situation nach einer Weile als unglaublichen Affront, begab sich wieder in ihre Kutsche und ward nie mehr gesehen.

    Der anwesenden Gesellschaft dämmerte die Situation angesichts der leer gebliebenen Plätze an der königlichen Tafel ebenso, was sie jedoch nicht davon abhielt das zu tun, wozu sie schließlich anwesend war: um zu feiern. Also wurde die Zusammenkunft selbst in Abwesenheit der beiden Hauptpersonen zu einem rauschenden Fest. Allein für den Hofnarren war das Fernbleiben des Verlobungspaares ein gefundenes Fressen und geriet seinerseits zu einer Art Übungsstunde mit Publikum.

    Genauso gut hätte Ferdi auch mit einer üblen Magenverstimmung und hohem Fieber oder sogar mit einem gebrochenen Bein im Bett liegen können. Man hätte ihm die besten Genesungswünsche zukommen lassen und würde sich auch in diesen Fall anschließend wieder dem Vergnügen der ausgelassenen Feierlichkeiten hingegeben, was schließlich auch den Zweck der Einladung erfüllt hätte. Ferdinand würde nicht der Erste gewesen sein, der seinen eigenen Geburtstag im Bett verbrächte, und die Verlobung wäre einfach auf ein unbestimmtes Datum verschoben worden.

    Tagelang herrschte in der Schlossküche Hochspannung und hektisches Treiben fast rund um die Uhr. Unzählige Schüsseln mit den feinsten Gemüsen wurden nebst knackigen und pflückfrischen Salaten zubereitet. Scheiben dicken Bratenfleischs wie auch anderes Wildbret sollten auf riesigen Naturholzplatten serviert werden. Und Süßspeisen standen natürlich in allen erdenklichen Farben und Geschmäckern parat. Alle und jeder war da – bloß Ferdi nicht.

    Irgendwann in den nächsten Augenblicken – das ahnte er – würde man an seine Türe klopfen, sich nach seinem Wohlergehen erkundigen und gleichsam fragen, wann er zur großen Feier erscheinen wolle. Doch dazu sollte es auf gar keinen Fall kommen. Bis dahin musste er verschwunden sein. Zur Türe hinauskonnte er jetzt nicht mehr. Es stand bereits jemand davor und klopfte unablässig. Vielleicht liefe er dieser Person auch noch in die Arme. Wahrscheinlich sogar seinen Eltern. Das wollte Ferdinand unbedingt vermeiden. Sie sollen sein leeres Zimmer vorfinden. Ferdinands einzige Möglichkeit sich jetzt noch unbemerkt aus seinen Gemächern zu stehlen, war der Weg aus dem Fenster. Seine Zimmer befanden sich zwar nur im ersten Stock des Schlosses, aber unter ihnen verlief der Burggraben, und in dieser Brühe wollte er nicht unbedingt landen. Er wäre nass bis auf die Haut geworden und hätte übler als ein alter Stalleimer gerochen.

    Als Ferdinand noch ein Kind war, spielte er mit der Dienerschaft gerne Versteck, und glühte fast jedes Mal vor Ärger, wenn er verlor, was meistens der Fall war. Seine Mitspieler kannten demnach ein Versteck oder einen Geheimgang, der es ihnen ermöglichte unerkannt zu bleiben, und ein solcher Gang käme ihm jetzt gut zu pass. Ferdi klopfte mit seinem Handballen die infrage kommenden Wände ab. Nichts. Dann betrat er seine Garderobe, sein Umkleidezimmer also. Er schob sämtliche Kleidungsstücke zur Seite und musste gar nicht lange gegen die Wände pochen, da wurde er auch schon fündig. Irgendwie klang es dort anders. Ferdinand drückte an der Stelle gegen die Wand, die seiner Ansicht nach die meisten Druckspuren aufwies, und konnte mit eigenen Augen sehen, wie sich die Wand – wie von Geisterhand geführt – an dieser Position öffnete. Einige Stufen führten nach unten und dort gabelte sich der Weg. Ferdi stieg die kurze Treppe hinab und stand vor der Entscheidung nach links oder nach rechts zu gehen. Beide Wege glichen sich und keiner machte dem anderen gegenüber einen bevorzugten Eindruck. Er musste sich entscheiden, denn jeden Augenblick könnte es erneut an die Türe seiner Gemächer klopfen. Er entschied sich für den Weg nach rechts, zumal er selbst Rechtshänder war, und sein Herz zwar links, doch auf dem rechten Fleck schlug. Nach weniges Schritten entzweite sich der Weg erneut und wieder stand er vor der Entscheidung, in welche Richtung er nun gehen solle. Auch jetzt schienen beide Wege wieder gleich zu sein. Dem Anschein nach wurden diese Wege noch nicht oft benutzt. Ferdi entschied sich erneut für den rechten Weg. Nun führte ihn der Weg in einem großen Bogen zu einem leichten Gefälle. Das behagte Ferdinand so ganz und gar nicht und er beschloss auf der Stelle komplett umzukehren, um eine andere Richtung zu wählen. Er drehte sich, um Kehrt zu machen. Plötzlich stand er wieder vor einer Weggabelung, an die er sich allerdings nicht erinnern konnte. Er hätte sie aber vor Kurzem erst passieren müssen. Schließlich war er vor wenigen Augenblicken dort hergekommen. Nun war er verwirrt. Also drehte er sich erneut um, um seinen ursprünglich gewählten Plan zu verfolgen. Ferdinand würde es nicht glauben, hätte er es nicht mit seinen eigenen Augen gesehen, denn jetzt befanden sich drei Wege vor ihm. Seine Orientierung versagte total und an der Entscheidung seinen Säbel mitzunehmen zweifelte er nun auch. Ferdi fühlte sich hoffnungslos überfordert und trottete mit hängendem Kopf nach vorn auf dem mittleren Weg. Irgendwo würde er bestimmt ankommen, doch wo das wäre, war ihm mittlerweile egal. Er wollte einfach aus seinem Schlafgemach fliehen, einen Blick auf das weitere Geschehen – insbesondere auf seine Zukünftige werfen, doch dieser Geheimgang war voller Tücken, und entpuppte sich noch immer nicht als wahre Hilfe. Vielleicht hätte er damals schon seine Diener nach Einzelheiten fragen sollen, aber seinerzeit wusste er noch nichts von dieser Möglichkeit. Also schlurfte er ohne erkennbaren Antrieb weiter diesen Weg entlang und machte sich einen Spaß daraus mit seinen Stiefelspitzen ab und zu gegen den Säbel zu kicken.

    Entsprach es bloß seinem Wunschdenken oder seiner Einbildung oder erschien ihm die Ferne tatsächlich heller? Eigentlich müsste es hinten dunkler werden, aber es war heller. Woher sollte plötzlich ein Licht kommen? Woher sollte ein Licht wissen, dass er in diesem Augenblick ein Motiv benötigt, welches ihn antreibt? Vielleicht ist diese Helligkeit immer da und hat mit Ferdi gar nichts zu tun? Ferdinand marschierte nun erheblich entschlossener vorwärts. Er schwitzte ein wenig und hatte Durst. Die Luft in diesen Gängen war staubig und roch abgestanden. Jetzt musste er noch um einen ungewohnt scharfen Winkel gehen und stand vor einer Wand. Die an dieser Mauer befestigte Leiter machte einen stabilen Eindruck und ließ in Ferdinand keinen Zweifel ob ihrer Tragfähigkeit, bezüglich seiner Leibesfülle aufkommen. Er kletterte die Sprossen hoch und fluchte fürchterlich in sich hinein, weil sich die Mitnahme seines Säbels noch immer nicht als kluge Entscheidung bewahrheitete. Einige Meter musste er noch überwinden. Am Ende der Leiter schien das Licht am hellsten zu sein – dort musste er hin. Ferdi schnaubte und prustete vor Anstrengung wie sein Pferd Salsa. Leitern hinaufzusteigen gehörte jedenfalls nicht zu seinen täglichen Körperertüchtigungen.

    Eigentlich betrieb er gar keine Turnübungen. Seine engagierteste Bewegung erschöpfte sich im Treppensteigen.

    Noch drei Stufen, dann hatte er es geschafft. Ferdi zog sich mit aller Kraft an den Seitenstangen hoch, die ihm als Geländer dienten. Jetzt bloß nicht nach unten oder nach hinten gucken. Ferdi hatte Höhenangst. Sein Ziel war das Licht und das befand sich oben. Endlich hatte er es geschafft. Er lugte vorsichtig über die oberste Kante und schaute Hanna fast direkt in die Augen. Sie las gerade in dem Buch, aus dem er schaute. »Aber das Licht …«, grummelte Ferdinand vor sich hin. Das Licht war die Lampe auf Hannas Nachttisch. Ferdinand knickte sofort in den Knien ein, um wieder in der Versenkung zu verschwinden. Er zitterte am ganzen Körper, atmete in einer ihm völlig unbekannten Geschwindigkeit und schwitze plötzlich aus allen Poren, denn er hatte Angst davor entdeckt zu werden. Hanna schien ihm so groß wie ein Gebirge zu sein und besaß einen riesigen Mund mit Zähnen in der Größe einer Hellebarde. Jedes Mal, wenn sie eine Seite umblätterte, fegte es ihn fast von der Leiter. In seiner Geschichte kam es nie zu derartigen Stürmen. Es wehte vielleicht mal ein kräftiger Wind, aber der blies beileibe nicht derart heftig. Zum Glück war Ferdinand kein Leichtgewicht. Hannas Aufmerksamkeit galt ausnahmslos dem Inhalt des Buches. Es schien wirklich sehr spannend zu sein.

    Ferdi wollte umgehend wissen, was ihm als nächstes passiert, und warf mit äußerster Vorsicht einen Blick auf die nächsten Seiten des Buches, in dem er sich schließlich selbst befand. Die Seiten waren leer. Unbeschriebene wie auch unbedruckte Papierblätter blickten ihm entgegen. Seine Zukunft war für ihn selbst noch gar nicht passiert. Nur Hanna schien etwas sehen zu können. Ihre Augen bewegten sich so, als läse sie jedes Wort und jede Zeile. Über ihn konnte Hanna momentan nichts lesen, denn er war gar nicht dort, wo er eigentlich sein sollte. Oder sollte er gar nicht in seiner üblichen Geschichte sein, sondern als Ausreißer dort, wo er sich im Augenblick befand? Ferdinand war sich nicht mehr sicher und für Hanna wäre es egal gewesen.

    Ferdi orientierte sich zu den vorherigen Buchseiten. In irgendeiner Geschichte müsste es doch eine einigermaßen passable Prinzessin geben. Er kletterte die Leiter wieder ein Stück abwärts und bemerkte eine Luke, die sich ohne Anstrengung öffnen ließ. Von dort aus konnte er in einen anderen Gang steigen und der bot ihm einen weiteren Zugang zu den übrigen Seiten im Buch, wie er feststellen konnte. Überall ließen sich die allgemeinen Vorgänge lesen und mühelos gelangte er in die jeweiligen Geschichten, als spazierte er in einer gewohnten Umgebung umher, und nirgendwo schien er Aufsehen zu erregen oder Unbill zu erzeugen. Ferdinand schien überall willkommen zu sein. Niemand hetzte seinen Hund auf ihn, und niemand warf ihm Beschimpfungen entgegen, oder beleidigte ihn wegen seiner Leibesfülle. Deswegen wurde er bereits oftmals mit den daraus möglichen Nachteilen konfrontiert und nicht selten gehänselt. Und nun passierte nichts. Er wurde kommentarlos akzeptiert. Eigentlich wurde er ignoriert. Niemand grüßte ihn und niemand schenkte ihm überhaupt Beachtung, als wäre er gar nicht da. Vielleicht konnte ihn nicht nur Hanna nicht sehen, sondern niemand. Tatsächlich! Er konnte anderen Leuten mitten auf dem Dorfplatz die Zunge herausstrecken, einen Vogel zeigen oder andere Faxen machen. Niemand reagierte. Ferdi war so gut wie unsichtbar.

    Sein Säbel störte ihn schon wieder und er verspürte Hunger und Durst. All das machte ihn derart ärgerlich, dass er begann andere Leute zu piesacken. Markttische mit Feldfrüchten und Obst fielen scheinbar grundlos um, brachen aus heiterem Himmel zusammen, und den sich nach den umher kullernden Knollen bückenden Leuten, trat Ferdi mit Anlauf kräftig in den Hintern. Als ihm bewusst wurde, dass ihn niemand sehen konnte, aß und trank er nach Herzenslust, wo immer er gerade etwas Schmackhaftes entdeckte. Auch die Süßigkeiten entsprachen seiner Erwartung. Ferdi ging es plötzlich wieder blendend und seine Laune wendete sich zum Guten. Er bedankte sich bei seinen Gönnern mit einem Kratzfuß, dennoch sie ihn gar nicht sahen. Ferdi dreht sich um seine eigene Achse und hob den Blick.

    Paläste, Schlösser und wehrhafte Burgen wurden meist auf Bergen oder zumindest auf Anhöhen errichtet. Doch wohin er auch schaute, er konnte nichts Derartiges erblicken. Und wo kein Schloss wart, existierte kein König, und wo es keinen König gab, wohnte auch keine Prinzessin. Ferdi war traurig. Vielleicht war er der einzige Prinz weit und breit, an dessen Seite noch immer keine passende Prinzessin weilte.

    In seinem Buch gab es offensichtlich keine Prinzessin und diese Erkenntnis traf ihn sehr. Ferdi durchsuchte das ganze Buch nach einer holden Königstochter, doch der Platz an seiner Seite blieb leer.

    Am späten Abend desselben Tages

    »Sie hätte kein Einzelkind bleiben dürfen«, schimpfte Hannas Vater, als er am späten Abend von der Arbeit kam. Er betrat das Haus wie immer durch den Seiteneingang, gab Hannas Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, und sah bei alledem nicht sonderlich glücklich aus. Noch bevor er sie in den Arm nehmen konnte, machte er sich weiter Luft.

    »Und wo befand sich das Fahrrad unseres Frollein Tochter? Na? Mitten in der Einfahrt zur Garage, um den Weg komplett zu blockieren. Dann kann der olle Depp erst einmal seinen Allerwertesten aus seiner Karre hieven und den Drahtesel unserer Prinzessin zur Seite stellen, um anschließend das tun zu können, was von vornherein so geplant war, nämlich in die Garage zu fahren … ohne Hindernis!«, erregte er sich. »Und wäre sie kein Einzelkind geblieben, dann würden ihre anderen Geschwister vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen, und sie könnte daraus lernen«, schob er noch nach.

    »Wie du schon sagtest Herzallerliebster … vielleicht«, flötete Hannas Mutter. Sie kannte diese eigenartige Begrüßungsrede ihres Mannes und war damit keinesfalls mehr zu erstaunen. Dann nahm sie ihn in den Arm, gab ihm einen dicken Kuss und lächelte ihn frohen Mutes an.

    »Ich hasse es, wenn du so guckst«, sagte Hannas Vater. »Jedes Mal komme ich mir so schuldig, unfähig und betroffen vor.«

    »Ich weiß, ich weiß – du hast einen anstrengenden Job, bist müde, ausgelaugt und völlig schlapp, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Aber das bist du auch, wenn du gar nicht von der Arbeit kommst, sondern deine Zeit mit deinen sogenannten Freunden vertrödelst, stundenlang am Stammtisch verbringst, oder dich sonst wo herumgetrieben hast«, klang es vorwurfsvoll aus ihrem Mund.

    Kapitel 2 – Pfüati Ferdi

    Ferdi hätte sich nicht so einfach davonstehlen dürfen, ohne sich gebührlich von seinem Hengst Salsa zu verabschieden. Es

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