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Billie von Walberg
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eBook234 Seiten3 Stunden

Billie von Walberg

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Über dieses E-Book

Billie heißt eigentlich Wilhelmine, ist ein junges, lebensfrohes und hübsches Mädchen, das kurz vor dem Abitur steht. Später soll sie studieren und das familieneigene Bankhaus übernehmen.

Um jedoch eine absichtlich fehlgeleitete Transaktion zu korrigieren, muss sie in die Vergangenheit reisen und lernt dabei kannibalische Rezepturen und ihren künftigen Ehemann kennen.

Wären gewisse Investitionen vor einem halben Jahrhundert bloß anders kanalisiert worden, stünde das familieneigene Geldinstitut jetzt stabil da. Doch leider wurde das Bankhaus als Zielscheibe für familiäre Auseinandersetzungen benutzt und sollte vorsätzlich bankrottieren.

Jetzt muss Billie ein neues Leben als andere Person ergreifen, um dadurch den Verlauf der Dinge zu ändern.

Sie ist ganz auf sich gestellt. Mithilfe eines alten Buches und den darin beschriebenen Vorgehensweisen könnte die Aufgabe gelingen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Okt. 2023
ISBN9783384037107
Billie von Walberg
Autor

Lutz Spilker

Lutz Spilker wurde am 17.2. des Jahres 1955 in Duisburg geboren. Bevor er zum Schreiben von Büchern und Dokumentationen fand, verließen bisher unzählige Kurzgeschichten, Kolumnen und Versdichtungen seine Feder. In seinen Veröffentlichungen befasst er sich vorrangig mit dem menschlichen Bewusstsein und der damit verbundenen Wahrnehmung. Seine Grenzen sind nicht die, welche mit der Endlichkeit des Denkens, des Handelns und des Lebens begrenzt werden, sondern jene, die der empirischen Denkform noch nicht unterliegen. Es sind die Möglichkeiten des Machbaren, die Dinge, welche sich allein in der Vorstellung eines jeden Menschen darstellen und aufgrund der Flüchtigkeit des Geistes unbewiesen bleiben. Die Erkenntnis besitzt ihre Gültigkeit lediglich bis zur Erlangung einer neuen und die passiert zu jeder weiteren Sekunde. Die Welt von Lutz Spilker beginnt dort, wo zu Beginn allen Seins nichts Fassbares war, als leerer Raum. Kein Vorne, kein Hinten, kein Oben und kein Unten. Kein Glaube, kein Wissen, keine Moral, keine Gesetze und keine Grenzen. Nichts. In Lutz Spilkers Romanen passieren heimtückische Morde ebenso wie die Zauber eines Märchens. Seine Bücher sind oftmals Thriller, Krimi, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy und selbst Love-Story in einem. »Ich liebe die Sprache: Sie vermag zu streicheln, zu liebkosen und zu Tränen zu rühren. Doch sie kann ebenso stachelig sein, wie der Dorn einer Rose und mit nur einem Hieb zerschmettern.«

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    Buchvorschau

    Billie von Walberg - Lutz Spilker

    Kapitel 1 – Wie ein Blitz in der Nacht

    Im Grunde genommen war es bloß eine einzige, breite Straße, die durch den kleinen Ort verlief. Links und rechts davon standen die Wohnhäuser und ein paar Geschäfte. Über festgefahrene, aber nicht asphaltierte Seitenwege gelangte man zu den übrigen Häusern. Sie wurden später gebaut. Dort wohnten die besser gestellten Herrschaften, deren Häuser auch größer, komfortabler und erheblich stabiler waren. Und in einem dieser Häuser wohnte Billie mit ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern. Eigentlich hieß sie Wilhelmine, aber niemand nannte sie so. Wer würde ein junges Mädchen, das im nächsten Jahr ihr Abitur machen wollte, schon Wilhelmine nennen? Billies Oma mütterlicherseits trug diesen Namen und ihr zu Ehren wurde Billie so getauft. Man versprach sich insgeheim einen Dank in erbschaftlicher Hinsicht. Oma Wilhelmines Dank beschied sich jedoch auf das Besinnen der christlichen Jahresfeste.

    Das Haus besaß zwei Etagen und verfügte über genügend Zimmer, um die ganze Familie gemütlich darin wohnen zu lassen. Ringsherum legte Billies Vater schon vor vielen Jahren einen Rasen an und ihre Mutter kümmerte sich um die Blumenbeete. Billies Vater besitzt das Bankhaus in der Kreisstadt – die ›Walberg Bank‹. Dort befanden sich auch die Kirche und das Rathaus, der Bahnhof, die Schule und Billie fuhr dort jeden Tag mit dem Bus hin, wenn er ihr nicht vor der Nase davon rauschte oder sie extrem spät dran war. Ansonsten rannte sie wieder nach Hause und bat ihre Mutter, sie mit dem Auto zur Schule zu fahren. Das kam mindestens fünfmal im Monat vor und niemand verlor darüber noch ein Wort.

    Jeden Morgen klopfte irgendjemand an die Badezimmertüre. Wozu die Zeiten irgendwann festgelegt wurden, hatte man scheinbar vergessen. Jede Person hatte eine festgelegte Zeit einzuhalten und in dieser stand ihr das Badezimmer in vollem Umfang zur Verfügung. Wer zu dieser Zeit dringende Bedürfnisse verspürte, musste seine Körperbeherrschung besser trainieren oder eine andere Möglichkeit aufsuchen. Auch die Reihenfolge war allgemein bekannt. Doch an jedem Morgen schien es so, als sei sie gerade erst verkündet worden. Jedenfalls war jetzt Billie an der Reihe. Billie wurde von ihren Eltern nur dann Wilhelmine genannt, wenn es brenzlig wurde, wenn man es todernst meinte und ihr klarmachen wollte, dass das Ende der Fahnenstange erreicht war – dann hieß sie plötzlich Wilhelmine. Das war glücklicherweise sehr selten der Fall.

    Billie stand im Badezimmer vor dem Spiegel, ergötzte sich an der allmorgendlichen Randale im Flur und kämmte sorgsam ihr langes blondes Haar, als wohnte sie alleine dort. Der große Spiegel im Badezimmer überdeckte die ganze Front vor den Waschtischen und lud geradezu ein, sich dort von allen Seiten zu betrachten. Billie war ein gutaussehendes Mädchen und bestaunte sich fast jeden Morgen selbst. Ihre Mutter stand derweil in der Küche und bereitete das Frühstück, wie sie es jeden Morgen tat. Ihre Eltern gingen zuerst ins Bad. Dann folgte sie und dann ihre Geschwister.

    An jedem Donnerstagnachmittag saß Billies Mutter mit vier ihrer Freundinnen zusammen am großen runden Tisch in der eigens dafür eingerichteten Wohnzimmerecke, die sich Esszimmer nannte. Dort tranken sie Likör, schwatzten flüsternd miteinander und taten stets sehr geheimnisvoll. Es war eine mysteriöse Runde mit okkultem Flair. Gegenseitig legten sie sich die Karten, schauten Woche für Woche in ihre Zukunft und riefen durch fragwürdige Rituale auch Verstorbene herbei, sprachen mit ihnen und erfragten deren Wohlergehen.

    Billies Erlebnisse bei den Beisetzungen ihrer Großväter schufen einen gewissen Vorrat, was das Thema Beerdigung angeht. Alle Leute standen trauernd und in dunkler Garderobe um ein Grab und weinten. Die Verabschiedung in das angestrebte, ewige Leben stellte sich Billie stets fröhlicher vor.

    Als Kind fürchtete sie sich oft vor diesem Donnerstag, denn irgendwie schien ihr dieses merkwürdige Kaffeekränzchen nicht geheuer zu sein. Auch durfte sie ihre Mutter an diesen Tagen auf gar keinen Fall stören. Hörbares Spielen trotz geschlossener Kinderzimmertüre war an diesen Nachmittagen ebenso unerwünscht, wie ihr plötzliches Erscheinen im Esszimmer. Sie freute sich immer, wenn alle gegangen waren und sie sich wieder frei bewegen konnte. Alleine die Aktivität dieses Kreises versetzte das Haus in eine fast schon unheimliche Atmosphäre. Sie hielten sich an den Händen, murmelten mit gebeugtem Kopf seltsame Formeln und Sprüche, reckten sich dann nach hinten und sanken anschließend nach vorne in sich zusammen. Oftmals holte Billies Mutter das Hexenbrett (Ouija-Board) aus dem Schrank und legte es bedeutsam auf den Tisch. Absolute Ruhe herrschte dann, als ob etwas Wundersames bevorstünde. Das Brett konnte buchstabenweise beziehungsweise mit Ja oder Nein reagieren. Genau genommen reagierte es nie von selbst. Helenes Freundinnen berührten einen Gegenstand mit ihren Fingerspitzen, der sich an einer Seite zu einer Art Hinweispfeil formte und mittels einer unergründlichen Kraft über dieses obskure Brett wanderte. Diese Kraft wurde dann dem Antwortenden zugeeignet. Der Personenkreis am Tisch zählte stets fünf Versammelte. Die Zahl bildet als geometrische Figur einen Drudenfuß oder auch Pentagramm genannt. Es musste irgendetwas Magisches bedeuten. Es bezeichnet die vier Elemente (Luft, Erde, Wasser und Feuer) und addiert den Geist als Fünftes hinzu. Die Damen wollten keine Fragen an Gott oder den Teufel, den Tod oder an ein ewiges Leben stellen. Ihnen erschienen diese Positionen viel zu alltäglich, zu gebräuchlich und zu einseitig. Sie stellten auch keine Fragen an Verstorbene aus jüngerer oder älterer Vergangenheit, persönlichem oder bekanntem Umfeld, sondern richteten ihre Fragen an ein namenloses Universum: Sie nannten es das ›Nichts‹.

    Jede der fünf Anwesenden stellte auch an diesem Tag eine Frage und die wurden von Mal zu Mal schwieriger, denn nach den populärsten Themen wurde sich bereits vor langer Zeit erkundigt, als die Runde ihre Geburtsstunde fand. Die Langwierigkeit buchstabenorientierter Antworten und die damit verbundene Fehlerquote wurde mit einer Fragestellung umgangen, deren Antwort sich lediglich auf ein Ja oder ein Nein beziehen konnte.

    Billies Vater gehört eine Bank. Im Grunde genommen geht es ihnen also gut, wären da nicht die aktuellen Engpässe, von denen Billie ab und zu etwas mitbekam, wenn sie frühstücken ging und die Treppe zur unteren Etage nahm. Dann verstummte oftmals das Gespräch zwischen ihren Eltern oder wechselte merklich in ein anderes Thema. Aber sie machte sich keine ernsthaften Gedanken darüber, solange sie pünktlich ihr Taschengeld bekam und in ihrem Zimmer tun und lassen konnte, wonach ihr gerade der Sinn stand. Ihre Welt war in bester Ordnung.

    Billie wollte im kommenden Jahr Abitur machen. Richtiger wäre es allerdings zu sagen, dass sie es machen soll. Ihr Vater bestand darauf. Er möchte die Bank irgendwann an seine Kinder übergeben und das würde er bloß dann mit ruhigem Gewissen tun können, wenn sie über einen Schulabschluss mit anschließendem Studium verfügen. Billies jüngere Geschwister stünden auch irgendwann in der Reihe der Verantwortung, doch als Erste hatte ihr Vater Billie im Visier. Ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Benji und ihre eben erst eingeschulte Schwester Lörchen eigneten sich noch nicht zum Banker und bekundeten alleine von ihren jetzigen Interessen her keine sonderlichen Ambitionen.

    Das Frühstück könnte sich für Billie auch wie die Erfrischung eines Langstreckenläufers darstellen. Es gestaltete sich fast immer so, als wäre sie auf der Flucht. Trotz bester Zeitplanung schien sie ständig in Eile zu sein. Ihre Mutter wechselte routiniert zwischen Tisch und Herd, während sich ihr Vater hinter seiner Zeitung vergrub und an seinem Kaffee schlürfte. Billie tobte die Treppe hinunter, bog links in die Küche, bediente sich halb stehend, halb sitzend, schnappte sich ihre Tasche mit den Schulsachen und hastete mit einem flüchtigen Tschüss dem Schulbus entgegen.

    Noch vor zehn Minuten trödelte sie in ihrem Zimmer herum, schminkte sich in aller Ruhe, ging an ihrem geöffneten Kleiderschrank entlang, als schritte sie die Front eines Soldatenregiments ab und telefonierte zuvor noch mit ihrer besten Freundin Rembrandt, um modische Fehlgriffe zu vermeiden. Nichts wäre Billie peinlicher, als in einem ähnlichen Outfit wie ihre beste Freundin zur Schule zu gehen. Ihre Freundin hieß eigentlich Marianne, zeichnet jedoch begnadet gut und wurde daher allseits Rembrandt genannt.

    Billie musste bloß den Weg bis zur Hauptstraße gehen und den Schulbus nehmen. Während der trockenen Jahreszeiten ließ sich der Weg gut begehen. Die vorbeifahrenden Autos wirbelten ein wenig Staub auf, sonst nichts. In den schnee- und regenreichen Monaten verwandelte sich die Oberfläche dieses festen Wegs in eine Rutschbahn. In dieser Zeit stand Billies Mutter öfter als Fahrdienst parat. Ihr Vater betrachtete sich selbst nie als Chauffeur und stellte weder sich noch sein Auto zur Verfügung.

    Billie hetzte auch an diesem Morgen zur Bushaltestelle und sah ihn gerade noch davonfahren. »So ein Mist«, dachte sie, drehte sich geradewegs um und marschierte wieder nach Hause. Ihre Mutter sah sie schon durch das Küchenfenster kommen, griff nach dem Autoschlüssel, lud Billie ein und fuhr dem Bus quasi hinterher. Billies Geschwister besuchten die Schule vor Ort und gingen zu Fuß dorthin.

    Die Kreisstadt war nicht weit entfernt. Die Bäuerinnen zogen mit einem Handkarren dorthin, wenn sie ihre Feldfrüchte zum Markt transportierten. Aber das war früher, als die Gegend noch Landwirtschaft pflegte. Mittlerweile wurden die Höfe der Bauern immer seltener und Handkarren kannte Billie nur von Fotos. Den Bus holte ihre Mutter nicht mehr ein. Verträumt saß Billie auf dem Beifahrersitz und dachte an ihren Freund Carlo, dem sie gleich wieder begegnen würde. Er war ihr neuer Schwarm, ihre neue Liebe, ihr neuer Freund. Die ganze Schule war hinter ihm her, aber sie hat ihn bekommen. Selbst Rembrandt gegenüber konnte sie damit strunzen und wurde ihrerseits beneidet. Eigentlich hatte sie sich gar nicht sonderlich um ihn bemüht. Er war mit seiner Familie in den Nachbarort gezogen und besuchte darum dieselbe Schule wie Billie. Er ging sogar in dieselbe Klasse. Und eines Tages stand er da, stellte sich als der Neue vor und suchte sich einen Platz. Billie gab sich so wie immer. Vielleicht ein wenig fraulicher und weniger mädchenhaft. Oft versank sie in ihre eigene Welt, wenn sie mit Rembrandt kicherte, Schabernack trieb und herumalberte. Und dann wurde sie wieder zur keuschen Tochter aus gutem Hause. Carlo gegenüber wollte sie das genierliche Mädchen ein wenig unterdrücken und der ansprechenden Frau in ihr den Vortritt lassen. Und Carlo reagierte wie geplant. Alles geschah wie selbstverständlich: Flirt per Augenkontakt und Verständigung per Zeichensprache. In der nächsten großen Pause kam er schon auf sie zu, verabredete sich mit ihr und von diesem Augenblick an galten sie als ein Paar. Sie konnte sich auf ihn verlassen und umgekehrt war es ebenso.

    Billies Mutter hielt mit dem Wagen vor der Schule. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Ständig fuhren auch andere Eltern ihre Kinder zur Schule. Billie war nicht die Einzige, die ab und zu den Bus verpasste und chauffiert werden musste. Zum bestandenen Abitur würde sie ein eigenes Auto bekommen, hatte ihr Vater versprochen. Sie lernte schon fleißig für den Führerschein und hatte auch schon klare Vorstellungen hinsichtlich ihres ersten Autos.

    Billie drehte sich zur Türe und wollte gerade aussteigen, als sie Carlo durch das Wagenfenster mit einer anderen im Arm dort stehen sah. Er machte es wahrscheinlich absichtlich. Hätte er etwas zu verbergen, würde er sich mit der anderen in den letzten Winkel des Schulgeländes verkriechen. Aber er stellt sich sozusagen zur Schau und bringt Billie zur Raserei.

    »Fahr weiter, fahr sofort weiter!«, giftete sie ihre Mutter an. »Ich steige hier nicht aus, niemals werde ich hier aussteigen … hast du meinen Kerl da stehen sehen … hält eine andere im Arm«, schrie Billie und konnte sich kaum beruhigen. Ihre Mutter fuhr derweil ein paar Straßen weiter und verstand die Situation immer noch nicht so richtig. »Bin ich hässlich? Bin ich dem gnädigen Herrn nicht hübsch genug? Bin ich fett?«, fragte Billie in die Luft hinein und erwartete von niemandem eine Antwort.

    »Kannst du mir einmal sagen, was überhaupt los ist?«, wollte ihre Mutter wissen.

    »Hast du ihn nicht gesehen? Stellt sich extra mit dieser … dieser … dorthin, wo ich ihn nicht übersehen kann und grinst mir frech ins Gesicht …!«, kreischte Billie ihre Mutter an.

    »Ich habe Carlo mit einem anderen Mädchen dort stehen sehen«, sagte Billies Mutter in beschwichtigender Weise, »aber, dass er dich frech angrinste und das andere Mädchen im Arm gehalten hat, habe ich nicht gesehen«, ergänzte sie.

    »Hört das nie auf mit den Kerlen? Muss man die ein Leben lang festhalten?«, fragte Billie mehr oder weniger rhetorisch.

    »Ich fürchte, das ist so«, beschwichtigte ihre Mutter sie und hob die Schultern dabei an, als ob sie auf eine Quizfrage keine Antwort geben könnte.

    »Aber diese Dreistigkeit, sich einfach dahinzustellen, wo ihn jeder sieht … und dass er mich dabei bis auf die Knochen blamiert … alleine dafür könnte ich ihn lynchen«, brachte sich Billie immer wieder in Rage. Zum Glück saß sie im Auto und lief nicht auf Carlo zu. Ihrem augenblicklichen Gemütszustand entsprechend wäre sie tatsächlich in der Lage, ihm etwas anzutun. »Du bist also gegen mich, gegen deine eigene Tochter?«, fuhr es aus Billie lautstark heraus. »Ich will sofort nach Hause … bring mich bitte sofort heim!«, stampfte Billie mit dem Fuß auf. Ihre Mutter zuckte wortlos mit den Schultern, startete den Motor und fuhr wieder heimwärts. Während der gesamten Rückfahrt sprachen weder Billie noch ihre Mutter kein einziges Wort. Billie knetete ihre Hände, als erdrosselte sie etwas. Ihre Augen bildeten sich sekundenweise zu Schlitzen und ihre Backenmuskeln arbeiteten intensiv.

    Als sie daheim angekommen waren, sprang Billie aus dem Wagen, riss die Haustüre auf, rannte die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, schmiss ihre Schultasche in die Ecke und warf sich aufs Bett. Dort heulte sie keifend ins Kopfkissen. Es waren keine Worte, es waren nur Laute. Sie wollte ihre Wut herausschreien. Für eine Weile lag sie so da, schlug mit den Fäusten in ihr Kissen und brüllte sich den Zorn von der Seele. Mit viel Fantasie ließen sich Worte wie Rache oder dem wird' ich’s heimzahlen heraushören. Dann stand sie auf und verließ ihr Zimmer. Sie warf die Türe schallend zu, stieg die Treppe zum Dachboden hoch und nahm zwei bis drei Stufen auf einmal. Auch die Türe zum Dachboden schloss sie hinter sich derart geräuschvoll, dass es jeder im Haus mitbekommen musste. Es machte den Eindruck, als wolle sie der ganzen Welt ihren Schmerz mitteilen, dabei war bloß ihre Mutter im Haus und die war Billies eigenwillige Reaktionen auf derlei Geschehnisse schon aus früheren Zeiten gewohnt.

    Kapitel 2 – Der Dachboden

    Auf dem Zeichentisch des Architekten wurde dieser Raum bestimmt als Dachboden angelegt. Später verwandelte er sich dann zur Rumpelkammer und beherbergte die ausrangierten Gegenstände früherer Zeiten. Eine Lampe mit elektrischem Licht prangte in der Mitte des stärksten Balkens des Giebels. Die kleinen Luken, die sich jeweils an den Frontseiten des Speichers befinden, ließen jedoch genügend Licht durch die matten Scheiben scheinen, um die herumstehenden Dinge erkennen zu können. Im Laufe der Jahre war dort eine Mischung aus Möbelhaus und Flohmarkt entstanden. Die Dachbalken schienen über Spinnennetze fest mit dem alten Trödel verbunden zu sein. Stühle, Tische, Lampen und Schränke, zusammengerollte Teppiche, Spielzeug und Gerümpel aus Zeiten, als Billie noch nicht geboren war oder sich nicht mehr daran erinnern konnte.

    Dahin verkroch sie sich immer, wenn sie Kummer hatte. Es war sozusagen ihre Zuflucht, in der sie sich vor der Welt verstecken konnte und sich ihr Schmerz verarbeiten ließ. Dort oben hatte sie ihre Ruhe. Dort oben verblieb sie unbehelligt, oft stundenlang. Mit angezogenen Beinen und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, schwor sie Carlo Rache und wünschte ihm alles nur erdenklich Schlechte. Irgendwie spürte sie jedoch tief in ihrem Inneren, dass sie es ihm gar nicht so sehr wünschte, denn irgendwo glimmte noch ein Fünkchen Zuneigung für ihn.

    So ließ sie jedenfalls nicht mit sich umspringen. Zuerst musste er spüren, dass sie sich in jeder Form dagegen wehren würde. Wenn er der Ansicht ist, sich in aller Öffentlichkeit mit einem anderen Mädchen zu zeigen und sie umarmen zu müssen, dann soll er das tun – aber ohne Billie. Wie steht sie jetzt da? Er hat sie zum Gespött für die ganze Welt gemacht. Der Lächerlichkeit hat er sie preisgegeben und jeder zeigt nun mit dem Finger auf sie und lacht. Billie kam sich verletzt und wehrlos vor, als ob sie zur Schule gefahren wäre und vergessen hätte sich anzuziehen.

    Und dann saß sie da und schluchzte vor sich hin. Der Platz, auf dem sie saß, war augenscheinlich die einzige Fläche, auf der sich nicht der Staub vieler Jahre niedergelassen hatte. Mit dem Rücken lehnte sie gegen die Flanke eines aus der Mode gekommenen Möbels. Hier fühlte sie sich sicher. Es schien so, als fühlte sich Billie von der ausrangierten Einrichtung früherer Tage beschützt. Dort oben war eine Art neutrale Zone. Es herrschte weder Gut noch Böse und weder Recht noch Unrecht. Ruhe kehrte ganz gemächlich bei Billie ein. Aber sie konnte noch lange nicht so klar denken, wie sie es wollte. Jedenfalls zitterte sie nicht mehr so stark und ihr Zorn auf Carlo verflog immer mehr. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, warf ihre Haare stolz nach hinten und atmete tief durch. Doch ständig kamen ihr wieder die Bilder in den Kopf, in denen sie Carlo mit der anderen im Arm dort stehen sah und wieder begann sie laut zu weinen und mit den Füßen aufzustampfen.

    Ihr Kopf lag immer noch auf den Armen und die ruhten auf ihren Knien. Sie öffnete ihre Augen und sah plötzlich inmitten all der anderen Sachen rechts neben sich eine kleine Schatulle stehen. Eine seltsame Atmosphäre entstand und Billie wunderte sich, dass sie nicht erschrak. Ihr war die Situation

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