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Der krumme Hartmann
Der krumme Hartmann
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eBook232 Seiten3 Stunden

Der krumme Hartmann

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Über dieses E-Book

Zwei Dinge waren schon immer da: Das Leben und der Tod.

Hartmann ist Bestatter und lebt in einem idyllischen Dorf. Irgendwann blieb dort die Zeit stehen und eigene Gesetze fanden Geltung.

Jeder kennt im Dorf jeden und jeder kennt auch das Leben jedes anderen. Hartmanns Leben passiert wie ein Uhrwerk. Tagein tagaus derselbe Weg von der Arbeit nach Hause oder umgekehrt.

Wären da nicht diese merkwürdigen Fußstapfen neben seinen eigenen, die sein Schatten offensichtlich verursacht.

Hartmann ist wohlhabend aber dennoch genügsam und er ist verliebt in die junge lebenshungrige Landgräfin.

Nichts scheint die Idylle zu trüben. Aber Hartmanns Schatten ist eifersüchtig.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Okt. 2023
ISBN9783384024527
Der krumme Hartmann
Autor

Lutz Spilker

Lutz Spilker wurde am 17.2. des Jahres 1955 in Duisburg geboren. Bevor er zum Schreiben von Büchern und Dokumentationen fand, verließen bisher unzählige Kurzgeschichten, Kolumnen und Versdichtungen seine Feder. In seinen Veröffentlichungen befasst er sich vorrangig mit dem menschlichen Bewusstsein und der damit verbundenen Wahrnehmung. Seine Grenzen sind nicht die, welche mit der Endlichkeit des Denkens, des Handelns und des Lebens begrenzt werden, sondern jene, die der empirischen Denkform noch nicht unterliegen. Es sind die Möglichkeiten des Machbaren, die Dinge, welche sich allein in der Vorstellung eines jeden Menschen darstellen und aufgrund der Flüchtigkeit des Geistes unbewiesen bleiben. Die Erkenntnis besitzt ihre Gültigkeit lediglich bis zur Erlangung einer neuen und die passiert zu jeder weiteren Sekunde. Die Welt von Lutz Spilker beginnt dort, wo zu Beginn allen Seins nichts Fassbares war, als leerer Raum. Kein Vorne, kein Hinten, kein Oben und kein Unten. Kein Glaube, kein Wissen, keine Moral, keine Gesetze und keine Grenzen. Nichts. In Lutz Spilkers Romanen passieren heimtückische Morde ebenso wie die Zauber eines Märchens. Seine Bücher sind oftmals Thriller, Krimi, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy und selbst Love-Story in einem. »Ich liebe die Sprache: Sie vermag zu streicheln, zu liebkosen und zu Tränen zu rühren. Doch sie kann ebenso stachelig sein, wie der Dorn einer Rose und mit nur einem Hieb zerschmettern.«

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    Buchvorschau

    Der krumme Hartmann - Lutz Spilker

    Vorwort

    Wir befinden uns in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in einem idyllischen Dorf eines Tals in der nördlichen Schweiz.

    Strom und warmes Wasser existierten ausschließlich bei den Begüterten.

    Papiergeld kam erst im Jahre 1907 in Umlauf und das Hauptverkehrsmittel war die Kutsche.

    Zwei Dinge waren jedoch schon anwesend: Das Leben und der Tod.

    Kapitel 1

    Kalt war es und der Atem erzeugte kleine Wolken in der Luft. Dem Auge bot sich ein weißer Himmel. Schneebehangene Äste wiegten sich im Wind und ab und zu fiel eine Flocke herunter, schien in der Luft zu tanzen und schwebte sanft zu Boden. Es war wieder ein langer Tag gewesen. Die Knochen werden nicht jünger und weder ein dicker Mantel, noch ein langer Schal vermögen die Wohligkeit eines wärmenden Ofens zu erwecken. Hartmann hatte es nicht weit nach Hause. Seit fast einem halben Jahrhundert nahm er diesen Weg.

    Schön sollten sie aussehen, seine toten Freunde. So nannte Hartmann die Leichen, die er täglich herrichtete: Seine toten Freunde. Ein angedeutetes Lächeln, ein wenig Rouge auf den Wangen und schon begannen sie zu leben. Hartmann verstand etwas von seinem Beruf, darin machte ihm keiner was vor. Eigentlich hatte er Schmied werden wollen, aber Hartmann war nicht kräftig genug. Er ging schon als Kind stark gebeugt, als schleppe er ständig einen Sack voll Brennholz mit sich. Es läge an den Bandscheiben, an den Muskeln und an der Wirbelsäule, hatte der Arzt gesagt.

    Man hatte es dabei belassen und nie mehr etwas dagegen unternommen. Früher fehlte den Eltern das Geld dazu, später war Hartmann an diesen Zustand gewöhnt und jetzt wäre ohnehin nichts mehr zu ändern, sagte der Arzt. Im Dorf kannte ihn daher jeder als ›der krumme Hartmann‹. Der Name passte zu ihm. Jemand, der mit Toten spricht und sie anmalt, muss entweder sonderbar oder krumm sein. Wäre er Schmied geworden, hätte er sich sicherlich mit Hufeisen und dem Pferd unterhalten. Jetzt sprach er mit den Toten. An jedem Tag starb irgendwo in der Gegend ein Mensch und der landete meist bei Hartmann.

    Bevor die Leichname in ihre Särge gelegt wurden, sollen sie zur Aufbahrung im Kreise der engsten Verwandten gut aussehen, wie Hartmann meinte. Leichen sollten nicht aussehen, als handelte es sich um Tote. Aschfahle Haut und eingefallene Gesichter mochte niemand sehen. Wenn man die verstorbene Person so in Erinnerung behalten wollte wie zum Zeitpunkt vor dem Tode, dann musste sie auch so aussehen, war Hartmanns makaberer Leitsatz. Diesen Service ließ er sich gut bezahlen.

    Beim Sarg und bei den Blumen konnte er nicht viel aufschlagen. Das Wiederbringen eines Lächelns, das Zurückholen des Lebens durch das Aufbringen von Schminke, das war sein Verdienst, und darin sah er seine Kunst. Einer seiner besten Bekannten arbeitete in der Stadt beim Theater als Maskenbildner und der hatte ihm schon vor vielen Jahren gezeigt, wie es geht. Zusammen hatten sie an Puppen geübt. Hartmann hatte keine Puppen besessen. Wenn er allein übte, übte er immer an Toten, die er anschließend wieder sorgfältig abwusch. Es dauerte seine Zeit, bis er einigermaßen gut war. Jetzt war er perfekt.

    Das alles war schon viele Jahre her. Aber auch dieser Freund war irgendwann auf Hartmanns Tisch gelandet. Fromm wäre er gewesen, also faltete Hartmann ihm die Hände. War er Rechtsoder Linkshänder? Das ist beim Händefalten wichtig. Hartmann faltete die Hände seines toten Freundes so, als sei dieser Rechtshänder gewesen. Dann liegt der rechte Daumen über dem linken. Manchmal sind es bloß Kleinigkeiten, die das gesamte Erscheinungsbild beeinflussen und das wirkt sich nicht selten auf den Preis aus.

    Ein Gespräch mit den Angehörigen war für Hartmann immer schon selbstverständlich gewesen. Glattrasierte und zufrieden dreinschauende Tote erwecken Argwohn, wenn sie ihr Leben lang als Griesgram bekannt waren. Hartmann lernte sehr schnell, dass gutgemeinter Eigensinn oftmals das Trinkgeld schmälert. Und wie jeden Tag, den der Herr werden ließ, ereilte ihn der Glockenschlag der Turmuhr am Marktplatz und verkündete den Feierabend.

    Hartmann löschte das Licht, verriegelte die Fenster, verschloss die Türe hinter sich und begab sich auf den Heimweg, den er nach all den Jahren wie im Schlaf beherrschte. Knöchelhoch lag der Schnee und breitete sich wie eine riesige, weiße Decke aus. Die Sonne stand schon tief und Hartmanns Schatten lag auf dem Schnee wie ein umgefallenes Schild. Wenn er ging, ging sein Schatten auch, und wenn er einen Arm hob, tat es sein Schatten ihm gleich.

    Hartmann alberte mit seinem Schatten herum und glaubte, einen Hund zu dressieren, weil sein Schatten jede seiner Bewegungen umgehend erwiderte. Zu Hause angekommen verlor Hartmann das Interesse an dem kuriosen Spiel und widmete sich den Aufgaben, die ihn abends erwarteten. Er war Selbstversorger, wie er sagte. Eigentlich war das lediglich eine charmante Umschreibung für seinen Familienstand. Er lebte allein. Niemals interessierte sich eine Frau für ihn, er blieb stets ›der krumme Hartmann‹.

    Also kochte, wusch und fegte er selbst. Mit den Jahren schrumpfte sein Anspruch. Er besaß von allem nur das Nötigste, wem hätte er imponieren wollen? Seine Mahlzeiten gestalteten sich daher einfach und preiswert. Privaten Besuch bekam er nie. Geschwister hatte er keine und Hartmanns Eltern waren schon vor vielen Jahren gestorben. Haus und das Geschäft hinterließen sie ihm schuldenfrei, dazu ein Paket voller Aktien einer amerikanischen Tabakfirma. Hartmann war kein Freund des Tabaks und schenkte dem Paket wenig Beachtung. Irgendwann wusste er gar nicht mehr, wo er es aufbewahrte. Das Geschäft war kein riesiges Unternehmen. Es ernährte ihn jedoch bestens. Zur Straße hin zeigte sich neben der Eingangstüre ein Schaufenster und nach hinten erstreckten sich noch andere Räumlichkeiten.

    Irgendwann würde er das Haus im oberen Stock ausbauen lassen, um darin wohnen zu können. Das wäre erheblich praktischer. Ins Schaufenster stellte er immer eine volle Vase Zantedeschia. Ein Metzger legt Fleisch, Wurst und Schinken in die Auslage, Hartmann bevorzugte frische Blumen, statt Kränze oder Urnen. »Das Leben ist oftmals schnell vorüber«, sagte er sich, »und für den Tod muss niemand Werbung machen, der kommt von allein.«

    Jedenfalls lagen auch seine Eltern einst auf seinem Tisch und wenn ihn jemand aufsuchte, war das Treffen meist beruflicher Natur. Alles andere hätte Hartmann verwundert.

    Nein - Freunde besaß er keine, aber auch keine Feinde und das war für ihn erheblich wichtiger. Und so vergingen die Jahre ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Morgens verließ Hartmann das Haus, in dem er schon seine Kindheit verbrachte und kehrte dort abends wieder ein. Manchmal fragte er sich schon nach dem Sinn des Lebens; nach dem Sinn seines Lebens. Wie oft schon wähnte er sich wie ein Hamster in einem Rad, in das er bei Sonnenaufgang kletterte und das er bei Sonnenuntergang wieder verließ. Geschuftet hatte er und erschlagen fühlte er sich von Jahr zu Jahr mehr, doch es brachte ihn keinen Zoll weiter.

    Am Ende des Tages ging Hartmann zu Bett. Eine kleine Lampe auf dem Nachttisch wies ihm den Weg in der Dunkelheit und erzeugte - wie schon zuvor der Schein der Sonne - einen Schatten.

    Der Vollmond schien ins Fenster und beleuchtete den Raum. Als Hartmann das Licht der Lampe löschte, bemerkte er zunächst nicht, dass der Schatten gar nicht verschwand, so hell schien der Mond. Am nächsten Morgen besann sich Hartmann auf sein Tagwerk und die Aufträge, die auf ihn warteten.

    Er begab sich in gewohnter Manier auf den Weg zur Arbeit und stapfte durch den harschen Schnee. Jeder seiner Schritte hinterließ eine Spur. Doch was geschah dort neben ihm? Er blickte auf weitere Spuren im Schnee, die ebenfalls von einer Person stammen mussten! Aber von wem? Es war niemand sonst da! Hartmann stand alleine auf weiter Flur und jeder Schritt, den er tat, entstand ein weiteres Mal neben ihm exakt im selben Augenblick. »Schatten machen keine Spuren im Schnee«, dachte er und schaute aus seinem Augenwinkel vorsichtig zur Seite. »Was passiert neben mir, wenn ich mich bewege«, war sein Gedanke und er atmete flach, verharrte für Sekunden und glaubte zu träumen, nicht bei Sinnen oder sogar übergeschnappt zu sein und schob den Gedanken, dass es real sein könnte, weit aus seinem Bewusstsein. Geister existierten für Hartmann nicht und wenn sich jemand im Reich der Toten auskennt, dann er! Jede Medaille besitzt zwei Seiten und die zu betrachten ist kein Geheimnis. Darin bestand Hartmanns Zauberei, denn jede Kreatur bekommt vom Herrgott ein Leben; ein Dasein. Doch nach dem Dasein existiert kein Leben mehr. Danach regiert der Teufel. Er sucht jeden auf und holt jeden heim. Und irgendwann ist für jeden die Zeit gekommen. Die letzte Stunde hat geschlagen und dann liegt ein Jeder auf seinem Tisch. Hartmanns Maschen waren grob und löchrig, aber seiner eigenen Ansicht nach fehlerfrei gestrickt. Sein ganzes Leben war einfach. Es musste genau so sein: Jederzeit überschaubar. Kompliziert war allein das Wort ›kompliziert‹. Also befasste sich Hartmann mit dem Einfachen.

    Das Einfachste war der Umgang mit Toten. Tote widersprechen nicht, träumen nicht, stolpern nicht und werfen nichts um. Sie liegen einfach da und leben nicht mehr. Männer, Frauen und Kinder. Wie ein altes Möbel werden sie irgendwann beseitigt. Alte und Junge. Beliebt war Hartmanns Beruf nicht und ebenso wenig versprach es ein Leben in Luxus, wie das der Großbauern.

    Da tanzten die Mägde mit hoch erhobenen Schürzen und Röcken auf dem Tisch und ließen die lüsternen Blicke der Knechte und Bauern zu, weil sie nichts darunter trugen. Die Bäuerin verbrachte die Abende mit ihresgleichen in einem anderen Raum, wohl wissend der Vergnüglichkeiten der Männer. Damit die Wäsche möglichst lange hielt, wurde sie geschont und das ließ sich erreichen, indem sie kaum getragen wurde; bei der Arbeit schon gar nicht. Die Mägde waren die derben Griffe zwischen ihre Beine und in die Bluse gewohnt. Sie kicherten dabei und schürten die Geilheit der Mannsbilder. Und wenn sich die Knechte nächtens in die Lagerstätten der Mägde schlichen und sich neben sie legten, verschwanden deren Hände sofort unter der Decke der Bettgefährtin, um sie überall anzufassen. Die Kerle ließen sich fast jede Nacht mit der Hand befriedigen. Kamen sie zu spät und das favorisierte Bett war schon besetzt, gesellten sie sich ins Nächste. Auf dem Weg zur eigenen Kammer erweckte der Geruch an ihren Fingern Aufmerksamkeit. Dieses Gemenge aus Scheidenflüssigkeit, Urin und Analschweiß wirkte wie ein Rauschmittel.

    Aber auch tagsüber winkten sie den Knechten verstohlen zu, wenn sie weit hinten auf dem Acker standen. Dann eilte ein Knecht forscheren Schrittes zu ihnen, drückte sie sachte zu Boden und hob ihre Röcke und Schürzen hoch. Sie nestelte derweil seinen Hosenstall auf, führte sich seinen pulsierenden Schwanz ein und gab ihm dennoch zu jeder Zeit das Gefühl, die Oberhand zu besitzen. Unwirsches Verlangen hätte ihre Bluse zerfetzt, warum sie diese vorsorglich öffnete. Die prallen Wogen der Weiblichkeit boten sich seinen rauen Händen, wenn er das schneeweiße Fleisch ungalant massierte.

    Manchmal, wenn das Treiben nicht ohne Folgen blieb, wurde eine Magd schwanger. Entweder verließ sie weisungsfrei den Hof und kam nie wieder oder sie gebar einen Bastard. Dann arbeitete sie bis zur Geburt, trennte sich von diesem neuen, aber ungeliebten Leben und scharrte es in den Acker. Oder man warf das unerwünschte Bündel in den Schweinetrog. So verhielt es sich oft. Kein Balg entstand jemals als Frucht gegenseitiger Zuneigung und Zeit opferte dafür sowieso niemand. Zeit war zum Arbeiten da und nur dafür hielten die Mägde und Knechte ihre Hand auf. Entweder sparten sie den Lohn oder gaben es im Wirtshaus für Wein und Würfel aus. Der Bauer duldete keine Kinder. Säuglinge ohne einen bekennenden Vater schon gar nicht. Der Knecht wollte seinen Spaß und die Magd wollte keine Spielverderberin sein. Also besaß sie das gute Gefühl, es allen recht getan zu haben. Kam des Bauers Sohn zu ihr und schwängerte sie, wurde aus dem Bankert ebenso Schweinefutter, nicht jedoch ein Stiefgeschwister mit Anrecht auf das Hoferbe. Die Arbeit ging weiter und jeder war zufrieden. Und irgendwann gehörten sie auch zu Hartmanns toten Freunden.

    Kapitel 2

    Und dann zog das Leben binnen weniger Momente wie ein lackiertes Pferd auf einem Karussell am inneren Auge vorbei. Und die Toten sangen ihr letztes Lied, wie Hartmann es nannte. Er wuchtete jeden nackten Toten in eine Sitzposition, indem er ihn bei den Schultern packte und seinen Oberkörper nach vorne beugte. Damit presste er die letzte Luft aus den Lungen und das erzeugte sehr häufig einen seufzerartigen Ton. Vielleicht war es sogar der letzte Atemzug, den die Person machte, bevor sie starb. Hartmann machte es besser selbst so, als dass es ungewollt bei der Leichenschau geschah, was auch schon vorkam und die Anwesenden in Panik versetzte. Auch Restluft aus dem Darm erzeugt bei Toten eigenwillige Geräusche und hinterlässt einen äußerst üblen Gestank. In Hartmanns kleinem Unternehmen roch es nach all den vielen Jahren immer ein wenig so. Leichen erzeugen ihre eigenen Ausdünstungen und hinterlassen einen eigentümlichen, üblen Geruch, der sich auch nicht durch mehrfaches Lüften vertreiben ließ, wie Hartmann immer wieder feststellen musste. Er fluchte zwar wie ein Stallknecht in sich hinein, aber es half nichts. Hätte nicht jeder im Dorf von seinem Beruf gewusst, würde man es riechen, befürchtete Hartmann.

    Vielleicht haben sich manche der Toten von Hartmanns Tisch irgendwann selbst gefragt, ob der Herrgott mit ihnen gnädig verfahren wird, weil sie sündig waren. Einige seiner toten Freunde starben keines natürlichen Todes, sie wurden umgebracht. Entweder waren sie das Opfer der Justiz und sie mussten solange am Galgen hängen, bis der Tod sie von ihren Qualen erlöste, oder sie wurden ein Opfer der Kriminalität und verließen das Leben auf unliebsame Art und Weise. Hartmann hielt die Hand für weniger auf, wenn sie der Richter freigab und überstellte. Die Arbeit wäre weniger, hieß es. Man müsse sie nur waschen und herrichten, hieß es auch. Unter herrichten wurde auch allgemein das Säubern der Finger- und Fußnägel verstanden. Zur Aufbahrung kam es bei Gehenkten nie. Auch bei vielen Opfern aus der Kriminalität kam es nicht immer dazu. Schmerzverzerrte Gesichter oder fehlende Körperteile wollte niemand sehen. Ausgestochene Augen oder abgerissene Ohren hätte Hartmann ersetzen können, aber niemand würde die Kosten dafür übernehmen wollen. Bei Sexualdelikten kam es ab und zu vor, dass den Frauen die Brust abgetrennt oder Männer entmannt wurden. Wenn eine Spurensuche mit Hunden erfolgte, schnappten sich die Vierbeiner die abgetrennten Hoden oder Penisse zuerst. Auch taten sich viele Personen damit schwer, sich die Verwandtschaft mit einem kriminellen Zeitgenossen einzugestehen. Auf dem Land bleibt das kein Geheimnis und nur deshalb woanders hinzuziehen, war keines Menschen Wunsch. Also fand keine öffentliche Beisetzung statt. Auch der Aushang im Kasten beim Bürgermeister blieb leer.

    Für diese Zwecke besaß Hartmann dann verschnittene und unbeschlagene Weichholzsärge, die sehr stark an einen Futtertrog erinnerten. Diese Beerdigungen fanden ohne Beisein der Öffentlichkeit und bei fortgeschrittener Dunkelheit statt. Der Totengräber hob ein abgelegenes Grab aus und der Rest passierte bei Laternenschein. In diesen Gräbern türmten sich schon andere sterbliche Hüllen. Der Weichholzsarg vermoderte im Nu und die Knochen der Verblichenen fielen einfach nach unten. Dort befand sich allerdings auch schon eine Leiche und nicht selten wurde ein Grab erst gewechselt, wenn es voll war. Angefangen beim Bürgermeister und den Dorfältesten wusste jeder davon, selbst der Pfarrer; schließlich war es seine Idee. Er wollte den Hof des Friedens sauber halten und traf daher diese Entscheidung. Am liebsten hätte er die Missetäter samt den Verstümmelten den Tieren im Wald zum Fraß vorgeworfen. Aber der Bischof stimmte dem nicht mehr zu. Früher wäre es so gewesen, sagte der Bischof. Früher regierte der König und die Jagdaufseher spurten aufs Wort, sagte der Bischof.

    Hartmann betrachtete sich selbst als streng christlich erzogen, aber nicht spezifisch religiös. Für ihn gab es nur einen Gott und der sah so aus, wie ihn der Pfarrer stets beschrieb. Hartmann war gläubig; gottesfürchtig wäre das passende Wort. Er ging regelmäßig in die Kirche und ebenso zur Beichte. Er beichtete stets dasselbe: Unkeuschheit! Da es keine Frau zu Hartmann trieb,

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