Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Tod des Krämers
Der Tod des Krämers
Der Tod des Krämers
eBook755 Seiten9 Stunden

Der Tod des Krämers

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Idylle am Chiemsee wird durch den Selbstmord des Krämers Michael Probst jäh zerrissen. Seine Tochter Katharina entwirrt nach und nach unfassbare Rätsel um ihren Vater. Sie erbt ein beträchtliches Vermögen, das der Vater mit der Ausweglosigkeit seiner Mitmenschen angehäuft hat. So scheint es jedenfalls. Katharina will der Wahrheit um jeden Preis auf den Grund gehen. Sie nimmt Kontakt auf mit Harald Brenner, der über den Tod des Vaters in der Tageszeitung berichtet hat. Für Brenner ist klar, Michael Probsts Tod war kein Selbstmord. Barbara Fischer, Kriminalhauptkommissarin, übernimmt den Fall und sehr bald steht fest, dass Brenner recht hat. Inzwischen gerät Katharina in den Fokus von Professor Meixner, renommierter Wissenschaftler und Leiter eines Sanatoriums für psychisch Kranke, der befürchtet, Kathariina sei aus dem Nachlass ihres Vaters in den Besitz kompromittierender Fotos gelangt. Er entspinnt einen Plan, der Katharina in höchste Gefahr bringt. Die psychopathischen Züge des Professors treten ungehemmt zu Tage. Harald Brenner indessen wird Zeuge einer nächtlichen Polizeiaktion, bei der korrupte Polizisten die eigenen Taschen füllen. Brenner schreibt einen Leitartikel, der ungeahnte politische Aktivitäten und Medienkampagnen gegen ihn auslöst. Brenners väterlicher Freund und Anwalt, Peter Gaumeiler, vermutet deshalb, es müsse hierfür einen brisanteren Hintergrund als die Polizeiaktion geben. Sie entwickeln einen Plan zur Aufklärung der Zusammenhänge. Gleichzeitig soll Brenner im Auftrag des Verlages Recherchen über Beziehungsgeflechte in der Politik anstellen. In akribischer Kleinarbeit deckt Brenner einen Sumpf korrupter Machenschaften auf, in die ein dubioser Landrat und höchste Spitzen aus Politik und Wirtschaft verstrickt sind, die skrupellos ihre Machtrefugien verteidigen. Sex und Erpressung gehören zum Repertoire. Auch vor Mord schrecken sie nicht zurück; er ist Teil ihrer Routine. Katharina ist hin und her gerissen, als sie erkennt, wer ihr Vater wirklich gewesen ist. Sie und Harry kommen sich näher und steuern in eine feste Beziehung, als sie ein fürchterliches Ereignis plötzlich auseinander zu reißen droht. Der Tod des Krämers bleibt rätselhaft. Barbara Fischer ermittelt unnachgiebig und wird zur Gefahr für Meixner, der, einmal mehr, einen teuflischen Plan ersinnt. Eine ausländische Organisation wird auf Meixner aufmerksam und will ihn für sich gewinnen. Das Enthüllen der Zusammenhänge fordert ihren Tribut.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2013
ISBN9783849569884
Der Tod des Krämers

Ähnlich wie Der Tod des Krämers

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der Tod des Krämers

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Tod des Krämers - Hans K. Reiter

    (1)

    Die Frühmesse war gerade zu Ende und die wenigen Besucher verließen die kleine Barockkirche des Ortes. In früheren Jahren war die Messe immer gut besucht gewesen, aber die Zeiten haben sich geändert. Viele Kleinbauern gibt es nicht mehr. Ein paar wenige große haben das Land unter sich aufgeteilt. Die jungen Leute arbeiten meistens in der Stadt oder haben den Ort ohnehin verlassen und suchen ihr Glück anderswo. Nur die Alten bleiben der Kirche treu. Wie immer, schon seit ewigen Zeiten, kommen sie morgens zur ersten Andacht und beschließen den Tag mit der Abendmesse. Die Kirche gehört zu ihrem Leben.

    Heute Morgen war das nicht anders. Der Mesner schloss die Kirchentür, sammelte die Gebetbücher ein und löschte die Kerzen. Das ewige Licht ließ er brennen, als Zeichen, dass die heilige Monstranz im Tabernakel eingeschlossen und nur für den Herrn Pfarrer zugänglich war. An einer goldenen Kette befestigt baumelte der dunkelrote Glaszylinder von der Decke des Altargewölbes und das Licht der Öllampe drang nur spärlich durch die geschliffenen Facetten. Gläubige Kirchenbesucher würden sich bekreuzigen und als Zeichen ihrer Ehrfurcht vor dem Altar eine Kniebeuge machen. Ja, so war es immer und wird es immerzu auch bleiben, dachte der Mesner, während, über die Jahre routiniert geworden, er seiner Arbeit nachging. Er sinnierte gerne in den frühen Morgenstunden über die Menschen hier in der Gegend. Viele von ihnen waren einfache Leute, die den Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit verdienten. Es gab auch wohlhabende, den Krämer zum Beispiel. Ein freundlicher Mann, bei dem die Leute auch am Abend noch auf einen Ratsch willkommen waren. Der Krämer: Heute war er nicht zur Frühmesse gekommen. Ungewöhnlich, ein frommer Mann, der nie eine Andacht ausließ. Vielleicht war er krank, dachte der Mesner. Nun, seine Hochwürden, der Herr Pfarrer, wird sein Fehlen auch bemerkt haben und auf einen Sprung über den Dorfplatz zum Krämer gehen und nach dem Rechten sehen oder seine Schwester, die ihm den Haushalt führte, bitten, bei ihm vorbeizuschauen. Der Mesner räumte noch die Messgewänder und die sakralen Gerätschaften in den Schrank, verließ die Sakristei und vergaß den Krämer.

    Langsam kehrte Leben ein in der Gaststube. Einige der frühen Kirchenbesucher vermischten sich mit den dazugekommenen Landarbeitern. Ein paar Viehhändler und Bauern saßen etwas abseits. Wortfetzen flogen durch den Raum, der Rauch starken Tabaks und der Geruch frischen Bieres machten sich breit. Sonntags würden sie im feinen Zwirn hier sitzen und die gleichen Reden schwingen. Heute, mitten unter der Woche, waren sie einfach gekleidet und man sah, dass sie hier nur ein kurzes Intermezzo gaben, bevor jeder seiner Arbeit nachging. So war das hier, nichts Besonderes, tagein, tagaus das gleiche Bild, die gleichen Menschen, die gleichen Gewohnheiten.

    Dies sollte sich schlagartig ändern, gleich, in wenigen Augenblicken. Ein derber Witz, der gerade noch den Lippen eines Mannes entschwunden war, erstarrte in der schweren, vom Rauch und Bier geschwängerten Luft. Abrupt brach das anhebende Gelächter ab.

    „Der Probst ist tot!"

    Wie ein Peitschenknall schnitt diese Nachricht das Stimmengewirr entzwei. Für einen Wimpernschlag rührte sich nichts, kein Ton, kein Mucks. Manche ungläubig, andere wie gebannt, hingen sie an den Lippen des Mannes an der Türe.

    „Ja, wiederholte dieser, „der Probst ist tot. Der Pfarrer hat ihn g’funden. Aufg’hängt hat er sich, der Probst. Gleich drüben in sei’m Haus soll’s passiert sein.

    Ein unheimlicher Tumult hob an. Alle redeten und schrien durcheinander. Der Probst, das war nicht möglich! Und aufgehängt, nein, unmöglich, ein so frommer und braver Mann! Warum sollte er das tun? Die Gemüter waren sichtlich bewegt.

    „Ja mei, neischaun konnst in koan. Und was woaß ma’ schon von oam?", sagte einer der ortsansässigen Viehhändler bedächtig.

    „Ja, ja, nickten die um ihn stehenden, „wiss’n konnst nix. Diese und ähnliche Kommentare gab es zahlreiche. Dann drängten alle aus dem Wirtshaus, hin zum Haus des Probsts, vor dessen Anwesen sich mittlerweile das halbe Dorf eingefunden hatte. Die weiß verputzte Steinmauer des Erdgeschosses und der darüber aus schweren Bohlen errichtete Wohntrakt mit seinen vereinzelt von üppigen Geranien gesäumten Balkonen verbargen das Geschehene vor den neugierigen Blicken der Herbeigeeilten. Die Kunde vom Ableben des Probsts hatte schnell die Runde gemacht. Frauen mit Kindern, Männer im Arbeitszeug, Bauern, Viehhändler und zwei, drei Noble der Gemeinde hatten sich auf den Weg gemacht. Der Probst war schließlich nicht irgendeiner, er war der Krämer, bei dem die Leute zu jeder Zeit das eine und andere einkauften, der auch gerne einen privaten Rat gab, zu dem sie ihre kleinen und größeren Sorgen und Probleme trugen. Jetzt war er tot. Aber warum aufgehängt, sich selbst entleibt, das war es, was die Bürger nicht verstanden und was sie umtrieb. Einer von ihnen! Nein, so etwas hatte es im Dorf noch nicht gegeben.

    Der Gendarm, wie der Dorfpolizist von den Alteingesessenen oft genannt wurde, kam aus dem Haus und eilte mit wichtiger Miene auf dem von allerlei Blumen gesäumten und von ausgetretenen Basaltsteinen markierten Weg zur Gartentüre hinaus auf die Wartenden zu. Ein paar Schritte dahinter folgten der Doktor und der Pfarrer.

    „Beruhigt’s euch Leute und geht’s nach Hause", beschwichtigten der Polizist und der Pfarrer die Grüppchen und langsam, beinahe widerwillig, verließen sie nach und nach den Ort des Geschehens.

    Der Dorfplatz wirkte plötzlich seltsam leer, beinahe schwermütig, als wäre er sich kummervoll der Tragweite des Vorgefallenen bewusst.

    „Jemand muss der Katharina Bescheid geben", sagte der Pfarrer zu seiner Schwester.

    „Das arme Kind, erst die Mutter vor zwei Jahren und nun das, der Vater! Die Schwester wischte sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen. „Ich glaub’ der Schuster Martin weiß, wo sie zu erreichen ist. Ich werd’ ihn fragen.

    „Die Beerdigung setzen wir für Montag früh fest. Die Kathe, so haben wir sie früher doch immer gerufen, wird sicher wollen, dass er ins Grab der Mutter kommt. Ich werd’ schon mal alles veranlassen", sagte der Pfarrer und begab sich in sein Arbeitszimmer im Pfarrhaus.

    „Was sagt denn der Doktor?, rief ihm die Schwester nach, bekam aber keine Antwort mehr. „Auch egal - wird nicht so wichtig sein, dachte sie. Der Gedanke ließ sie freilich nicht los. Sie las mit Begeisterung alles, was auch nur im Entferntesten mit Verbrechen zu tun hatte und sie war ein ausgesprochener Fan von XY ungelöst, der Fernsehserie. Und so wusste Mathilde, dass bei Todesfällen, jedenfalls bei unnatürlichen, immer ein Polizeiarzt zugegen war. Und ausgerechnet beim Michael hat’s der Doktor vom Dorf gerichtet. „Na ja, sie werden schon wissen, was sie tun."

    Gedankenverloren schweifte ihr Blick aus dem geöffneten Fenster der Küche über ihren Kräutergarten. Sie liebte diesen kleinen Flecken Erde. Ein Hauch von Rosmarin hing in der Luft und bedeckte ihre Skepsis.

    „Warum hat der Michael des g’macht?" Mathilde verstand es nicht. Dem Michael Probst ging es gut. Bei den Leuten war er gerne gesehen, und soweit sie wusste, half er doch auch immer wieder, wenn es bei dem einen oder anderen einmal eng wurde. Ab und zu hatte sie ein paar Wortfetzen aufgeschnappt, wenn ihr Bruder und Michael in der Stube saßen, sich ihr Gekochtes schmecken ließen und dabei eifrig miteinander redeten. Am Ende schienen sie immer einig zu sein und spätestens beim Schnaps glänzten ihre Gesichter vor Zufriedenheit. Streit gab’s zwischen den beiden nicht. Und auch von anderen hatte sie nie etwas dergleichen gehört.

    „Warum also der Michael?"

    (2)

    „J a, das Leben im Dorf hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Ein Fremder gehört nicht dazu, tut sich schwer, bleibt Außenseiter, manchmal für ein Leben", gab der Einheimische bereitwillig zur Auskunft.

    Ihn, Harald Brenner oder Harry, wie er allgemein gerufen wurde, hatten sie von der Rosenheimer Regionalzeitung geschickt, obwohl geschickt es genau genommen nicht richtig traf. Harry war gerade zweiunddreißig geworden, am Sonntag. Nach dem Abschluss seines Studiums der Journalistik und Medienwissenschaften war er bei einer der Rosenheimer Zeitungen gelandet. Nicht gerade die Idealadresse für eine journalistische Karriere, wie Harry sie sich vorstellt, aber es hatte sich eben so ergeben und viele seiner Kommilitonen hatten es schwer, überhaupt einen Job zu finden. In den Semesterferien hatte er immer wieder mal bei einer der großen Tageszeitungen in München ein Praktikum gemacht und dabei auch Einblick in die Regionalarbeit gewonnen. Die Zeitung hatte Gefallen an ihm gefunden und ihn eines Tages gefragt, ob er nicht Interesse an einer vakanten Stelle bei der zum Verlag gehörenden Rosenheimer Regionalzeitung hätte. Er hatte eingewilligt und so stand jetzt auf dem Türschild zu seinem Büro in der Rosenheimer Redaktion Harald Brenner – Regionales.

    Nun war er hier. Ein Freund bei der Landkreispolizei versorgte ihn hin und wieder mit ein paar Informationen. Bis zum Nachmittag gab es an diesem Mittwoch drei Blechschäden bei kleinen Verkehrsunfällen, einen versuchten Ladendiebstahl, Kaugummi, eine entrissene Handtasche in der Fußgängerzone, nichts, was die träge Gelassenheit dieser oberbayrischen Kleinstadt hätte aus der Ruhe bringen können. Der Selbstmord des Krämers aus Wildau war das bis dahin mit Abstand Aufregendste. Also machte er sich auf den Weg. Vorbei am Simssee über Endorf dann rechts nach Rimsting. Der Touristenverkehr war auf dieser Strecke erträglich, und Wildau am Chiemsee in dreißig Minuten gut zu erreichen.

    „War der Verstorbene, ich meine der Krämer Probst, denn ein Fremder?", fragte Harry weiter.

    „Wie man’s nimmt, deutete der Befragte seine Bereitschaft an, durchaus noch für ein paar Auskünfte gut zu sein. „Der Probst ist hier geboren. Die Eltern stammten aber nicht aus Wildau, der Vater kam aus München, die Mutter aus Rosenheim. Zwar schon aus Bayern, aber nicht von hier, wenn Sie verstehen, was ich meine.

    Harry verstand, stammte er doch selbst aus einem kleinen Ort in der Nähe Münchens, wohin es seine Eltern aus beruflichen Gründen verschlagen hatte. Wer auf dem Land nicht seit mehreren Generationen ansässig war, der zählte eben nicht zum inneren Kern.

    „Aber deswegen wird der Krämer sich doch nicht das Leben genommen haben, was meinen Sie?"

    „Deszweng ganz bestimmt net, war die einfache aber klare Antwort. „Da wird’s schon noch anderes gegeben haben, aber da sagt man besser nix, sonst reit’ ma sich am Schluss noch selber rein.

    „Was meinen Sie denn damit", bohrte Harry nach.

    „Ja, schaun’s, der Probst war überall beliebt und sein Laden lief gut. Der hat koan Supermarkt neben sich g’habt, da kannst leicht a Geld machen."

    „Ja aber das spricht doch alles nicht für einen Selbstmord", erwiderte Harry.

    „Da haben’s wohl Recht, aber ich geh’ jetzt besser, bevor ich noch an Unsinn daher red. Fragens doch unsern Pfarrer, der kennt die Leute, des is a echter Hiesiger, da waren die Urgroßeltern schon vom Ort. Oder vielleicht könnt a der Bürgermeister eps sagen. Der is a von hier, scho’ lang, d’ Eltern, Großeltern und so weiter, eine alte Familie, wiss’ns."

    Weg war sein Gesprächspartner, und Harrys Neugierde geweckt. Wollte sich da einer nur wichtigmachen? Gab es Hintergründe, die es lohnte aufzuspüren? Ein Blick auf die Uhr, Harry konnte noch schnell zum Pfarrer. Die Zeit würde gerade noch reichen, um für die Morgenausgabe ein paar Zeilen zu tippen. Eine Frau um die Vierzig öffnete auf sein Läuten. Die Pfarrhausstube war sehr behaglich, ja anheimelnd eingerichtet.

    „Ich hol’ meinen Bruder", sagte die Frau und verschwand durch eine der Türen. Wenige Augenblicke später betrat ein knapp fünfzigjähriger Mann, groß gewachsen mit einer durchaus sportlichen Figur, die Stube.

    „Ja, grüß Gott, ich bin Pfarrer Bernhard Jobst."

    Harry stellte sich ebenfalls vor und erklärte den Grund seines Besuches.

    „Ich weiß nicht, wer Ihnen da einen Floh ins Ohr gesetzt hat, wir sind doch selber alle überrascht und können das Unmögliche noch gar nicht begreifen."

    „Aber ohne Grund bringt sich doch keiner um", versuchte Harry, den Pfarrer aus der Reserve zu locken.

    „Wer steckt schon in einem andern drin. Was wissen wir denn wirklich über unsere nächsten Nachbarn", erwiderte der Pfarrer.

    „Wollen Sie eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, Gugelhupf?", unbemerkt hatte die Schwester die Stube betreten.

    Harry nahm die Einladung gerne an, spürte er doch ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Der Kuchen schmeckte ausgezeichnet und überraschenderweise auch der Kaffee aus der Pfarrei.

    „Nun, versuchte es Harry zwischen zwei Bissen erneut, „Sie kennen doch sicher die Lebensumstände der Menschen hier, ihre Sorgen und Nöte. Gab es da gar nichts in dieser Richtung bei Herrn Probst?

    Der Pfarrer schüttelte bedächtig sein Haupt. „Sehen Sie, das Meiste, was die Menschen hier mir so erzählen, sagen sie mir in der Kirche, bei der Beichte, und darüber spreche ich nicht."

    „Beichtgeheimnis", sagte Harry.

    „Ja", die einsilbige Antwort des Pfarrers.

    Da war nicht viel zu holen. Harry erhob sich, bedankte sich mit einem Blick auf die Schwester für den wunderbaren Kuchen, und schob schon im Hinausgehen schnell noch eine letzte Frage nach:

    „Was sagt denn eigentlich die Polizei zu dem Ganzen?"

    „Die Polizei?", fragte nun seinerseits der Pfarrer erstaunt.

    „Ja, die Polizei. Ist doch wohl üblich, die Polizei einzuschalten, oder nicht?"

    „Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Natürlich war unser Gendarm anwesend, hat aber keinen Einwand gegen den Abtransport des Toten gehabt. Warum sollte er auch bei einem Selbstmord? Und unser Doktor hat’s auch g’sagt. Ein Selbstmord, schade und schlimm zugleich!"

    Auf dem Weg zurück nach Rosenheim überlegte Harry sich drei, vier Zeilen für die Regionalnachrichten. Mehr gab die Story nicht her. Wieso sprach eigentlich niemand über die Angehörigen des Toten, fragte er sich? Auch der Pfarrer nicht! Und der sollte es doch wissen. Wer war dieser Krämer? Warum begeht jemand in einem Dorf wie Wildau überhaupt Selbstmord? Die Menschen dort sind doch eingebunden, Teil der Gemeinschaft. Nicht wie in der Stadt, wo die Menschen schon ihren nächsten Nachbarn nicht mehr kennen. Tür an Tür mit ihm wohnen, ihn aber noch nie zu Gesicht bekommen haben, nicht einmal wissen, wie er aussieht. Diese Fragen würde er noch unterbringen. Wenigstens ein kleines Bonbon für den nach Sensationen heischenden Leser.

    „Harry, was schreibst du eigentlich?, fragte er sich. Schrieb er, was die Leser von der Zeitung erwarteten? War er in der Berichterstattung objektiv oder bestimmte sein Stil den Inhalt? Oder schrieb er am Ende nur, wozu er gerade Lust hatte? Gefährliche Gedanken bemächtigten sich seiner. Sie nagten an seinem Selbstverständnis. Sie nagten auch an seiner Auffassung über den gewählten Beruf. Wie muss ein guter Journalist schreiben? Manchmal wusste er es nicht. Er schrieb so, wie es ihm in die Finger kam und von dort auf die Tastatur des Laptops. Er lieferte etwas ab, Texte. „Du trägst die Verantwortung dafür! Eine triviale Erkenntnis, die ihm nicht weiterhalf und seine Fragen nicht auflöste.

    (3)

    An der Ludwig Maximilians Universität in München, kurz LMU genannt, schoben sich an diesem Donnerstagmorgen die Studenten in Richtung Audimax. Professor Wagensteiner aus Pittsburgh war als Gast geladen. Dieser Name versprach alles, was ein kritischer Rückblick auf die Regierung Bush erwarten ließ. Ein echtes Highlight in diesem Semester. Katharina Probst war zeitig von ihrem Studentenquartier aufgebrochen, um sich auf jeden Fall einen Platz zu sichern. Das Klingeln und Vibrieren in ihrer kleinen Handtasche erinnerte sie daran, das Handy noch rechtzeitig vor Beginn der Veranstaltung abzuschalten. Das Display zeigte eine ihr unbekannte Nummer.

    „Hallo hier Katharina Probst. Eine Weile verstand Katharina überhaupt nichts, während sich ihre Kommilitonen trotz der Ferien an ihr vorbei schoben und damit die Wahrscheinlichkeit auf einen Platz im Auditorium rapide sank. „Einen Moment bitte - können Sie noch einmal wiederholen, ich habe so gut wie nichts verstanden. Der Lärm hier wissen Sie …

    „Ja, gerne. Hier spricht Mathilde Jobst, die Schwester des Pfarrers von Wildau. Frau Probst ich muss Ihnen leider eine sehr schlechte Nachricht überbringen. Ihr Vater ist verstorben. Am besten kommen Sie gleich hierher. Frau Probst, haben Sie mich verstanden?"

    Katharina hatte sehr wohl alles verstanden, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was diese Frau ihr soeben mitgeteilt hatte. Der Vater, tot!

    „Ist gut, ich komme", hörte sie sich sagen, dann hatte die Frau aufgelegt.

    Sie war allein, das Telefon stumm, entsetzlich allein.

    Das Audimax war bis auf den letzten Platz gefüllt. Professor Wagensteiner ließ soeben einen ersten Begrüßungsbeifall über sich ergehen und setzte zu seinem Vortrag an. Katharina hörte davon nichts mehr. Sie war schon auf dem Weg zu ihrem Mini, ein Geschenk des Vaters. Der Vater: Was war geschehen? Sie hatte ihn zuletzt vor nur ein paar Tagen übers Wochenende besucht und alles war in bester Ordnung gewesen. Er war sehr vergnügt, ja direkt aufgekratzt gewesen und hatte fortwährend von irgendwelchen Neuerungen gesprochen, die sehr bald in Wildau Einzug halten würden. Und was das für ihn und sie, Katharina, bedeuten würde. Er könne noch nicht mehr sagen, als dass er aus dieser Sache einen großen Nutzen ziehen würde. Jetzt war er tot. Wie war das nur möglich? Was war geschehen?

    Kaum in Wildau angekommen, fuhr Katharina direkt zum Haus des Pfarrers. Dort erfuhr sie die schreckliche Wahrheit. Der Vater hatte selbst Hand an sich gelegt. Wie in Trance willigte sie in alles ein, was der Pfarrer für die Beerdigung bereits vorgesehen hatte. Sie fühlte nicht, dass der Tod des Vaters irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hätte. Sie war lediglich Betrachterin eines Geschehens, eine unbeteiligte Dritte. Die Stimme des Pfarrers riss sie in die Wirklichkeit zurück.

    „Wissen Sie Katharina, was soll ich Ihnen sagen, dass Gott in seinen Entscheidungen unergründlich ist, dass Ihr Vater viel Gutes getan hat, hier auf Erden? Nein, das wird Sie im Augenblick nicht trösten, Ihnen keine Hilfe sein im Schmerz. Ich sage Ihnen, hier in der Gemeinde haben Sie Freunde. Gehen Sie zu diesen, wenn Sie Hilfe benötigen. Kommen Sie zu mir, wenn Sie nicht wissen, wer gemeint ist. Ich bin immer für Sie da. Wenn Sie wollen, können Sie gerne ein paar Tage hier im Pfarrhaus wohnen bis nach der Beerdigung …"

    „Vielen Dank Herr Pfarrer, nein, nein, ich werde mir in der Post ein Zimmer nehmen. Ins Haus meiner Eltern …, meines Vaters, möchte ich nicht, noch nicht. Ich brauche erst einmal ein wenig Ruhe, muss meine Gedanken sammeln. Ihr Angebot werde ich bestimmt in Anspruch nehmen, vielen Dank dafür. Jetzt will ich aber zunächst ein paar Schritte gehen. Ich sehe Sie spätestens am Sonntag in der Messe und dann am Montag zum Begräbnis. Ach, eins vielleicht noch, geht das denn überhaupt mit dem christlichen Begräbnis? Ich meine, wo mein Vater doch …"

    Jetzt konnte und wollte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend verabschiedete sie sich und vernahm, dass die Kirche das heute nicht mehr so eng sähe und der Vater selbstverständlich eine feierliche Bestattung erfahren würde mit christlichem Gebet und kirchlichem Segen.

    „Die Kirche mit ihren Regeln und Dogmen", dachte Katharina und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Nicht lange her, da fanden Selbstmörder keine Ruhestätte auf einem kirchlichen Friedhof. Die mit dem Segen der Kirche versehenen marodierenden und brandschatzenden Heerscharen vergangener Zeiten dagegen waren Helden und Verteidiger des Glaubens. Verrückte Welt!

    Was war ihr Vater gewesen? Ein gläubiger Mensch? Ist jemand schon deshalb gläubig, weil er morgens und abends in die Kirche geht? Ist er besonders gläubig, weil er keine Sonntagsmesse auslässt? Wann ist ein Mensch überhaupt gläubig? Welcher Religion muss er angehören, damit seine Gläubigkeit von einer höheren, göttlichen Instanz auch anerkannt wird? „Lass das, sagte Katharinas Vernunft schließlich. „Das bringt dir deinen Vater auch nicht wieder zurück und es hilft dir vor allem auch nicht bei der Suche nach der Wahrheit.

    Draußen vor dem Pfarrhaus atmete Katharina ein paar Mal tief durch und spürte, wie die Kraft in sie zurückkehrte. Es gab so viel Ungereimtes, Fragen, keine Antworten, nichts, was sie hätte wirklich begreifen können. Sie brauchte ein bisschen Zeit, um das Unerklärliche zu verstehen.

    Im Gasthof Zur Post hatte man bereits ein schönes großes Zimmer mit Balkon für sie hergerichtet. Nach Südosten glitt der Blick über den nahen See, streifte zur Rechten die Herreninsel, ein wenig dahinter die Fraueninsel mit der Benediktinerinnenabtei, wanderte dann weiter und erfasste im südlichen Halbbogen die sich türmenden Chiemgauer Berge. In gerader Verlängerung hätte vielleicht der gewaltige Watzmann hervorgelugt, wäre der Gasthof nur um gute hundertfünfzig Meter höher gelegen. Katharina nahm die bezaubernde Landschaft jedoch nicht wahr. Sie hatte hierfür jetzt keinen Spielraum in ihren Gedanken. Vielleicht später einmal. Der Herr Pfarrer hatte Bescheid gegeben, sagte man ihr bei der Anmeldung. Während Katharina noch überlegte, was sie als Nächstes unternehmen sollte, fiel ihr Blick auf die Rosenheimer Regionalzeitung. Sie fragte, ob sie die Zeitung mit aufs Zimmer nehmen könne, und bat darum, die nächsten zwei Stunden nicht gestört zu werden. Ein wenig Ruhe und Balsam, für ihre Seele.

    Ihre Tasche und die Zeitung flogen auf einen Stuhl im Zimmer, dann streckte sich Katharina auf dem mit weißer Leinenwäsche bezogenen Bett aus und schloss die Augen. Sie musste wohl so etwa eine gute Stunde geruht haben, als sie durch ein Geräusch an der Türe, wie sie meinte, hochschreckte. Es war aber nichts. Die Türe war verschlossen, niemand, der etwas von ihr gewollt hätte. „Die Nerven", murmelte sie.

    Katharina stand auf, griff nach der Zeitung. Sie musste dringend ein paar Sachen besorgen, was man eben für ein paar Tage so braucht. Vielleicht sollte sie auch rasch nach München fahren und ihren Freunden Bescheid geben, wo sie zu finden war. Ihr Tatendrang und logisches Denkvermögen kehrten zurück. Jetzt fühlte Katharina sich zunehmend sicherer, konnte die nächsten Schritte planen. Gedankenlos blätterte sie in der Zeitung und las die Überschriften. Da fiel ihr der Text eines HB ins Auge:

    Toter gibt Rätsel auf!

    Nur wenige Zeilen, und doch waren darin die gleichen drängenden Fragen enthalten, die auch sie quälten. Vielleicht sollte sie bei der Zeitung anrufen und sagen, dass es durchaus jemand gab, der das Ableben ihres Vaters nicht verstand. Dass sie traurig war, ihren Vater geliebt hatte und nicht wusste, wie es weitergehen sollte.

    Es war ein anstrengender, langer Tag gewesen. Hunger hatte sie nicht verspürt, jetzt aber meldete ihr Körper sein Recht an. Im Gasthof zur Post war um diese Zeit noch wenig Betrieb. Unter der Woche war an den Abenden ohnehin nicht viel los. Die wenigen Gäste würden erst nach neunzehn Uhr kommen, etwas essen, ein paar Bier trinken und das Lokal spätestens gegen zweiundzwanzig Uhr wieder verlassen. Außer der Post gab es im Ort noch den Ochsen und etwas außerhalb den Schwan. Katharina bestellte den üblichen Braten mit Knödel und Salat und einen Kaiserschmarren, einer Spezialität des Hauses, wie auf der Speisekarte zu lesen war.

    Die ersten Abendgäste gaben ihre Bestellungen auf. Ein Mann Mitte dreißig bat sie im Vorbeigehen plötzlich, ihn am nächsten Tag in seiner Praxis zu besuchen.

    „Doktor Nagel, stellte er sich kurz vor, „ich bin einer der zwei Zahnärzte im Ort. Sie finden mich gleich zwei Häuser weiter, neben dem Haus Ihres Vaters. Ich meine … Entschuldigung, Ihres verstorbenen Vaters.

    Katharina sagte nur irgendetwas wie „Hallo", dann war der Zahnarzt schon vorbei zu seinem Tisch gegangen.

    Viel konnte sie hier am Abend nicht unternehmen. Wildau hatte außer der Kirche und seinen drei Gasthöfen nichts zu bieten. Katharina war das gerade recht, noch ein paar Schritte gehen und dann ab ins Bett. Morgen würde sie dann weiter sehen. Vom Gasthof aus führte ein schmaler Spazierweg aus der Dorfmitte hinaus in die angrenzenden Felder, wo er in einen von Traktoren befahrenen Feldweg einmündete. Einen guten Kilometer östlich wäre über ein paar verschlungene Spazierwege das schilfbewachsene Ufer des Chiemsees zu erreichen gewesen. Die untergehende Sonne ließ die schweren Ähren der Felder golden glänzen. Ein schöner, hochsommerlicher Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Schnell würde die Dämmerung um sich greifen und von der Dunkelheit der Nacht eingeholt werden.

    Plötzlich Schritte hinter ihr. Jemand, der schneller ging als sie, würde sie in wenigen Augenblicken eingeholt haben. War es eine Frau, war es ein Mann? Katharina konnte es nicht ausmachen. Eine Kapuze, tief über das Gesicht gezogen, weite Joggingklamotten, nichts zu erkennen. Die Stimme! Eine unangenehme hohle, unnatürliche Fistelstimme, männlich oder weiblich, nicht zu bestimmen? Katharina erschrak, als sie diese Stimme vernahm:

    „Guten Abend Fräulein Probst. Haben Sie’s schon gefunden? Wenn Sie an Anstand besitzen, werfen’s es weg. Vernichten Sie’s!"

    So wie die Stimme kam, war sie plötzlich verschwunden, die ganze Gestalt, wie vom Erdboden verschluckt.

    Katharina verstand nichts. Was sollte sie gefunden haben? Wer war die Person? Mit einem dumpfen Gefühl im Magen begab sie sich auf ihr Zimmer. Hatte dieses bizarre Erlebnis etwas mit ihrem Vater zu tun? Was wollte der Zahnarzt von ihr, warum hatte er nicht gleich in der Gaststube gesagt, um was es ging? Alles sehr merkwürdig. Katharina wollte mit jemandem reden. Sie war alleine, niemand, der ihr zugehört hätte.

    Die Zeitung, HB, die Initialen, es musste herauszufinden sein, wer den Artikel geschrieben hat. Es gab eigentlich keinen Grund, dort anzurufen, aber sie würde es trotzdem tun. So ein Gefühl; warum nicht?

    Katharina hatte in Wildau ihre Kindheit verbracht, war groß geworden mit anderen zusammen. Hatte mit den Gleichaltrigen des Ortes gespielt, ist bei anderen Leuten aus- und eingegangen. Später ist sie zur Schule nach Prien, dann ins Gymnasium nach Rosenheim. Die Eltern oder Nachbarn haben sie mit dem Auto gebracht. Mit vierzehn oder fünfzehn ist sie dann oft auch mit dem Bus gefahren. Viele ihrer Freunde von einst waren weggezogen aus Wildau, geradeso wie sie. Andere arbeiteten zuhause auf dem Hof, im Sägewerk oder anderswo in der Gegend. Sie haben sich aus den Augen verloren, unterschiedliche Interessen entwickelt, haben geheiratet, Familien gegründet, waren für sich. Katharina gehörte nicht mehr dazu. Ab und zu hatte man sie zwar noch gesehen, wenn sie die Eltern und später dann den Vater besuchte, aber sie war nicht mehr Teil des Lebens hier in Wildau.

    (4)

    Dieser Freitag zeigte bereits am frühen Morgen alle Merkmale eines weiteren heißen Sommertages. Seit Tagen überzog ein Hoch das Land mit schönstem Wetter. Die Menschen waren vergnügt und saßen gerne auf einen Cappuccino in Straßencafés. Harry Brenner war zu einer Veranstaltung beim Zeitungsverlag in der Münchener Innenstadt eingeladen. Dies versprach ein entspannter Tag mit einem abendlichen Bummel durch München zu werden. Keine Rosenheimer Regionalgeschichten, keine Verkehrsunfälle, kein Kleinstadttratsch.

    Der Tag verlief wie erwartet, wenig Neues in den Vorträgen, aber doch die deutliche Aufforderung der Verlagschefs, in den Regionen mehr Präsenz zu zeigen. Es wird sowohl inhaltlich als auch qualitativ mehr verlangt.

    „Stellen Sie sich bitte die Leser vor, die in unseren, besser in Ihren Zeitungen den Kontrast zur Oberflächlichkeit vieler anderer Blätter finden. Gut recherchierte Details, ansprechend durch Sie verpackt, das interessiert die Leute, das wollen sie haben. Das bekommen Sie aber nicht in der Redaktion am Schreibtisch. Da müssen Sie vor Ort sein. Sie müssen in Ihrer Region so bekannt sein wie die Landräte und Kommunalpolitiker. Sie müssen von den Menschen als ihr Zeitungsmann empfunden werden. Schaffen Sie das und Sie sind hautnah an allen Informationen. Sie sind DIE Zeitung vor Ort!", das waren die Worte des Regionalchefs.

    Diese Ansprache hatte Harry getroffen. Wie oft hatte er sich vorgenommen, mehr aufs Land zu gehen, mit den Leuten zu reden, bei Vereinen, Verbänden und Parteien an Zusammenkünften teilzunehmen und vieles mehr. Der Alltag hatte ihn dann oft gebremst. Häufig war ihm dies nicht einmal unangenehm, sein eigenes Phlegma bestens bedient. Damit wollte Harry jetzt Schluss machen. Es war ihm klar geworden: Seine Ambitionen ließen sich nur dann erfüllen, wenn es ihm gelang, die Aufmerksamkeit des Verlags in München auf sich zu ziehen. Dies konnte er aber nur durch herausragende Arbeit zuwege bringen.

    Der Streifzug am Abend durch die Stadt verlief weniger aufregend, als Harry sich das vorgestellt hatte. Da ein Bier, dort einen Happen zu essen. Harry verließ seine Kollegen und fuhr gegen Mitternacht zurück nach Rosenheim. In knapp einer Stunde würde er in sein Bett steigen. Gedanken kamen und gingen. Der Verkehr war angenehm ruhig. Nur wenige, die um diese Zeit in Richtung Süden unterwegs waren.

    Plötzlich durchschnitten in der Ferne zuckende Blaulichter die Dunkelheit. Ein Unfall? Harry nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen durch den Motor gebremst ausrollen. Von Standscheinwerfern grell beleuchtete Verkehrsschilder forderten auf, die Geschwindigkeit zu reduzieren bis schließlich nur noch vierzig erlaubt waren. Eine Verkehrskontrolle! Polizisten in fluoreszierenden Jacken und Mänteln winkten ankommende Fahrzeuge auf einen Parkplatz. Harry wurde nicht angehalten, verließ aber einem Impuls folgend ebenfalls die Autobahn.

    Unbehelligt lenkte er seinen Wagen auf eine markierte Parkfläche. Regional präsent sein, das war es, was er nachmittags gehört hatte. Ein paar Zeilen würde dieses nächtliche Ereignis sicher hergeben. Also stieg Harry aus, verschaffte sich einen ersten Überblick und machte sich daran, den verantwortlichen Leiter dieser Aktion zu finden. Er näherte sich einem der Kontrollposten und registrierte gerade noch rechtzeitig, dass er vor den Augen der Polizisten komfortabel durch einige Büsche und der sie umgebenden Finsternis geschützt war. Gleißende, mobile Scheinwerfer warfen ihr eigenwilliges, bizarres und kaltes Licht auf den Schauplatz und verstärkten durch ihr Blenden die Dunkelheit außerhalb der Lichtkegel. Spontan blieb Harry unerkannt im Dunklen und beobachtete eine Weile die Kontrollen. Er wollte sich schon abwenden, als er eine merkwürdige Beobachtung machte. Einer der Kontrollierten steckte einem der Polizisten aus dem geöffneten Fenster etwas zu und fuhr davon. Harrys Interesse war geweckt. Er musste sich durch das Buschwerk zwängen und näher an diesen Posten heranpirschen. Ein paar Kratzer auf Gesicht und Handrücken, in die Hocke gehen, abwarten.

    Er musste nicht lange in dieser doch unbequemen Stellung verharren, als sich der Vorgang wiederholte. Ein Polizist mit Kelle wies einen Fahrer genau auf seinen Posten ein. Das Fahrzeug hielt, das linke Fenster glitt nach unten. Bruchstückhaft hörte er den Polizisten auf der Fahrerseite von Verkehrs- und Alkoholkontrolle sprechen. Ein zweiter Polizist entfernte sich daraufhin merkwürdigerweise vom Fahrzeug und tat so, als suche er irgendetwas. Der Fahrer des Wagens erklärte, dass er ein paar Bier getrunken habe, was er sonst nie mache, wenn er mit dem Wagen unterwegs sei, und murmelte etwas von Betriebsfeier, Kollegen und wie wichtig der Führerschein für ihn wäre. Daraufhin sagte ihm der Polizist, er sehe ja, dass er nicht viel getrunken haben könne, sonst würde er das ja riechen. Er könne deshalb auf einen Alkoholtest verzichten. Der Fahrer müsse dafür allerdings eine Spende von 150 Euro zugunsten … Ring machen. Harry hatte den Schluss nicht richtig verstanden, zu viele Nebengeräusche. Anstandslos zog der Fahrer daraufhin ein paar Scheine aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Polizisten. Dieser gab ihm seine Papiere zurück und der Wagen fuhr ab.

    Harry glaubte zu träumen. War das soeben eine handfeste Bestechung gewesen, initiiert von der Polizei? Ein Einweiser, der eine Art Vorauswahl traf. Ein zweiter Polizist, der sich absichtlich entfernte, damit es keinen polizeilichen Zeugen gab und schließlich der kontrollierende Beamte. Einhundertundfünfzig Euro, das machte fünfzig für jeden. Gab es Probleme, wurde eine reguläre Kontrolle durchgeführt.

    Das war ja ein Ding. Schnell und möglichst geräuschlos kramte er in seiner Jacke nach der kleinen Digitalkamera, die er aus alter Gewohnheit stets mit sich führte. Harry wartete auf das nächste Auto, öffnete den Verschlussdeckel und hoffte, dass der dadurch ausgelöste piepsende Signalton im Geräusch des bremsenden Wagens untergegangen war. Mit einem raschen Klick auf das Display deaktivierte er noch den automatischen Blitz der Kamera und ging in Schussposition. Das leise Klicken des Auslösers drang sicher nicht bis zu dem Polizisten vor. Und Harry schoss eine Aufnahme nach der anderen, Dutzende.

    Jetzt noch mit Ton. Er verstaute kurz die Kamera, fingerte sein Handy hervor und versuchte die Aufnahmefunktion zu aktivieren. Nicht ganz einfach in seiner Lage. Zwei, dreimal entglitt ihm das Handy, aber schließlich klappte es.

    Die Kamera wieder herausgezogen, jetzt war er bereit. Die Aufnahme lief und er schoss unablässig weitere Bilder. Ob die Distanz für den Ton nicht zu groß war, würde er erst später feststellen können, aber die Fotos würden bei dieser Festbeleuchtung auf jeden Fall gut genug sein.

    Was war jetzt zu tun? Sollte er sich zu erkennen geben? Nein, beschloss Harry. Er versuchte noch ein Stück näher heranzukommen und machte es sich so bequem wie möglich. Die Polizeischeinwerfer tauchten das Geschehen weiterhin in schillerndes Licht und ließen Harry in seiner gegenwärtigen Position noch besser an den Details teilhaben.

    In einer seiner Taschen fand er ein kleines Notizheft und einen Kugelschreiber für ein paar Stichworte. Nach etwa einer guten Stunde hatte er nicht weniger als zwölf gleichartige Vorfälle registriert. Stets nach dem gleichen Muster und immer 150 Euro. Das war kein schlechter Nebenverdienst. Seine Ausbeute schien ihm nunmehr ausreichend.

    Er tastete nach dem Handy, das irgendwo vor ihm auf dem Boden lag, hoffte, der Akku hätte lange genug Saft geliefert und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Es gelang ihm noch unbemerkt zwei Kennzeichen beteiligter Polizeifahrzeuge zu knipsen, dann saß er wieder hinterm Steuer.

    Er überlegte kurz, startete und lenkte den Wagen zu dem vorher beobachteten Posten. Harry wollte sich die Gesichter der Beamten aus der Nähe einprägen. Er fuhr am Polizisten mit der Kelle vorbei, der verdutzt hinter ihm hersah und offensichtlich mit sich haderte, wie er reagieren sollte. Da war Harry auch schon bei den beiden Kontrolleuren. Er öffnete das Fenster. Wie schon vorher beobachtet, wandte sich einer der beiden Polizisten ab, der andere kam auf ihn zu. Harry wartete gespannt, was als Nächstes kommen würde.

    „Grüß Gott, Fahrzeugkontrolle, sprach ihn der Polizist durch das geöffnete Fenster an. „Fahrzeugschein und Führerschein bitte.

    Harry händigte die verlangten Dokumente aus.

    „Haben Sie etwas getrunken?" kam die erwartete Frage.

    Harry hatte über den Abend verteilt sicher nicht mehr als zwei Pils getrunken und das war jetzt schon Stunden her. Einen Alkoholtest brauchte er folglich nicht zu fürchten. Dennoch antwortete er ausweichend, wie er das vorher bei den anderen Fahrern beobachtet hatte.

    Der Polizist hob gerade zu einer Erklärung an, als er plötzlich stockte und um einen kleinen Moment Geduld bat. Der einweisende Kollege war dazu gestoßen und sagte etwas zu seinem Kollegen, was Harry aber nicht verstehen konnte. Der Polizist kam zurück ans Fenster.

    „Sie waren hier auf dem Parkplatz, was haben sie da gemacht?"

    Harry ließ sich nichts anmerken und antwortete, dass er lediglich eine Pause gemacht habe.

    „Und warum sind Sie dann hierher zur Verkehrskontrolle gefahren? Mein Kollege hatte Sie doch hierzu überhaupt nicht aufgefordert."

    Harry sah dem Polizisten ins Gesicht und sagte, er habe eigentlich auf die Autobahn fahren wollen, dabei aber die falsche Richtung eingeschlagen und so sei er eben hier bei der Kontrolle gelandet. Er habe das aber nicht sagen wollen, weil er meinte, die Beamten hätten sonst geglaubt, er wolle sich mit einer blöden Ausrede nur vor der Kontrolle drücken.

    „Ist gut, sagte der Polizist daraufhin, „Sie können jetzt weiterfahren und gab ihm seine Papiere zurück.

    Schade, dachte Harry, die passen auf.

    In seiner Wohnung angekommen, legte er sich sofort ins Bett. Ein bisschen viel war das schon gewesen, heute. Er fühlte sich wie zerschlagen. Kein Wunder, mittlerweile war es nach vier Uhr morgens. Harry fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.

    Äußerst unsanft riss ihn der Wecker um halb acht in die Wirklichkeit zurück. Ein paar Mal heiß und kalt geduscht und Harry fühlte, wie seine Lebensgeister allmählich wieder zurückkehrten. Er musste schleunigst in die Redaktion, wenn sein nächtliches Erlebnis am Montag in der Zeitung zu lesen sein sollte. Harry war entschlossen, eine Story zu schreiben, die einschlagen sollte wie eine Bombe. Das wünschte er sich jedenfalls. Harry war unschlüssig: Sollte er noch warten und nachts die Autobahnen abklappern, um vielleicht weitere Vorfälle einzufangen? Nein, er musste das Eisen jetzt schmieden, solange es heiß war.

    Der Morgenverkehr war für einen Samstag erträglich. Er schaffte es in wenigen Minuten, stürzte sich sofort auf seinen Laptop, einloggen und tippen. Er kramte nach seinen Notizen und konzentrierte sich auf den Text. Er musste dringend noch mit seinem Chef reden, ihn ins Bild setzen und davon überzeugen, dass seine Story der Aufmacher für Seite eins war: Polizei nimmt Autofahrer aus!, das war sein Titel. Korrupte Polizeibeamte haben in der Nacht zum Samstag auf der Autobahn München Salzburg hemmungslos ahnungslose Autofahrer abgezockt. In Windeseile lud er die Fotos auf den Computer, suchte eines aus, das die Situation gut abbildete, ohne die Gesichter der Beteiligten zu deutlich zu zeigen, klickte und schob es neben den Artikel. Fertig. Er griff zum Telefon und wählte den Privatanschluss seines Chefs.

    Die Anspannung fiel etwas ab und Harry verspürte Lust auf ein Frühstück. Ein paar Minuten später war er in der Fußgängerzone, steuerte das Café an, dessen Spezialität Brot mit Aufstrich ist, dazu einen Milchkaffee, erhaschte einen Platz im Freien und streckte wohlig die Beine von sich. Seinen Chef zu überzeugen war nicht besonders schwer gewesen. Als Harry ihm sagte, er habe Fotos und auch einige gut verwertbare Tonmitschnitte auf dem Handy, war er schnell einverstanden gewesen.

    „Endlich mal etwas anderes, als immer nur der gleiche Provinzkram", hatte er abschließend noch gesagt.

    Seite eins am Montag. Er war gespannt.

    Der Akku des Handys war leer gewesen. In der Redaktion gab es Gott sei Dank stets genügend Ersatz und so hatte er jetzt Zeit, die Mailbox abzuhören. Alles nur Belangloses. Einige Anrufe hatte er wohl gestern wegen des Lärms in irgendeiner Kneipe verpasst.

    Eine Nachricht überraschte ihn.

    „Hallo Herr Brenner, hier spricht Katharina Probst. Der Verstorbene aus Wildau war mein Vater. Wenn Sie wollen, rufen Sie mich zurück."

    Es folgte eine Mobilnummer. Er erinnerte sich natürlich an den Fall des Krämers, der Selbstmord begangen hatte. Es gab also eine Tochter und die wollte ihn sprechen. Gut, er würde versuchen, sie später zu erreichen. Jetzt war erst einmal wichtig, sich auf den Montag vorzubereiten. Einer seiner besten Freunde, besser ein väterlicher Freund, war ein bekannter Anwalt, der zwei Kanzleien betrieb, eine in München, die andere in Rosenheim. Er wohnte nicht weit entfernt und Harry wollte die Polizeigeschichte mit ihm besprechen.

    „Grüß dich Harry, wurde er ins Haus gebeten. „Wie geht’s und was gibt’s? Dr. Peter Gaumeiler war kein Freund unnötiger Worte und liebte es, immer sofort auf den Punkt zu kommen.

    Harry berichtete ihm ausführlich über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht und dass er darüber bereits einen Artikel verfasst hatte, der am Montag auf der Titelseite erscheinen würde.

    „So, so, da hast du ja richtig ins Wespennest gestochen! Und Wespen stechen zurück, wie du weißt, wenn sich einer in ihr Nest wagt. Also, was könnte nun auf dich zukommen? Juristisch gesehen nichts, da kann dir keiner an den Karren pinkeln. Du bist Journalist und kannst schreiben, was du willst, solange es halbwegs der Wahrheit entspricht. Da du sogar über Fakten verfügst, Fotos und Tonaufzeichnungen, wird und kann die Polizei nichts gegen dich unternehmen. Jedenfalls nicht direkt. Vielleicht machen die Herrschaften gar nichts oder sie versuchen, dich, sagen wir, irgendwie kaltzustellen. Sie könnten deine Fähigkeiten als Journalist infrage stellen, vielleicht auch deine Glaubwürdigkeit. Wenn deine Story für diese Leute nicht explosiv genug ist, wird sie schon nach ein paar Tagen eingeschlafen sein. Die beteiligten Beamten bekommen ein Disziplinarverfahren an den Hals, die schlimmsten Übeltäter werden gefeuert, die anderen versetzt und vielleicht auch im Dienstgrad herabgestuft. In den Zeitungen liest du höchstens noch ein paar Zeilen unter Vermischtes. Hat die Story aber Pep, das heißt, hast du jemandes Nerv getroffen, könnte die Reaktion auch eine andere sein. Dann fallen sie über dich her. Alle, einschließlich deiner Kollegen der anderen Zeitungen. Siehst du und dagegen werden wir etwas unternehmen, wenn du erlaubst, dass ich da ein wenig mitmische."

    „Ja, ich bitte darum, Peter, genau deshalb bin ich hier". Harry ahnte langsam, was auf ihn zukommen würde.

    „Dann pass mal auf", sagte Peter und begann einige Dinge zu erläutern.

    „Dein Boss in München muss informiert werden, das übernehme ich. Helmut Brandner und ich kennen uns schon seit einer Ewigkeit. Du sprichst noch einmal mit deinem Boss in Rosenheim. Und mein Sekretariat wird am Montag sofort die Halter der notierten Kennzeichen ermitteln und außerdem die für die Verkehrskontrolle verantwortliche Polizeidienststelle herausfinden. Deine Fotos der Einsatzfahrzeuge liefern hierfür den notwendigen Beweis, erklärte Peter. Sollte es einen Medienrummel geben, würde Peter Harry zur Seite stehen. Keine Auskünfte am Telefon. „Wenn jemand etwas wissen will, beendete Peter Gaumeiler seinen Vortrag, „dann soll er das schriftlich vorlegen und wir entscheiden, was du herausgibst. Alles klar?"

    „Ja, sagte Harry, „ich glaube schon.

    „Bleib gelassen, wir schaukeln das schon", verabschiedete Peter Gaumeiler Harry.

    Wieder in seiner Wohnung, warf Harry sich behaglich auf das alte Sofa auf der Terrasse. Das Beste an der Wohnung war zweifellos die Dachterrasse mit Blick über die Dächer der Häuser, den kleinen Park mit altem Baumbestand und dahinterliegende Felder. An schönen Tagen verbrachte Harry Stunden hier oben und schrieb seine Artikel.

    Er angelte sein Handy und wählte die Nummer des Regionalleiters. Für eine Weile blieb es ruhig am anderen Ende der Leitung. Dann kam, was kommen musste. Erst ein Schwall mit allerlei Bedenken: Hatten Sie wirklich alles bedacht, wie würde München reagieren und so weiter. Dann ein anerkennendes Lob, Harry sei auf dem richtigen Weg und er habe das Zeug dazu, einer der Großen zu werden. So ist das; viele Menschen machen erst ihrem Unmut Luft, um gleich darauf in grenzenlose Euphorie zu fallen, sobald sie die Realität begreifen. In dieser Phase waren sie dann auch fähig, Leistungen anzuerkennen und Lob auszusprechen. Harry versprach, seinen Boss über den Fortgang der Geschichte auf dem Laufenden zu halten, verschwieg aber, dass Rechtsanwalt Dr. Gaumeiler mit München Kontakt aufnahm. Sollte von dort jemand anrufen, würde er schon die passenden Worte finden.

    Harry war gerade ein wenig eingenickt, als ihm die Sache in Wildau durch den Kopf geisterte. Die Tochter des Toten hatte angerufen, und er wollte zurückrufen. Ein guter Journalist tut, was er sich vornimmt. Harry repetierte seine guten Vorsätze vom Freitag, griff zum Telefon und wählte die Nummer.

    Eine angenehme Stimme sagte „Katharina Probst", nichts sonst, Pause.

    „Äh …, ja, hier ist Harald Brenner von der Zeitung, Sie wollten mich sprechen."

    „Das stimmt, sagte Katharina. „Ich weiß nicht, einige merkwürdige Dinge haben sich mittlerweile ereignet, vielleicht interessieren Sie sich dafür?

    „Ja, durchaus, hörte Harry sich antworten und, „okay, ich komme nachmittags nach Wildau.

    Besonders aufregend war Harrys Leben bisher gerade nicht verlaufen, mal von Freitagnacht abgesehen. Sein Job rieb in nicht direkt auf. Er hatte stets viel Zeit, trieb Sport, spielte Tennis, ging joggen. Ein paar Freunde hatte er auch, eigentlich eher Bekannte, die man so traf, hin und wieder auf ein Bier. Gelegentlich lernte er auch mal eine Frau kennen, aber er war nicht der Typ für etwas Festes. Später vielleicht mal. Er brauchte seine Freiheit, fühlte sich als Familienmensch noch zu jung, war gerne auch alleine, las viel und liebte Klassik.

    Schon als Jugendlicher in der Schule hatte er mitbekommen, wie viele Familien auseinandergerissen wurden, weil die Eltern sich nicht mehr verstanden. In seinem Elternhaus war das, Gott sei’s gedankt, nicht der Fall gewesen. Seine Eltern verstanden sich ganz gut und waren für ihn da, wenn er sie brauchte. Für einen heranwachsenden Burschen hatte er viel Freiraum und durfte auch am Abend mal länger wegbleiben. Er sagte immer, wo er hinging. Lügen musste er dafür nicht. Seine Eltern waren schon älter gewesen, als er noch zur Welt kam. Sie hatten die Hoffnung schon aufgegeben, sagten sie immer. Dann war er da und vieles drehte sich nur um ihn, wie er später mitbekam. Zur Schule ging er in verschiedenen Städten, aber niemals auf dem Lande. Sein Vater war Beamter in einem Ministerium gewesen und wurde ein paar Mal versetzt. Da hieß es halt packen und umziehen. Die letzten Jahre, bis zu seiner Pensionierung, lebten sie dann doch noch beschaulich in einem kleinen Ort bei München. Das Abitur machte er in Freising, wo er auch ein paar Jahre lang das Gymnasium besuchte. Dann starb zuerst der Vater, und bald darauf auch die Mutter. Geschwister hatte er nicht, also war er jetzt auf sich alleine gestellt. Mit dem Studium war er zu diesem Zeitpunkt schon fertig gewesen. Ein fleißiger Student, der sein Examen in der vorgesehenen Regelzeit geschafft hatte und schließlich in Rosenheim bei der Regionalzeitung gelandet war.

    (5)

    Katharina war am Freitagvormittag gegen elf zu Mathias Nagel gegangen. Zahnarzt stand am Eingang des zweistöckigen Hauses. Wie die meisten Häuser im Ort unterstrich auch dieses Gebäude den ländlichen Charakter des Dorfes. Sie läutete und wurde von einer Sprechstundenhilfe sofort zu Dr. Nagel geführt. Sprechstunde hatte er um diese Zeit offensichtlich nicht, jedenfalls waren keine Patienten anwesend.

    „Nehmen Sie bitte Platz, Kaffee, Wasser?"

    Katharina verneinte und fragte, was der Zahnarzt von ihr wolle.

    Ich weiß gar nicht so recht, wo ich beginnen soll, aber ich meine, bevor verschiedene Dinge ohnehin ans Tageslicht kommen, will ich Ihnen ein paar Zusammenhänge lieber von mir aus erklären.

    Katharina schaute etwas verwundert und ermunterte Dr. Nagel mit einem Kopfnicken, zu beginnen.

    „Vor etwa zwei Jahren, begann Mathias Nagel mit seinen Ausführungen, „ich hatte gerade die Praxis hier übernommen, geriet ich in finanzielle Schwierigkeiten. Die Ablösesumme an den Vorgänger, die Neuausstattung der Praxis, das Haus hatte ich schließlich auch noch gekauft und so weiter, alles das brachte mich in arge Bedrängnis. Von den Banken war nichts mehr zu erwarten und alles, was ich selber hatte, war schon in die Finanzierung eingeflossen. Also, was tun? In dieser Situation kam eines Tages Ihr Vater und eröffnete mir, dass er von gewissen mich betreffenden Problemen gehört habe. Er sagte mir zwar nicht, von wem er diese Information hatte, aber ich konnte es mir ja denken. In einem Dorf wie Wildau bleibt nichts geheim. Ich nehme an, Ihr Vater war vom Direktor der Bank über meine Verhältnisse aufgeklärt worden. Die beiden waren Stammtischfreunde, ein exklusiver Zirkel, dem nur ausgewählte Leute angehören. Warum sollte ich es ableugnen, mir stand das Wasser bis zum Hals. Ihr Vater bot an, mir zu helfen, allerdings zu seinen Konditionen. Er gab mir genügend, damit ich richtig Fuß fassen konnte und noch etwas oben drauf. Jetzt war ich in der Lage, loszulegen und die Verbindung mit Ihrem Vater schien für viele Ansässige irgendwie auch ein Signal zu sein. Die Praxis war plötzlich immer gut besucht …

    „Ja, unterbrach Katharina kurz, „ich verstehe nicht, wo ist das Problem? Mein Vater hat Ihnen geholfen. Er wird seine Gründe dafür gehabt haben.

    „Die hat er gehabt, griff der Zahnarzt seine Geschichte wieder auf. „Ich musste einen horrenden Zinssatz akzeptieren, zwölfeinhalb Prozent und alle ihn betreffenden Zahnbehandlungen gratis. Soweit gut, denn, wie gesagt, die Praxis lief gut und ich konnte meine Schulden und die Zinsen nach und nach zurückzahlen. Vor ein paar Tagen nun kam Ihr Vater in die Praxis und sagte, er wolle mit mir darüber sprechen, wie es weiter gehen solle, wenn ich demnächst meine Schulden abbezahlt hätte. „Wie, was meinen Sie?, hatte ich ihn gefragt. Das ist ganz einfach, hatte er geantwortet, Sie zahlen an mich fortan siebeneinhalb Prozent Ihrer Einnahmen und ich sorge dafür, dass Ihre Patienten auch weiterhin zu Ihnen kommen. Ich war zunächst wie vor den Kopf gestoßen und brauchte eine Weile, bis ich begriff, was Ihr Vater mir da soeben offeriert hatte. Dann verstand ich, dass meine Existenz hier in Wildau vom Zuspruch Ihres Vaters abhing. Würde ich ablehnen, wäre es vorbei. Also nahm ich an. Vierteljährlich wollten wir die entsprechende Abrechnung vornehmen, damit mir genügend Zeit blieb, meinerseits das Geld von den Krankenkassen zu bekommen. Er wolle schließlich nicht, dass ich durch unsere Vereinbarung in Bedrängnis geriete. So, jetzt kennen Sie die Geschichte, fast jedenfalls. Bereits gestern und auch heute kamen telefonisch die ersten Absagen vereinbarter Behandlungstermine. Ist doch merkwürdig, zu Lebzeiten Ihres Vaters ist Derartiges so gut wie nie vorgekommen."

    Katharina glaubte zu träumen. Was hatte sie da soeben vernommen? Ihr Vater? Sie wusste im Moment nicht, was sie ad hoc antworten sollte. Schließlich sagte sie: „Herr Nagel, ich muss zugeben, was Sie mir da erzählt haben, ist recht verwirrend und ich muss das erst einmal verdauen. Ich kann Ihnen aber sagen, davon wusste ich nichts. Mein Vater hat mit mir nie über seine Geschäfte gesprochen. Lassen wir es erst einmal dabei. Bevor die letzte Rate fällig wird, ich weiß nicht einmal, wann das der Fall sein wird, machen Sie mir einen Vorschlag bei normaler Verzinsung und wir sprechen noch einmal darüber."

    Katharina verabschiedete sich einigermaßen konsterniert. Das passte doch alles nicht in das Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Sie brauchte mehr Informationen über die hiesigen Verhältnisse, das Umfeld ihres Vaters, mit wem er verkehrte. Was lag also näher, als im Haus des Vaters danach zu suchen.

    Katharina verspürte keinen Hunger. Nach Mittagessen stand ihr der Sinn jetzt nicht, sie hätte keinen Bissen hinunter gebracht. Erst ins Haus! Nur ein paar Schritte, den Schlüssel nehmen, aufsperren, suchen … suchen, nach was denn eigentlich? Ihr Vater, ein Ganove, ein unappetitlicher Kredithai? Nur widerwillig ließ sie solche Begriffe in ihre Gedanken eindringen. Sie konnte, mochte es nicht glauben. Ja, da war die Geschichte des Zahnarztes. Vielleicht gab es hierfür aber eine andere, eine plausible Erklärung. Sie musste mit jemandem darüber sprechen, eine andere Meinung hören. Was hatte der Pfarrer gesagt? Sie solle zu ihm kommen, wenn sie mit Freunden sprechen wolle und nicht wisse, wer diese Freunde wären. Was hatte das denn genau zu bedeuten? Sie hatte Freunde hier, wusste aber nicht, wer diese waren?

    Katharina hatte das Gefühl, als würde sich alles drehen, immer schneller und schneller, hin zur Mitte, die sie selbst war. Alles stürzte auf sie ein. Die Landschaft, das Dorf, der Himmel, das Universum. Sie konnte nicht mehr. Atmen, atmen, atme langsam, entspanne dich, gib den Takt vor, einatmen, ausatmen, einatmen … langsamer, langsamer, ruhig, konzentriere dich auf deinen Atem, nur auf deinen Atem.

    Irgendwie gelangte sie zur Post in ihr

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1