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Tanger Transit: Ein Fluchtversuch
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eBook594 Seiten8 Stunden

Tanger Transit: Ein Fluchtversuch

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Über dieses E-Book

Als Cotter am Strand von Tarifa einen ertrunkenen Marokkaner findet, lässt ihn das nicht mehr los. Er folgt den Spuren des jungen Mannes und gerät immer tiefer in das Schicksal der Flüchtlinge aus Afrika und ihres oft grausamen Endes im Mittelmeer.

In diesem Roman setzt sich der Afrikafreund Claus G. H. Mayer fundiert mit den Hintergründen der Bootsunglücke und des Flüchtlingsstroms aus Afrika auseinander. Einfühlsam und mit viel Herz zeigt er die Menschen hinter den nackten Zahlen aus Presse und TV. Und er spart nicht mit Kritik: Denn nur, wer versteht, was hinter dem Leid Afrikas steckt, kann helfen, es zu beenden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Juli 2023
ISBN9783347981768
Tanger Transit: Ein Fluchtversuch
Autor

Claus G. H. Mayer

Claus G. H. Mayer ist Theaterregisseur, Werbe- und Versicherungsfachmann. Über mehr als 20 Jahre hat er viele Reisen nach SW-Europa und NW-Afrika unternommen. Mit Geländewagen, Wohnwagen und Motorrad unterwegs, hat er Land und Leute hautnah kennen und schätzen gelernt. Bis der Wunsch in ihm entstand, mit diesem Buch auf die wahre Natur des „afrikanischen Problems“ hinzuweisen und zu dessen besserem Verständnis beizutragen.

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    Buchvorschau

    Tanger Transit - Claus G. H. Mayer

    01. Der Sturm …

    … hatte nicht nachgelassen.

    Durch das Rauschen des Windes in den Bäumen und das leise Schaukeln des Autos wurde Cotter sanft geweckt. Ihm war kalt.

    Fröstelnd verkroch er sich tief in seinen Schlafsack und zog sich die Kapuze weit über die Augen. Das Tageslicht war noch recht schwach, von der wärmenden Sonne war nichts zu sehen.

    Doch irgendwann schälte sich Cotter seiner Blase zuliebe doch aus dem Schlafsack und pinkelte an den Hinterreifen seines Toyota. Der Weg zur Toilette war ihm zu weit.

    Anschließend kroch er zitternd wieder in seine Höhle, nur um genau zu dem Zeitpunkt festzustellen, dass er nicht weiter würde schlafen können, als er endlich den Reißverschluss seines Schlafsacks zugefummelt hatte.

    So kroch er abermals aus seinem Auto, um sich dem kalten Levante entgegenzustemmen. Im März war der Wind wirklich ungemütlich. Von der Wärme, die die Andalusier ihm zuschrieben - er blies aus Süden, aus Afrika, war nichts zu spüren, es war einfach nur saukalt.

    Cotter suchte einen einigermaßen windgeschützten Platz für den Einflammenkocher auf der blauen, fünf Kilo schweren Gasflasche. Gas brauchte er eine Menge, auch wenn er sich nur morgens einen Kaffee zubereitete. Der Wind zerfetzte die Hitze unter dem Topf, sodass es sehr lange dauerte, bis das Wasser heiß genug wurde für einen Pulverkaffee mit Süßstoff und Milchpulver. Alles, was Cotter bei sich hatte, war auf das Notwendigste reduziert - und Süßstoff nahm weniger Platz ein als Zucker und Milchpulver weniger als Milch.

    Wegen des Windes musste Cotter mindestens einen Liter Wasser in den Topf geben, sonst würde er dem Wasser nachrennen müssen, also konnte sich auf eine lange Wartezeit für das Kaffeewasser einstellen und diese rauchend überbrücken.

    Nachdem Cotter das Wasser aufgesetzt hatte, holte er sich eine wärmende Jacke und seinen Hut aus dem Auto, um seine langen Haare zu bändigen, die in die Glut der Zigarette geweht wurden. Rauchend setzte er sich in einen feuchten Stuhl.

    Zum Schlafen trug Cotter immer eine sandfarbene „Freizeithose" mit Balkentaschen an den Oberschenkeln sowie ein T-Shirt. Und nun saß er also müde, fröstelnd und rauchend in Freizeithose, Hut, Winterjacke und marokkanischen Riemensandalen vor seinem Auto an einem leeren Klapptisch im stürmischen Wind, starrte über die Straße von Gibraltar nach Afrika, wartete auf sein Kaffeewasser und fühlte sich rundum zufrieden.

    Cotter liebte Camping.

    Der Campingplatz schmiegte sich in wunderschön angelegten Terrassen an den Berg am Meer, mit allem bewachsen, was in diesem Klima gedieh und schön war. Von den meisten Terrassen hatte man einen atemberaubenden Blick über die Meerenge von Gibraltar auf das Rif-Gebirge, Tanger und das westlich von Tanger gelegene Kap, den westlichsten Teil Afrikas, einen gewaltigen Felsen, der Land und Wasser zu begrenzen scheint. Wohl deshalb wurde dieser Punkt zusammen mit dem gegenüberliegenden Felsen von Gibraltar in der Antike auch für das westliche Ende der mediterranen Welt gehalten.

    Cotter war immer bestrebt, sich eine Terrasse auszusuchen, die ihm diesen Blick bot, allein der war schon eine Reise wert, sowie genügend Abgeschiedenheit gegenüber dem Rest des Campingplatzes ermöglichte. Mit den Bade- und Wohnmobiltouristen wollte er privat so wenig wie möglich zu tun haben. Und wenn er sie weder sah noch hörte, konnten sie ihn auch kaum stören.

    Eine so abgeschiedene Terrasse zu finden, war außerhalb der Sommersaison in der Regel kein Problem.

    Die jungen Camper mit ihren kleinen Iglu-Zelten besuchten diese Küste hauptsächlich zum Windsurfen. Schließlich war hier an einen Badeurlaub mit tagelangem Liegen am Strand wegen des starken Windes nicht zu denken. Und egal, wie eng es auch war: Zum Aufschlagen ihrer Zelte bevorzugten die Surfer oft das Gelände unmittelbar am Wasser. Jeder Meter, der sie von der Brandung trennte, schien ihnen ein Meter zu viel zu sein. Deshalb tummelten sie sich gern direkt am Strand, der wunderschöne Berg Gibraltars war den meisten von ihnen vermutlich nur von Weitem bekannt.

    Cotter selbst reagierte stets mit Befremden auf die Enge, die an der Wasserkante herrschte. Ein Zelt stand neben dem anderen, während der etwas weiter vom Wasser entfernt liegende Teil des Campingplatzes doch Ausbreitungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle bot.

    Und die älteren Touristen, meist im Rentenalter und mit Wohnwagen und Wohnmobilen unterwegs, wurden einfach durch die Topografie des Platzes ferngehalten. Denn für die großen Wohnmobile und Gespanne war der Anstieg auf den Berg meist zu steil und zu eng.

    Oft hatte Cotter schon schmunzelnd wahre Dramen beobachten können. Waren die Kurven an der steilen Straße zu eng, stellten die „Kampfrentner", wie er sie bei sich nannte, die unbedingt einen ganz bestimmten Platz erreichen wollten, dies oft erst fest, nachdem sich das Gespann oder der Wohnlaster hoffnungslos zwischen Mauern, Bäumen und dem Abhang verkeilt hatte. Dann waren lang anhaltendes Geschrei, aufheulende Motoren, kratzendes Metall und brechender Kunststoff die Folge. Besonders amüsant konnte der Vorgang werden, wenn das Fahrzeug drohte, sich selbständig zu machen, und, sobald der Gang herausgenommen wurde, langsam rückwärts rollte, was manche der autobahnverwöhnten Naturfreunde weit über ihre fahrerischen Kapazitäten hinaus forderte. Manchmal konnte ein solches Schauspiel auch stundenlange Unterhaltung bieten - also ein idealer Platz für Cotter.

    Ein Schwindelgefühl riss Cotter aus seinen Gedanken. Wahrscheinlich rührte es von den Zigaretten auf nüchternem Magen und der frühen Morgenstunde her, die keineswegs Gold im Munde hatte, sondern den Geschmack nach Fischfett und Knoblauch trug, den Resten des gestrigen Abendessens.

    Er sprang auf und ging zum Kocher, nur um sofort wieder umzudrehen. Er hatte seine Tasse vergessen, auch war diese noch gar nicht vorbereitet. Vier Löffel Instantkaffee, sechs Löffel Milchpulver und acht Tabletten Süßstoff - Cotter hatte einen Sinn für Ordnung und eine gewisse Symmetrie. Das Gebräu, das sich aus dieser Mischung durch Hinzufügen von mehr oder weniger warmem Wasser herstellen ließ, würde schon dafür sorgen, dass er seinen Kreislauf wieder in Schwung brachte.

    Die Gedanken an die Wohnmobilspezialisten erinnerten ihn an den Grund, warum er hier war.

    Cotter akquirierte auf den Campingplätzen an der Costa de la Luz Teilnehmer für seine geführten Touren durch Nordafrika, vor allem durch Marokko. Das Angebot richtete sich stets an Selbstfahrer, das konnten Wohnmobile, Wohnwagengespanne oder auch Gruppen von Geländewagenfahrern sein. Zusätzlich hatte Cotter noch eine Homepage erstellt, die er weltweit aus jedem Internetcafé abrufen konnte oder aber auch mit seinem eigenen kleinen Computer, sofern er ein Funknetz hatte und Strom. Da Cotter diese Reisen unternahm, um Geld zu verdienen, war er stets bemüht, kleine Gruppen zusammenzustellen, da sich ansonsten die Reiseorganisation nicht lohnte.

    Dieser Verdienst und noch einige Mieteinnahmen seines vermieteten Hauses ermöglichten Cotter ein recht sorgenfreies Leben - zwar am unteren Ende der Konsumskala, aber Cotters Lebensgefühl entsprach dieses Leben total.

    Cotter kleidete sich an. Der Kaffee hatte ihn doch zu nervös gemacht, als dass er sich wieder in sein Auto hätte legen können. Ein Spaziergang wäre bei diesem Wind sicher nicht schlecht, dachte er, während er sich seine engen Jeans zuknöpfte. Als er seine Füße in die von der Nacht noch klammen Stiefel quälte, beschloss er, sich heute vom Levante an den bei diesem Wetter und zu dieser Jahreszeit einsamen Stränden ordentlich durchblasen zu lassen. Cotter schien, dass der Wind mit aufsteigender Sonne zugenommen hatte.

    An solchen Tagen konnte man mit etwas Glück sogar Kif, das marokkanische Haschisch, am Strand finden, sofern man morgens früh genug unterwegs war.

    Stürmische Nächte waren das bevorzugte Wetter für Zigaretten- und Drogenschmuggler, Schleuser und Menschenhändler. Falls die in irgendwelche Schwierigkeiten gerieten, sei es ein technischer Defekt oder Seenot oder dass ihnen die spanische Küstenwache oder der Zoll zu nahe kamen, warf man die belastende illegale Fracht einfach über Bord. Bei Levante wurden sie dann an die Strände nordwestlich von Tarifa getrieben. Deshalb wurden die Strände jeden Morgen von der Guardia Civil abgefahren, um sie am späteren Vormittag makellos den Touristen überlassen zu können. Aber als Fußgänger konnte man an Stellen, die nicht mit den serienmäßigen Geländefahrzeugen der Guardia zu erreichen und auch nicht von den Patrouillenbooten einzusehen waren, schon so einiges finden.

    Nicht dass Cotter selbst das Zeug rauchen würde, die Zeiten waren längst vorbei, aber es gab immer jemanden, dem man mit einem kleinen Fund ein nettes Geschenk machen konnte. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

    Die nahe Strandkneipe war noch geschlossen, nur einer der Kellner war mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt. Laut ertönte „American Pie", die Originalfassung von Don McLean, nicht die kastrierte Pop-Version von Madonna.

    „Buenos dias."

    „Buenos dias, erwiderte der Kellner Cotters Gruß. „Levante, sagte er noch, um dann mit Blick gegen den Himmel, einem leisen Pfeifen und dem Schütteln des Handgelenkes anzudeuten, dass der Sturm diese Nacht sehr beachtlich gewesen sei. Das hatte Cotter aber bereits gewusst.

    „Hasta luego, beendete Cotter das kurze Intermezzo. „Bis bald.

    Cotter hatte die Ballade noch lange im Ohr, während er auf seinen für dieses Gelände nun wirklich ungeeigneten Cowboystiefeln mit den abgeschrägten Absätzen durch den Sand nach Norden stapfte und sich schon fragte, ob diese Grassucherei auch mit seinem Auto möglich wäre. Cotter war noch nie ein großer Wanderer gewesen.

    Geld würde Cotter mit dem gefundenen Kif natürlich nicht verdienen wollen oder können, dafür würde er schon ein paar Rentner mit ihren Wohnmobilen durch Nordafrika schleusen müssen, deren Neugierde wesentlich größer war als ihr Mut - was ihnen auch nicht zu verdenken war.

    Jenseits des Estrechos, der Meerenge, begann wirklich eine für Europäer fremdartige Welt, die einem, wenn auch unberechtigt, Furcht einflößen konnte, sofern man unvorbereitet und uninformiert den Fuß auf den afrikanischen Kontinent setzte.

    Und tatsächlich war es nicht ganz ungefährlich, sich in Afrika mit einem schweren Wohnmobil, das nicht für Gelände ausgerüstet war, zu verfahren. Schnell konnte man derart festsitzen, dass man das Fahrzeug aufgeben musste. Und selbst die besten Straßen und Pisten konnten sich ohne eine Wendemöglichkeit plötzlich im Nichts verlieren.

    Besser war es, einen orts- und sprachkundigen Führer dabeizuhaben, der über ein hochwertig ausgerüstetes Geländefahrzeug verfügte und ein deutsches Wohnzimmer aus jeder misslichen Lage befreien konnte. Cotters Geschäft.

    Den Kif an den Stränden suchte er einfach aus reiner Lust an der Freude. Falls er keinen finden sollte - was meistens der Fall war -, war ihm das wirklich egal. Ob er jetzt hier bei Tarifa Kif suchte, in der Wüste Meteoriten oder an den Felsen der Saharaberge Versteinerungen, der Vorgang war derselbe. Cotter hasste es, ohne einen Grund auch nur einen Schritt zu gehen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Ein Spaziergang aus Selbstzweck war ihm so fremd wie der Mond.

    Kunden fanden sich auf den Campingplätzen im südlichen Andalusien genug, vor allem im Winter. Dann wurde es den hier überwinternden Rentnern irgendwann langweilig, sodass sie sich eine geführte Tour gerne ein paar Euro extra kosten ließen.

    Für gewöhnlich brauchte Cotter auch gar nichts zu tun, um Kunden anzuwerben. Die reine Präsenz seines Autos, ausgestattet mit Winde, mehreren Ersatzreifen, Sandblechen, Ausrüstung zum Bergen und High-lift, so ganz sichtbar ein Wüstenkreuzer, reichte aus, um von Leuten angesprochen zu werden, die neugierig auf Afrika waren.

    Auch den Touristen Nordafrika dann schmackhaft zu machen, war Cotter noch nie schwergefallen, denn er liebte es. Und er hatte gelernt, diese Begeisterung im Gespräch zu übertragen. So fand sich immer wieder recht schnell eine kleine Gruppe bereit, sich Cotter anzuvertrauen.

    Zudem war es Cotter in den letzten Jahren gelungen, für seine Gruppen eine zufriedenstellende Infrastruktur in Afrika zusammenzustellen, erfahrene Karawanenführer, gut geführte Restaurants, Hotels und Campingplätze, Biologen, Theaterleute, Tanzpädagogen, Volkstanzgruppen, sodass seine zahlenden Gäste immer das Gefühl hatten, sie erlebten Marokko von seiner besten Seite - was stimmte, denn Cotter legte immer besonderen Wert darauf, seine Touren abseits der Touristenwege zu führen, und er arbeitete seine Angebote ausschließlich mit afrikanischen Geschäftsfreunden aus. Verdienen sollten schließlich sie, nicht irgendwelche anderen Anbieter.

    Nach einiger Zeit, die Sonne stand noch nicht allzu hoch am Himmel und es war auch noch recht frisch, erreichte er die kleinen Buchten zwischen dem Campingplatz und Puente Paloma. Diese waren von den Stränden, die von den Surfern in Beschlag genommen wurden, nicht weit weg und dennoch von der Straße nicht einsehbar. Entsprechend einsam lagen sie, wenn auch wunderschön.

    Heute hielt sich die Einsamkeit allerdings in Grenzen, offenbar lagerten am Strand der ersten Bucht Leute.

    Cotter war unschlüssig, ob er weitergehen sollte, denn für seine Suche konnte er keine bevölkerten Strände brauchen. Es konnten natürlich Illegale sein, die von einem Boot während der Nacht abgesetzt worden waren. Es konnte aber auch eine Gruppe junger Strandfreaks sein, die mit Wein, Weib und Gesang die Nacht am Strand genossen hatte. Wenn sie anscheinend auch sehr unbequem lagen, wie Cotter beim Näherkommen schien.

    Schlimmer noch: Einige der Personen - es handelte sich um eine Gruppe von fünf Leuten, die über den Strand verteilt war - lagen mit einem Teil des Körpers im Wasser. Da stimmte offenbar etwas nicht und Cotter ahnte auch schon, was das war.

    Er begann zu rennen und tastete im Laufen nach seinem Mobiltelefon. Nur zu Recht, denn die Personen rührten sich nicht, waren vielleicht sogar tot, zumindest soweit Cotter es dem Augenschein nach feststellen konnte. Nun begann er auch zu rufen, erhielt aber keinerlei Reaktion. Als er die Gruppe erreicht hatte, war es offensichtlich - so sahen keine lebenden Menschen aus. Durchnässt, die Glieder unnatürlich verrenkt und trotz des dunklen Teints blass - totenblass.

    Cotter wählte die Nummer der Rezeption des Campingplatzes, die er in seinem Telefon gespeichert hatte. Endlich meldete sich jemand. „Diga", sagte die Stimme.

    Cotter hatte keine Lust auf eine lange Einleitung und er verließ sich auf die Begabung des Rezeptionisten, auch das schlimmste Kauderwelsch zu verstehen - eine Grundvoraussetzung für den Beruf, sollte man meinen.

    „À la playa, un grupo de cinco personas - tot, muerto." Die Reaktion hielt sich in Grenzen und war äußerst verhalten. Sie bestand aus Schweigen.

    „Cinco personas a la playa, toto muerto, la direction a Cadiz, cinco ciento metro, comprendre, tot, they are dead, you understand …", brüllte Cotter, so gut er in diesem Sprachkauderwelsch konnte. Wie viele Menschen war Cotter in dieser Situation der Überzeugung, durch Lautstärke Verständnisschwierigkeiten kompensieren zu können - ein Irrtum, wie sich herausstellte.

    „Momento", sagte der junge Mann an der Rezeption und legte den Hörer auf die Seite.

    „Diga, ja, was ist los, ich spreche Deutsch", sagte eine andere Stimme, die einer Frau.

    „Eine Gruppe Menschen liegt tot am Strand, Richtung Cadiz, vom Campingplatz aus ungefähr 500 Meter, rufen Sie bitte die Guardia Civil."

    „Moros?", fragte die junge Frau, die mit einigen anderen aus der Familie seit Jahren den Platz leitete.

    „Ich denke, ja."

    „Warten Sie dort bitte, ich informiere die Polizei, Pedro kommt auch zu Ihnen."

    „Gut, gut", dachte Cotter. Pedro war einer der Angestellten des Platzes, der leidliches Deutsch sprach und möglicherweise würde übersetzen können. Cotter verließ sich jetzt lieber auf die Sprachkenntnisse von anderen als auf seine eigenen.

    „Danke", sagte er und war froh über den guten Mobilfunkempfang.

    Es handelte sich ausschließlich um junge Männer. Drei Schwarzafrikaner, die anderen dem Augenschein nach Nordafrikaner, Marokkaner, wie Cotter vermutete. Gekleidet waren sie, mit einer Ausnahme, im Prinzip alle gleich: dunkle, billige Trainingsanzüge, billige Markenimitationen aus Fernost, in Marokko überall für einen Apfel und ein Ei zu haben - und bei Dunkelheit kaum zu sehen -, sowie meist Riemensandalen oder pantoffelähnliche Latschen aus Leder oder aus Plastik, die gebräuchliche Fußbekleidung in Afrika.

    Warum lagen sie nur dort? War es ein Unfall?

    Cotter dachte an die Haschischpakete, die über Bord geworfen wurden, wenn Entdeckung drohte. Und an die vielen weggeworfenen Schuhe an den Stränden um Tarifa. Überall an den Stränden in der Gegend fand man billige Schuhe, von den Illegalen nach der Landung achtlos weggeworfen, denn in dem nassen Schuhwerk konnte kein Mensch gehen, ohne sich die Füße blutig zu scheuern. Eines war wahrscheinlich allen illegal über das Meer nach Spanien Einreisenden gemein: Sie hatten immer ein paar trockene Schuhe bei sich, die sie selbst bei Sturm und hohem Wellengang peinlichst trocken hielten.

    Der erste Eindruck, den Cotter von der Menschengruppe am Strand gewonnen hatte, dass es sich um am Strand lagernde Leute handle, wurde durch einzelne am Strand liegende Taschen unterstützt, meist große, rot-weiß gestreifte Plastiktaschen, aber auch andere Gepäckstücke.

    Von Weitem schien das Bild ruhig und friedlich, junge Leute nach einer am Strand verbrachten Nacht. Keiner der Toten hatte ein Gepäckstück am Körper. Mit einer Ausnahme.

    Der Junge lag auf dem Rücken. Bei näherem Hinsehen unterschied er sich wesentlich von den anderen. Selbst im Tod sah er sehr stolz aus, schön und unangreifbar. Auch war er sorgfältiger gekleidet als die anderen. Kein billiger Trainingsanzug aus China umschlotterte seinen Körper und hing formlos und nass an ihm, stattdessen schien seine Jeans sorgfältig ausgesucht. Seine recht langen schwarzen Haare umrahmten sein braungebranntes, hageres Gesicht, während er in den Himmel zu starren schien und mit einem Arm die Umhängetasche festhielt, deren Riemen ihm über die Schulter hing.

    „Süden, der kommt aus dem Süden, ein Tuareg oder ein Saharaberber, auf jeden Fall stammt er aus der Wüste", dachte Cotter.

    Er kannte viele solcher Jungs, malerisch aufgemacht mit weißen Turbanen und indigoblauen Dschellabas, die sich in der Sahara an den wenigen touristischen Punkten vor allem den weiblichen Touristen als Tuaregs präsentierten - unabhängig davon, ob sie es waren oder nicht. In der Regel waren sie es nicht, denn die Tuaregs lebten hauptsächlich in der Zentralsahara, in Mali, Niger, Algerien und dem Tschad. Doch die jungen Marokkaner wussten offensichtlich von dem romantischen Bild, das vor allem Europäerinnen von den Tuaregs hatten, spätestens seit der Roman „Tuareg" von Alberto Vázquez-Figueroa ein Bestseller geworden war und ein übertrieben romantisiertes Bild des Nomadenvolkes vermittelte.

    Aber Cotter mochte sie. Sie waren zwar manchmal aufdringlich, hatten sich aber wenigstens ihren Stolz und ihr Selbstbewusstsein bewahrt - ein wohltuender Kontrast zu den oft primitiven Schleppern in den Städten. Sicher, das Ziel war das gleiche. Sie wollten verkaufen und Touristinnen kennenlernen, aber die Art der falschen Tuaregs war ihm sympathischer. In der Regel akzeptierten sie auch ein „Nein", um dann in meist sehr gescheite und oft für beide Seiten lehrreiche Gespräche zu verfallen, die allen Beteiligten Spaß machen konnten. Keine Spur mehr von aggressivem Verkauf, die Fronten waren geklärt. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel.

    Bei dem Toten schien es sich um so einen Jungen zu handeln. Je länger Cotter über den Jungen nachdachte, desto wütender wurde er auf die Armut in Afrika, die von Touristen - auch solchen aus seinen Gruppen - auch noch als pittoresk empfunden wurde, auf die Regierungen Afrikas, auf die EU mit ihrer Abschottungspolitik, auf sich selbst, der auf seinen Reisen auch nur Nordafrika konsumierte und viel zu wenig gegen das Elend tat, und wütend auf den Jungen aus dem Süden. Der hätte doch bestimmt andere Möglichkeiten gehabt, dachte Cotter, während er sich verstohlen, obwohl doch alle in der Nähe tot waren, Tränen aus den Augen wischte.

    Cotter sah die Bilder vor sich, junge Männer, die auf Touristen warteten, da sie ansonsten nichts zu erwarten hatten; Barackensiedlungen, weit ab von den Touristenpfaden; den nackten Kampf ums Überleben großer Teile der Bevölkerung; die Arroganz der Touristen, ihr zur Schau gestellter Reichtum; den Bettler, der vor der Rolls-Royce-Filiale in Rabat verblutete, da ihm ein Beinstumpf aufgeplatzt war und sich niemand um ihn kümmerte; den Parkplatzwächter in Rissani, der mit seiner Familie in einem Zelt auf dem Parkplatz des Luxushotels lebte; den alten Mann, der in Fès jeden Morgen wieder kam, um eine einzige Sonnenbrille, auf einem einzigen, sorgfältig ausgebreiteten schwarzen Deckchen ausgestellt, zu verkaufen; den Wandel von Metropolen wie Fès zu einer reinen Inszenierung für die Touristen, denn das traditionelle Handwerk war im Sterben begriffen, da kein Mensch mehr einen handgetriebenen Kupferkessel kaufte, wenn es denselben Artikel aus fernöstlicher Massenproduktion für einen Bruchteil des Preises gab; die Schneider ohne Kunden, da die Bekleidung aus den Kleidersammlungen natürlich viel preiswerter auf den Märkten auftauchte.

    Cotter sah sie vor sich, die übervollen Busse, die Millionen von Menschen in die Städte spülten, einer nichtexistierenden Zukunft entgegen, da es den Menschen auf dem Land schlichtweg an Möglichkeiten fehlte, Geld zu verdienen. Cotter sah die Berge von europäischem Obst auf den Märkten, denn die EU sah in Afrika die Möglichkeit, die subventionierten Überproduktionsbestände landwirtschaftlicher Produkte für einen billigeren, weil subventionierten Preis loszuschlagen, als die reinen Vernichtungskosten betrugen.

    Cotter sah sie wieder vor sich, die Schwätzer und Lügner in den Vorstandsetagen und den Lobbys, im Fernsehen und in den Druckmedien, wie sie verlogen die Freiheit der globalisierten Märkte beschworen, obwohl sie genau wussten, dass die heimische Landwirtschaft ohne Subventionen und Schutzzölle auf dem Weltmarkt nicht würde überleben können. Dann lieber ganze Kontinente mit billiger, subventionierter Massenware überschwemmen, die dortige Landwirtschaft in den Tod treiben und deren Produkte durch Schutzzölle und Importverbote von den westlichen Märkten fernhalten.

    Cotter dachte an die Esel, die stoisch ihre Arbeit verrichteten, von Kleinbauern mit wenigen Utensilien beladen, während die vorbeirasenden Geländewagen der Touristen sie an den Rand der Straße drängten.

    Und Cotter sah die vielen jungen Männer in Tanger, die nichts taten, außer zu warten. Er sah, wie sich junge Männer auf der Strecke durch das Drâa-Tal nach Zagora todesmutig den Touristenautos in den Weg stellten, nur um ein Körbchen mit Datteln zu verkaufen. Er sah, wie sich die jungen Leute in einem kleinen Restaurant in El Ajoun Mühe gaben, den Eindruck von Sauberkeit und Qualität aufrechtzuerhalten. Mit dem Ergebnis, dass die Toilette geputzt wurde, bis sie fast glänzte, und einer der Köche auf den Markt fuhr, um die benötigten Zutaten für das Bestellte zu kaufen. Das Essen war hervorragend, die Toilette sauber und keine weiteren Gäste in Sicht. Mindestens fünf Beschäftigte für zwei Gäste - der Mensch und seine Arbeitskraft zählte nicht viel, dort im Süden.

    Sonst sah Cotter nichts mehr. Er weinte jetzt hemmungslos und nahm die Tasche des Jungen an sich.

    Es handelte sich um eine Umhängetasche aus fein bearbeitetem braunem Leder. Einmal hatte Cotter in Fès gesehen, wie dieses Leder bearbeitet wurde. Mit Keilen wurde eine feine Ornamentik in das feuchte Leder geprägt - für 20 Dirham am Tag, oft von Kindern, die nur die Hälfte eines Erwachsenen verdienten.

    Die Tasche war schon leidlich trocken; vom Sand befreit, würde sie so aussehen, als habe sie nichts mit den Leichen am Strand zu tun. Da es sich um eine flache Tasche handelte, konnte Cotter sie mühelos unter seiner Lederjacke verbergen, die er wegen des Windes noch über seiner Jeansjacke trug. Er beeilte sich damit, denn schon waren in der Ferne die Signale der Guardia Civil zu hören und bis Pedro mit der Polizei am Strand erscheinen würde, konnte es nicht mehr lange dauern.

    Als dann die Staatsmacht den Strand erreichte, waren die Polizisten Cotter gegenüber von ausgesuchter Höflichkeit. Pedro, der mit ihnen gekommen war, da sie eh an der Rezeption des Campingplatzes vorbeifahren mussten, machte seinen Job als Dolmetscher recht ordentlich und schien ihnen auf der Fahrt hierher schon einiges über Cotter erzählt zu haben. Stammgast seit 20 Jahren, zuverlässig, ehrlich und so weiter, halt das, was Polizisten in einem gefährlichen Grenzgebiet gerne hörten und was sie einem Beteiligten gegenüber positiv stimmen konnte.

    Es waren noch keine Mediziner dabei, also blieb es zunächst den Polizisten überlassen, den Tod der Afrikaner festzustellen, der ja nur zu offensichtlich war. Sie drehten die Leichen so weit, dass sie die Körper etwas näher in Augenschein nehmen konnten. Doch die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt und Cotter war überrascht, wie schwer es war, die störrischen Körper auf die Seite zu drehen. Aber die Polizisten konnten sich damit Zeit lassen, liegen bleiben taten sie schließlich alle.

    Nachdem die Mediziner, hilflose Sanitäter und geschäftig erscheinende Ärzte, die Spurensicherung und die Fotografen von Polizei und Presse eingetroffen waren, Cotter den Polizisten mit Hilfe von Pedro ihre Fragen beantwortet hatte und der Platz dann endlich abgesichert worden war, konnte Cotter mit Pedro auf den Campingplatz zurückkehren, nicht ohne den Polizisten noch seine Aufenthaltsdauer und Adresse auf dem Platz mitgeteilt zu haben.

    Es schien, als sei der Fund der Leichen für die Polizisten und die Presse eine lästige Routine. Cotter erinnerte sich daran, von hunderten von Leichen gelesen zu haben, die alljährlich an den Stränden um Tarifa und Algeciras gefunden wurden. Mit steigender Tendenz. Und Leichen waren schlecht für den Tourismus.

    Den Polizisten, der ihm die Fragen gestellt hatte, ein alter, lauter Haudegen, der wahrscheinlich schon unter Franco Dienst geschoben hatte, kannte er vom Sehen aus der Strandbar. Dort machten oft Polizisten Pause, um sich einen Cognac, einen Carracillio oder einen Tinto einzuverleiben.

    „Gut, dachte Cotter, „dort hol ich mir später noch Informationen.

    Auf dem Fußmarsch zurück erklärte Pedro ihm, dass Leichen am Strand oft vorkämen, dass ihm die Moros leidtäten, aber dass man nichts machen könne, so sei das Leben. Cotter schwieg.

    Pedro erzählte nichts von Drogen, nichts von den Schleuser- und Schmugglerbanden aus Tanger, Algeciras, Tarifa, Linares und Barbate, nichts von dem „geduldeten" Zigarettenschmuggel, nichts von den vielen Schnellbooten, die man in stürmischen Nächten nicht sehen konnte, und nichts von den Polizisten, die entweder überfordert und überlastet oder blind und reich waren.

    Er erzählte nichts davon, dass der Schmuggel von allerlei Gütern und auch der Menschenschmuggel eine florierende Einnahmequelle für die Gemeinden an den Gewässern rund um Gibraltar darstellte.

    Und er erzählte nichts von den Landbesitzern weiter oben im Norden, in der Gegend von Murcia, Alicante und Cartagena, die ohne die illegalen Moros als billige Arbeitskräfte gar nicht existieren konnten.

    Er erklärte Cotter nicht den Zusammenhang zwischen der Illegalität der Moros und dem Lohn, den sie erhielten. Er betonte nicht, dass es wichtig war, die Illegalität aufrechtzuerhalten und die Moros ins Land zu schmuggeln. Denn diese Illegalität machte die Moros zu schlechten Verhandlern bei ihren Lohnabschlüssen. Mit Papieren hätten sie bessere Karten, könnten eine Gewerkschaft gründen, hätten einen offiziellen Status.

    Pedro erzählte nichts von all den Russen, die sich auf beiden Seiten des Mittelmeeres festsetzten und den Schmuggel von allen möglichen Drogen organisierten. Das war längst keine spanisch-marokkanische Kooperation mehr.

    Und er erzählte nichts davon, dass sich die Illegalen als Bomben verkaufen mussten und gezwungen waren, in Kondome verpackte Drogen zu schlucken und in ihren Körpern durch den Zoll zu transportieren, um die Schleuser bezahlen zu können - ein funktionierender Wirtschaftskreislauf.

    Und Cotter erzählte Pedro nicht, dass er wusste, was mit Schmuggelware aller Art passierte, falls den Booten trotz Schmiergeld und schlechtem Wetter die Entdeckung drohte.

    02. Die Terrasse …

    … mit Cotters Utensilien lag friedlich und unberührt in der milden Sonne des frühen Nachmittags. Endlich wieder dort angekommen, setzte sich Cotter. Er rauchte eine Zigarette. Die Tasche des jungen Marokkaners legte er vor sich auf den Tisch und starrte sie an, unfähig, sie zu öffnen. Die sachliche Pietätlosigkeit der Spanier, der Guardisten und auch der Mediziner gegenüber den toten „Moros" tat weh. Er hatte das Gefühl, durch das Öffnen der Tasche dem Saharajungen zu nahe zu treten.

    Nachdem er mit Pedro an der Rezeption angekommen war, versuchte Cotter, den Fragen der Campingplatzbetreiber und vor allem der anderen Touristen auszuweichen. Nachrichten verbreiten sich schnell, vor allem schlechte. Die Spanier fragten sachlich, Cotter hatte das Gefühl, das Vorkommnis war ihnen lästig, aber keine Sensation. Ganz anders die Deutschen. Ihre zur Schau gestellte Betroffenheit tat weh.

    „Gleich gehen sie an den Strand und machen Fotos für ihre Lieben zuhause", dachte Cotter, während er sensationslüsterne, bedeutungslose Fragen belanglos und knapp beantwortete.

    Er dachte an die Staus bei Unfällen, zu denen es lediglich aufgrund der Gaffer kam. Er hatte selbst schon beobachten müssen, wie bei einem Unfall Kinder auf die Schultern gehoben wurden, um besser sehen zu können, und Autofahrer anhielten, auf das Autodach stiegen und Fotos schossen. Dabei hatte es sich um einen Unfall mit mehreren Toten gehandelt, bei dem ein Auto bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden war - ein wahrhaft malerisches Bild.

    Natürlich waren das nicht dieselben Leute wie hier, Cotters potenzielle Kunden, doch sie verhielten sich genauso. Betroffenheit heuchelnd, fieberten und zitterten sie vor neugieriger Erregung - jetzt nur nichts verpassen, das hier gab dem Urlaub noch einen echten Kick.

    Cotter schluckte seine Verärgerung hinunter - schlecht für seinen Magen, beendete das unerfreuliche Interview so schnell wie möglich und beeilte sich, endlich bei seinem Auto zur Ruhe zu kommen - gut für seine Nerven.

    Der Wind hatte nachgelassen, der Himmel verdüsterte sich zusehends und das Meer lag wie ein schwarzes Bleiband ruhig zwischen Europa und Afrika. So wie er an seinem Tisch saß, sah er die Tasche genau zwischen den beiden Kontinenten. Irgendwann würde er sie untersuchen müssen, also machte er es lieber gleich.

    Es handelte sich um eine flache, braune Umhängetasche aus Leder. Auf den Seitenflächen und dem Überhang, der die Tasche verschloss, wenn er einfach von hinten nach vorn umgeklappt wurde, waren geometrische Verzierungen eingeprägt, Zick-zack-Muster und verschieden starke Linien. Auf den Souks in den Medinas der marokkanischen Städte wurden diese Taschen an Touristen als Kamelledertaschen teuer verkauft, aber aus Kamelleder waren sie meistens nicht.

    Die Brieftasche, die Cotter in der Tasche fand, war aus demselben Material, Ziegenleder, nahm er an, und in Deutschland für wenige Euro in jedem Kaufhaus zu haben - Handarbeit, Kinderhandarbeit.

    Cotter hatte Manufakturen, in denen solche billigen Lederartikel wie die Brieftasche hergestellt wurden, in Fès besucht - fensterlose Kellerräume mit nur einer Tür und buchstäblich bis auf den letzten Zentimeter gefüllt. In solchen Räumen, kaum größer als eine Garage, arbeiteten nicht selten mehr als zehn Arbeiter jeden Alters.

    Mit Knochenkeilen wurden die Verzierungen und die Muster von Hand in das nasse Leder geprägt, sodass sie dauerhaft erhalten blieben, sobald das Leder getrocknet war. Dann wurden die einzelnen Teile mit einfachem Knochenleim zusammengeklebt, der unter Verbreitung eines recht heftigen Gestanks in dem gleichen Raum gekocht wurde, in dem sich Kinder und junge Erwachsene an dem nassen Leder die Hände wundrieben.

    Eine große Flasche Coca-Cola, die Cotter mitbrachte, wurde als Luxusgeschenk empfunden, der Tagesverdienst der Kinder betrug etwa 10 Dirham, der Lohn Erwachsener für die gleiche Arbeit betrug dagegen 20 Dirham. Kinderarbeit lohnte sich.

    Weiter enthielt die Tasche ein wasserdicht in Plastikfolie eingeschlagenes Päckchen, eine Creme, eine angebrochene Packung Casa Sport - marokkanische Zigaretten -, ein Einwegfeuerzeug und ein Mobiltelefon. Letzteres war zwar ebenfalls in Plastikfolie eingeschlagen und steckte zusätzlich in einer Bereitschaftstasche, um sie am Gürtel zu befestigen, aber der Schaden, den es durch das Wasser genommen hatte, war anscheinend nicht mehr zu beheben. Auch die Zigaretten und das Feuerzeug waren unbrauchbar.

    Cotter sah die Gegenstände auf dem Tisch und fühlte sich nicht besonders gut. Aber er war neugierig geworden.

    In der Brieftasche waren einige Visitenkarten mit arabischen Schriftzeichen, mit denen Cotter nichts anfangen konnte, und Geld.

    3. Euro in abgegriffenen Scheinen zu 10, 20 und 50 Euro, wie Cotter beim Zählen feststellte. Das Geld kam also nicht von der Bank und es war eine ganze Menge Geld, für marokkanische Verhältnisse ganz besonders.

    Das Päckchen enthielt einen silbernen Armreif, eine hochwertige Schmiedearbeit mit eingelegten Bernsteinen - Tuaregschmuck, aber wesentlich schwerer und sorgfältiger gearbeitet als die vergleichbaren Stücke, die Cotter in Afrika angeboten wurden und die man ebenfalls in den Souks fand. Das Päckchen selbst bestand aus einem bunten Stoff, einer Art Brokat mit vielen eingewobenen metallischen Fäden; zusammengehalten wurde es von einer sorgfältig gebundenen schwarzen Kordel. Ein Papier hätte das Wasser trotz Plastikfolie schwerlich überlebt.

    Offensichtlich handelte es sich um ein Geschenk und so sorgfältig, wie es der namenlose Junge verpackt hatte, um ein sehr wertvolles - in zweierlei Hinsicht, materiell und ideell. Der junge Mann war in Europa mit jemandem verabredet oder wollte jemanden besuchen. Wartete jemand auf ihn? Wahrscheinlich eine Frau. So gerne Cotter selbst diesen Schmuck mochte, so hatte er doch noch nie einen Mann in Marokko mit silbernem Armschmuck dieser Art gesehen. Nein, es musste sich um eine Frau handeln. Eine Verwandte, eine Geliebte, eine Freundin? Und wo wurde er erwartet? Wo in Europa?

    Cotter betrachtete das Telefon. Nur dieses Gerät konnte ihm vielleicht seine Fragen beantworten, Papiere konnte er in der Tasche nicht finden. Entweder hatte der Ertrunkene seine Dokumente am Körper getragen oder er hatte gar keine. Wahrscheinlich Letzteres.

    Der Junge wollte nicht nur für ein paar Wochen nach Spanien, um bei Murcia Gemüse zu ernten oder bei Alicante Orangen zu pflücken. Das Geld erzählte eine andere Geschichte, die fehlenden Papiere wahrscheinlich ebenfalls. Falls der arme Kerl sie nicht am Körper bei sich getragen hatte, dann hatte er sie irgendwo entsorgt oder deponiert, wahrscheinlich ins Meer geworfen.

    Schließlich konnte man, wenn man als Illegaler irgendwo in einem Land der EU einen Asylantrag stellte, nicht ohne Weiteres abgeschoben werden, wenn weder ein „sicheres" Drittland feststellbar war, durch das man nach Europa gereist war, noch das Herkunftsland. Wohin also den Delinquenten bloß abschieben - diese Antwort fiel und fällt den Ausländerbehörden in Europa schwer, wenn der Asylant keine Papiere bei sich trägt und standhaft jede Auskunft über seine Herkunft verweigert.

    Und 3.000 Euro waren in Marokko, trotz zumindest an der Atlantikküste zunehmender Industrialisierung, eine Menge Geld - 30.000 Dirham. Bei einem Monatsverdienst von 2.000 Dirham, und das war ein guter Lohn, entsprach dieser Betrag etwa dem Jahresverdienst eines gelernten Arbeiters oder eines Lehrers. Für einen so jungen Mann im Süden Marokkos war es nahezu unmöglich, dieses Geld allein aufzubringen. Er musste von der Familie unterstützt worden sein. Unterstützt, um was zu tun?

    Zu studieren? Zu arbeiten? Zu heiraten? Auf jeden Fall musste es sich um einen sehr vertrauenswürdigen jungen Mann gehandelt haben, denn die Familie hatte für das Geld mit Sicherheit eine Gegenleistung verlangt, in welcher Form auch immer.

    Andererseits handelte es sich bei diesen Gedanken um reine Spekulation ohne allzu viele Anhaltspunkte; die Geschichte konnte auch ganz anders lauten, darüber war sich Cotter im Klaren.

    Vielleicht konnte das Telefon etwas Aufschluss geben. Aber es war definitiv defekt, im Display stand Wasser. Als Cotter die Tastatur betätigte, reagierte es nicht. Doch vielleicht war die Karte noch zu retten. Als Cotter den Batteriedeckel entfernte, sah er, dass das Batteriefach leidlich trocken geblieben war. Und so auch die Chipkarte. Zumindest schien ihr das Wasser rein äußerlich nicht geschadet zu haben. Da es sich bei dem Telefon um ein älteres Modell handelte, das Cotter kannte, wusste er, dass der Speicherplatz des Gerätes relativ gering war. Also war die Hoffnung berechtigt, dass die Nummern und weitere Daten vielleicht auf der separaten Chipkarte gespeichert waren.

    Vorsichtig entfernte Cotter diese Karte und legte sie in sein Zweitgerät ein, das er immer als Ersatzgerät auf Reisen mit sich führte. Danach wurde er durch eine Grafik aufgefordert, die PIN einzugeben. Schnell schaltete Cotter das Gerät wieder aus und verstaute die Karte sorgfältig in seiner Brieftasche. Sie schien in Ordnung zu sein. Mor Iam, das marokkanische Telefonnetz, war Roaming-Partner von T-Mobile, deshalb nahm Cotter an, dass das Prozedere bei der Anmeldung und die Funktion der Karte dem des deutschen Netzes entsprachen. Und eine PIN-Nummer konnte man mit entsprechendem Equipment in Erfahrung bringen - zumindest hatte er das gehört.

    Cotter verstaute das Geld, die Visitenkarten aus der Brieftasche des Marokkaners - mittlerweile war sich Cotter sicher, dass es sich bei dem Toten um einen solchen handeln musste - und das Armband im Auto, in der Kiste für die Ersatzteile, direkt hinter dem Beifahrersitz.

    Dann ging er zu seiner „Informationsbörse".

    Die Bar war recht voll, denn der Himmel hatte sich weiter zugezogen und kein Wind war mehr zu spüren.

    Keine Sonne und kein Wind, das war in dieser Gegend für Touristen die Katastrophenwetterlage, ein Supergau. Die Rentner lechzten nach Sonne, die Surfer nach Wind und trotz unversöhnlicher Gegensätze saßen beide Gruppen heute in der Bar, die einen über einem Kaffee, die anderen bevorzugten eher etwas Alkoholisches, wobei diese Grenze gruppenübergreifend verlief.

    Für die Gastronomen dagegen bedeutete dieses Wetter Umsatz, denn was wollten all die Touristen dann anderes machen, als in eine Kneipe zu gehen und bei Kaffee, Bier oder Tinto auf besseres Wetter zu warten? Kein Wind - kein Fun, keine Sonne - keine Bräunung für den Body und kein Neid der Daheimgebliebenen, was für ein Elend.

    Nachdem Cotter dem Kellner vom Morgen zugewunken hatte, nahm er auf einem Eckhocker an der Bar Platz. Noch bevor er sein Tonic bestellen konnte, wurde er von hinten angesprochen.

    „Wie geht's?" Es war Pedro.

    „Mir ging‘s schon besser." Cotter bekam sein Tonic, seit Jahren trank er immer das Gleiche. Er bedankte sich bei dem Kellner, der abwartend bei ihm und Pedro stehen geblieben war.

    „Weiß man schon was Neues?", fragte Cotter Pedro, der mit dem Kellner einige Sätze auf Spanisch wechselte.

    „Ja, sagte dieser, „die Polizisten waren heute Mittag hier.

    „Willst du etwas trinken?", fragte Cotter ihn und deutete auf den Kellner.

    „Nein, später, ich bin im Dienst." Pedro zeige Cotter sein Funkgerät. Mit diesen Geräten hielten die Mitarbeiter des Platzes miteinander Kontakt. Es schien ihn sehr viel Kraft zu kosten weiterzusprechen. Pedros Stimme klang sehr leise, in der Bar war er kaum zu verstehen.

    „Sie hatten keine Drogen dabei, weder in den Taschen noch in den Bäuchen. Wahrscheinlich wurden sie über Bord geworfen, die Polizei hatte mit einem Transport gerechnet und in der Nacht das Meer sehr genau beobachtet. Möglicherweise wurde das Boot entdeckt oder zumindest waren die Schmuggler dieser Ansicht. Dann wird die Fracht über Bord geworfen, um mit einem leichteren Boot der Polizei zu entkommen."

    Pedro schüttelte den Kopf, als könne er diese Grausamkeit nicht fassen. „Das Meer ist kalt im März, bei Levante besonders. Sie hatten keine Chance." Cotter erwartete keine Antwort.

    „Schlimm, aber es kommt noch schlimmer. Ein Stück weiter nördlich wurden die Leichen von einem Kind und zwei Frauen gefunden, eine von ihnen soll schwanger gewesen sein. Die Polizisten haben die Leichen gesehen. Die Hände der Frauen waren völlig zerschlagen und zerschnitten. Sie meinen, die Frauen müssen sich an dem Boot festgehalten haben, an der Bordwand oder einem Tau, bevor man ihnen die Hände brach. Sie haben um ihr Leben gekämpft", sagte er noch, bevor er nickend nach draußen ging.

    Cotter hatte von Afrikanerinnen gehört, die hochschwanger die Überfahrt wagten, um dann einem kleinen Senhor oder einer Senhorita das Leben zu schenken. Kinder, die in Spanien geboren werden, haben in jedem Fall die spanische Staatsbürgerschaft, sind Europäer. Die Mutter eines Spaniers wird nicht ausgewiesen.

    „Muchas vento en noche", sagte der Kellner achselzuckend, bevor er einem weiteren Gast ein Bier zapfte.

    „Das muss ja ein schöner Schreck gewesen sein, heute Morgen."

    Cotter drehte sich freudig überrascht um. Es war Karl, ein Deutscher, der in der Gegend von Tarifa lebte. Ein bärtiger Hüne mit tiefer Stimme und ordentlichem Bauch. Man traf ihn oft in der Bar, sie war ja auch die schönste in weitem Umkreis, weiß getüncht, dunkle Holzbalken mit einer Terrasse über dem Meer und das Dach schilfgedeckt. Cotter freute sich immer, Karl zu sehen.

    „Una cerveza y un tinto, bestellte Karl. Zu Cotter gewandt, erklärte er: „Der Tinto ist für Fritz, die kommt auch gleich.

    Karl und Fritz, das war eine Institution. Fritz war seine Freundin und hieß eigentlich Franziska. Aber Karl weigerte sich beharrlich, sie Franzi oder auch Fritzi zu nennen, von Franziska ganz zu schweigen.

    „Schumi reicht und ab Steffi beginnt das Grauen, brummte er in seinen Bart, wenn er auf Fritz angesprochen wurde. „Was für ein Schwachsinn, als hätte die deutsche Sprache keinen anderen Buchstaben außer dem ‚I‘, mit dem man einen (Spitz-)Namen bilden kann.

    Aber Cotter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Fritz war eine durch und durch warmherzige, rundliche, kleine Frau, die man mit diesem Namen nie in Verbindung gebracht hätte.

    „Hallo erst mal", begrüßte ihn Cotter, nachdem er an seinem Tonic genippt hatte.

    Karl nahm seine Getränke in Empfang. „Hallo, man hat mir an der Rezeption von dem Mist erzählt. Das kommt immer öfter vor, allerdings bisher nicht so weit nördlich von Tarifa. Die Toten werden hauptsächlich in den Klippen zwischen Tarifa und Algeciras gefunden."

    „Warum das?", fragte Cotter.

    Mit Bierschaum im Bart erklärte Karl: „Weil es in den Klippen leichter ist, unbemerkt anzulanden, als an den weiten Stränden auf dieser Seite von Tarifa. Die von heute Nacht müssen die Orientierung verloren haben oder sie sind bereits weit draußen auf dem Meer von Bord gegangen und wurden von der Strömung nach Nordosten getrieben. Wir hatten starken Levante und der kommt aus Südwest. Uno mas." Karl winkte dem Kellner.

    „Leuchtet ein." Cotter hatte gar nicht bemerkt, dass Karls Bier schon leer war. Wann hatte der Kerl getrunken?

    „Pedro hat erzählt, die Guardia Civil vermute, die Toten seien ins Meer geschmissen worden, als sich die Schleuser entdeckt fühlten."

    „Gracias. Karl trank das Bier in einem Zug halb leer. „Freiwillig sind sie mit Sicherheit nicht ins Wasser gesprungen.

    „Hm, wie auch immer, das sollte nicht passieren. Dass die Schweine die Immigranten eher über Bord werfen, als eine Entdeckung zu riskieren, ist schon der Gipfel der Kaltherzigkeit. Was für Drecksäcke!"

    „Man redet davon." Karl trank sein Glas leer.

    Cotter verstand. Das Thema wurde weitgehendst totgeschwiegen, frei nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Jeder wusste Bescheid, kaum einer redete darüber. Leichen waren schlecht für das Geschäft. Aber Cotter wusste auch, dass es immer mehr Spanier gab, die sich für die Illegalen einsetzten. Cotter fühlte, wie die Telefonkarte des Jungen auf seiner Haut brannte.

    „Hallo, was machst denn du für Sachen?" Fritz war eingetroffen. Cotters Fund war offensichtlich Tagesgespräch. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Lärmpegel in der Bar heute wesentlich niedriger war als sonst. Die Gäste unterhielten sich gedämpft in kleinen Gruppen.

    „Sammelst du wieder Rentner oder machst du hier Urlaub?"

    Cotter hustete und Fritz schlug ihm beruhigend auf den Rücken. Sie nahm Cotters Geschäft mit den geführten Reisen nicht richtig ernst. Eine Rentnergruppe durch die Wüste zu führen, war ja auch reichlich bescheuert - aber für einen Bürojob hatte sich Cotter noch nie begeistern können. Wobei es bei Weitem nicht nur Rentner waren, die Cotter durch Marokko führte. Im Gegenteil, Cotter war froh, ein gemischtes Publikum zu haben, Hauptsache, sie interessierten sich für die Wüste und wollten nicht nur „rallyelike" hirnlos durch die herrliche Landschaft rasen.

    „Ne, ich sammle keine Rentner, aber ich glaub, ich fahr morgen nach Süden. Ich möchte herausfinden, wer einer der Toten war, die ich am Strand fand. Der kam weit aus dem Süden. Ein weiter Weg, um in Tarifa zu sterben."

    Cotter spielte schon den ganzen Nachmittag, seit er die Tasche durchsucht hatte, mit dem Gedanken, nach Marokko zu fahren, um herauszufinden, wer der Junge gewesen war. Außerdem hatten seine Familie oder seine Freunde ein Anrecht auf das Geld. Jetzt stand sein Entschluss fest.

    „Ich fahre morgen rüber, ich möchte wissen, wer einer der Toten war."

    „Mach aber keinen Scheiß. Egal, wer dafür verantwortlich ist, die sind extrem gefährlich. Für die hat ein Leben gar keinen Wert, nicht den geringsten, außer dem eigenen wahrscheinlich."

    Cotter wusste, dass Fritz recht hatte. Er würde vorsichtig so weit nachforschen, wie es ging. Vielleicht noch etwas weiter - Cotter kannte sich und er wollte immer wissen, was hinter dem Berg war.

    Er dachte an das Armband

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