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Irritation
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eBook284 Seiten3 Stunden

Irritation

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Über dieses E-Book

Der Erzähler befindet sich mit dem Motorrad auf einer merkwürdig irrealen Fahrt durch Griechenland. Sein Begleiter Mike verschwindet. Aber es finden sich andere Menschen ein, die ihre eigenen Wege verfolgen, entlang einer Spur, die sie zu den Fragen nach dem Selbst leitet. Manche dieser Weggefährten erweisen sich als Illusionen, Irritationen aus der Phantasie, aus einem imaginären Spiegel, der hinab leuchtet in die eigenen Abgründe. Andere begleiten ihn, werden selbst zu Marksteinen entlang der Straße der Sehnsucht. Möglichkeiten tun sich auf, die das Spektrum von Irrsinn bis Freundschaft und Liebe erforschen und der Erzähler verliert sich im verzweigten Netz der eigenen Geschichte. Die prägenden Erinnerungen an einen alten Philosophieprofessor seiner Studentenzeit werden wirksam und dessen Thesen gewinnen neues Leben. Selbstzweifel, Unsicherheit, die tiefen Fragen nach dem Wesen des Daseins und seiner Freuden und Schrecken sind das Thema einer kleinen Gemeinschaft, die auf der Insel Hydra eine Zeit ungewöhnlichen Zusammenlebens erprobt.

Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.

Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.

 

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum12. Jan. 2022
ISBN9783755405115
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    Buchvorschau

    Irritation - Walter Gerten

    I M P R E S S U M

    Irritation

    von Walter Gerten

    © 2022 Walter Gerten.

    Alle Rechte vorbehalten.

    Autor: Walter Gerten

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne

    Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

    Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten

    Der Autor:

    Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

    Weitere Romane:

    Manfred Wilt und der Tote am Fluss

    Manfred Wilt und die Rocker

    Der Bote des Zarathustra

    Monte Nudo

    Unterwegs mit Tom Kerouac

    Ich bin ein Schiff

    Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

    Die Sternenbücher 2 Akba

    Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

    Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

    Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

    Die Sternenbücher 6 Das Nichts

    Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers

    Die Sternenbücher 8 Paradise2

    Die Sternenbücher 9 Solitan

    Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan

    Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

    Die Sternenbücher 12 Ich und Es

    Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern

    Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit

    Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

    Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden

    Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT

    Die Sternenbücher 18 Marielle

    Die Sternenbücher19 Arkadien

    Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer

    Die philosophischen Romane:

    Lust

    Pilgern

    Scheitern

    Irritation

    Ehrlichkeit

    Stille

    Inhalt

    Das Buch

    Der Erzähler befindet sich mit dem Motorrad auf einer merkwürdig irrealen Fahrt durch Griechenland. Sein Begleiter Mike verschwindet. Aber es finden sich andere Menschen ein, die ihre eigenen Wege verfolgen, entlang einer Spur, die sie zu den Fragen nach dem Selbst leitet. Manche dieser Weggefährten erweisen sich als Illusionen, Irritationen aus der Phantasie, aus einem imaginären Spiegel, der hinab leuchtet in die eigenen Abgründe. Andere begleiten ihn, werden selbst zu Marksteinen entlang der Straße der Sehnsucht. Möglichkeiten tun sich auf, die das Spektrum von Irrsinn bis Freundschaft und Liebe erforschen und der Erzähler verliert sich im verzweigten Netz der eigenen Geschichte. Die prägenden Erinnerungen an einen alten Philosophieprofessor seiner Studentenzeit werden wirksam und dessen Thesen gewinnen neues Leben. Selbstzweifel, Unsicherheit, die tiefen Fragen nach dem Wesen des Daseins und seiner Freuden und Schrecken sind das Thema einer kleinen Gemeinschaft, die auf der Insel Hydra eine Zeit ungewöhnlichen Zusammenlebens erprobt.

    Kapitel 1

    Das Böse: Unkontrollierte Eigenliebe.

    Das Gute: Erkennen der Verbundenheit mit Allem.

    Die Grenzen des Ich: Am Beginn der Verbindungen.

    Die Illusion: Das Ich.

    Die Angst: Vor der Auflösung.

    Das Verhaften: An allen Vorstellungen, die das Ich schützen.

    Die Partnerschaft: Geben und Nehmen als Tauschgeschäft.

    Die Spielregel: Kein Geben ohne Nehmen.

    Das Festhalten: An den Täuschungen des Ich.

    Die reine Lebenslust: Das Spiel mit den Illusionen.

    Zunächst wollte ich einfach weiterfahren, aber dann wurde mir klar, dass es besser wäre, anzuhalten. Ich hatte das Gefühl, ein verdächtiges Geräusch zu hören. Irritiert war ich dadurch, dass ich dieses rätselhafte Sägen nicht eindeutig zuordnen konnte. Der Wind pfiff seit mehreren Kilometern anders als gewohnt an meinem Helm entlang. Ein aggressives, bohrendes Timbre hatte sich in sein Frequenzspektrum gemischt, das mich beunruhigte. Es mochte von den Reifen kommen, oder ebenso gut auch vom Motor. Ich wartete mein Motorrad stets selbst. Ich kannte es in- und auswendig. Warum sollte es jetzt, in Griechenland, auf der Strecke den Peloponnes südwärts, plötzlich streiken?

    Ich nahm das Gas zurück und suchte am Straßenrand nach einer Parkmöglichkeit. Links fiel die Böschung ab, hundert Meter bis zum Gestade des Ionischen Meeres. Rechts türmten sich buschig überwachsene Hänge auf, die abweisend und dornig jeden Gedanken an Zugang abwehrten.

    Ich ließ die Maschine auf den schmalen Streifen neben der linken Fahrbahn rollen, hielt an. Ich öffnete den Helm und horchte auf die letzten Umdrehungen des Motors. Tief unten hörte ich dominant das Geräusch der Wellen am Ufer. „Rauuuuschsch…" Das Motorrad knisterte. Alles schien normal, wie üblich. Und doch beunruhigte mich ein besonderer Aspekt des Klangteppichs, den die Maschine erzeugte. War es Einbildung, geboren aus der Angst, zu havarieren? „Alle Dinge sind miteinander verbunden, materielle und gedankliche."

    Ja, es war eine Erinnerung, die aus der Unendlichkeit herankam und sich mir offenbarte. Einen Grund musste es in der Welt der Dinge geben, wenn ein Geräusch sich veränderte. Mein Professor hatte diesbezüglich zweifellos eine brauchbare Aussage getroffen. Der Kolben war mit der Pleuelstange verbunden, die Pleuelstange mit der Kurbelwelle, die Kurbelwelle mit der Nockenwelle, die Nockenwelle mit den Kipphebeln und so weiter. Professor Tarantok war selbst Motorradfahrer gewesen, wenn ich mich nicht täuschte. Es lagen vier Jahrzehnte dazwischen, aber ich glaubte, ihn damals mit einem kleinen englischen Viertakter gesehen zu haben, Ende der Siebziger - auf dem Universitätsparkplatz. „Die Verknüpfungen der Dinge sind Anstöße für Ereignisse.", hatte er gesagt.

    Professor Tarantok hatte uns die Augen für eine Wahrnehmung der Welt geöffnet, die wir bis dahin nicht gekannt hatten. Vom Gymnasium kommend waren wir alle von Vorstellungen besetzt, die uns zu Helden machten, zu Erneuerern, zu Eroberern. Psychologisch war es eine Verdrängungsleistung, die wir als solche nicht bewusst registrierten - die man uns erst eröffnen musste.

    Er hatte sich damals dazu berufen gefühlt. Die Wahrheit, so wie wir sie verstanden hatten, fegte er mit einem halbstündigen Referat vom Tisch. Er ersetzte sie durch die Erkenntnis unseres generationenspezifischen Wunschdenkens, das er bitter einer Nagelprobe unterzog.

    Doch was interessierte mich in dieser Lage die Erinnerung an Professor Tarantok? Ich wusste es nicht. Sie war aus der Unendlichkeit gekommen und in meinem Bewusstsein gelandet.

    Ich setzte mich auf die Randsteine, drehte mich mit einer sanften Bewegung zum Meer und zog die Jacke aus, den Helm, die Handschuhe. Das Motorrad knisterte leise, beruhigte sich von der Fahrt, kühlte ab. Ein Lastwagen brummte den Berg hinauf, hupte. Ein Rollerfahrer winkte. Vom Gipfel her flogen zwei Geier in gerader Strecke in die Richtung der felsigen Ufer.

    Ich war unterwegs nach Pirgos. Mike war krank. Er lag im Zelt und litt unter heftigen Kopfschmerzen. Ich wollte ihm Medizin besorgen. Es war nicht besorgniserregend, wenn man seinen Worten glaubte. Eine Art Sommergrippe, meinte er. Er war anspruchslos.

    Ich hatte ihn in Patras auf der Fähre kennengelernt. Er fuhr ebenfalls ein Motorrad und kam via Italien aus Deutschland. Wir bildeten aus Sympathie eine lockere Reisegemeinschaft den Peleponnes südwärts. Das Merkwürdige war - und ich entdeckte es bereits am ersten Abend, als wir auf einem winzigen Campingplatz vor unseren Zelten saßen - dass er ebenfalls bei Professor Tarantok studiert hatte, jedenfalls ein oder zwei Semester. Seit dem gemütlichen Gespräch am Feuer landeten Erinnerungen an den Professor in unregelmäßigen Abständen in meinem Bewusstsein. Sie waren mir angenehm. Und auch Mike brachte Eindrücke von lange vergangenen Situationen ins Gespräch, wenn wir gedanklich abdrifteten in die Philosophievorlesungen. Ihm wie mir waren eine Reihe grundsätzlicher Aussagen im Gedächtnis geblieben, die wir für originale Schöpfungen des Professors hielten. Eine Fülle von erzählbarem Material befruchtete unsere Tage, wenn wir uns in die griechischen Ortschaften begaben, um unsere Einkäufe für die Mahlzeiten zu tätigen, um die üblichen Flaniermeilen in den Hafenpromenaden zu erkunden oder wenn wir geruhsam die Tage an den Stränden ausklingen ließen. Lebenskunst. Der Luxus des Genießens, gesteigert durch die Anwesenheit eines intelligenten und aufmerksamen Gesprächspartners.

    Doch jetzt rätselte ich über das beunruhigende Geräusch an meinem Motorrad. Natürlich bildete sich recht bald eine erste Erklärung heraus, die vor meinem inneren Auge erschien. Es gab gewaltige Höhenunterschiede auf der Tour durch den Süden Griechenlands. Für den Motor war das eine ziemliche Herausforderung, nicht wegen der Steigungen, die schaffte er leicht. Aber er hatte Probleme mit dem Sauerstoffgehalt, da er extrem variierte, je nach Fahrt - entweder auf Meereshöhe oder manchmal auf nahezu 2 Kilometer Höhe. Das Innenleben des Zweizylinders mochte dabei Ablagerungen bilden, die sich wieder abbauten - und das mochte, ebenso spekulativ, Änderungen in der Geräuschkulisse erzeugen. Ja, das war gehörig spekulativ.

    Mike lag in meiner Vorstellung hustend im Schlafsack, die Stirn schweißnass und mit bleicher Gesichtsfarbe, der Mittel harrend, die ich ihm bringen würde. Also erhob ich mich aus dem Gras, warf halb unbewusst noch einen letzten Blick auf das Meer tief unten und zog meinen Helm wieder an. Zwölf Kilometer bis Pirgos. Keine Zeit zum Bummeln. Ich kam von Kaiafas und hatte die Strecke über die Berge gewählt. Vermutlich war das der Grund für die verstörenden Nebengeräusche. Man musste vermutlich nur den innerlich leicht verrußten Motor wieder freifahren.

    Einmal angeregt, drifteten meine Gedanken auf dem weiteren Weg nach Pirgos wieder ab, streunten ein wenig durch die jüngere Vergangenheit und beschäftigten sich mit dem Moment meines Zusammentreffens mit Mike. Ich hatte es bisweilen erlebt, dass man auf Motorradtouren fremde Menschen leichter kennen lernte. Natürlich half in diesem Fall auch die gemeinsame Sprache. Und als wir entdeckten, dass wir denselben Professor kannten, war das gegenseitige Interesse natürlich geweckt. Mike konnte sich sogar noch an die Thesen des Professors erinnern.

    Philosophie war ein merkwürdiges Fach; ein spezieller, recht freier Bereich einer quasiwissenschaftlichen Disziplin. Man nannte sie „Liebe zur Weisheit"; nicht immer und überall wurde sie als Wissenschaft akzeptiert, aber sie galt verbreitet als Fundament in erkenntnistheoretischer Hinsicht und auch als Bewahrerin der Folgerichtigkeit des logischen Denkens.

    Mike öffnete mit seiner recht klaren Erinnerung einen verschütteten Bereich in mir, der sich von da an nicht mehr recht lösen konnte von den Wiederentdeckungen, die sich mir offenbarten, aufsteigend aus dem Vergessenen. Dabei steuerte Mike eine belustigende, manchmal regelrecht fröhliche Note bei, die den damaligen Ernst unseres Wissensdurstes konterkarierte. Das wurde mir nun bewusst und ich genoss es. Durch die Wegpunkte meiner Fahrt zum Peleponnes schien sich ein Liniengitter zu legen, das alles miteinander verband. Und auch mein jetziger Weg nach Pirgos war nur eine logische Verbindung zwischen zwei Punkten die ich miteinander verknüpfte, entsprechend den Erfordernissen meines Weges. Ich lächelte. Auch im Motor meines Motorrades war alles miteinander verbunden - mechanisch. Die Räder mit dem Rahmen, die Antriebswelle mit dem Getriebe, die Vergaser mit dem Tank. Nichts funktionierte ohne die Verknüpfung mit allem anderen.

    Ich war nun mit Mike verknüpft und in seine Belange eingebunden - so wie er in meine. Pirgos würde mir in einer Apotheke die Medikamente bereithalten, die ich suchte. Der Motor schnurrte wieder wie gewohnt und die Reifen brummten mir ein Lied von Freude und Leichtigkeit. Ich driftete in Gedanken ab und hörte den Professor wieder mit seiner sonoren Stimme uns Studenten die Thesen seiner Philosophie erklären.

    „Es gibt drei Aussagen, die fundamental sind für das Verständnis der uns umgebenden Wirklichkeit, die wir nicht wirklich kennen."

    „Hast du das jemals verstanden?", hatte mich Mike gefragt.

    „Nun, ähm, ja, es handelte sich um die Grundlagen, denke ich. Das, wovon man ausgehen darf, wenn man eine These entwirft."

    Es entspann sich danach auf dem Gelände von Kato, am Strand des Campingplatzes, ein weitläufiges Gespräch über die Voraussetzungen für erkenntnistheoretische Thesen und ob sie von den jeweiligen Urhebern bereits entsprechend ihrer Vorlieben und Erwartungen entworfen worden waren. Ein auf den ersten Blick trockender und langweiliger Gesprächsstoff, der sich aber erstaunlicherweise zu voller Blüte entfaltete und uns mitriss in eine leidenschaftliche und emotionale Dynamik. Und auch darin lebte die Lebendigkeit der damaligen Vorlesungen von Professor Tarantok. Auch das war eine Verknüpfung, sogar eine, die weit in die Vergangenheit reichte.

    Bergauf zog mich der alte Motor voran, wie ich es gewohnt war und meine latente Sorge verschwand. Dort unten, zwischen meinen Füßen in dem metallenen Gehäuse, pulsierte ein eifriger Strom sich explosiv entfachender Energie, der von zyklisch heftig arbeitenden Komprimierungs- und Ausstoßungsorganen dirigiert wurde. In unglaublich schneller Abfolge und Präzision übertrug das Gerät sein Bewegungspotential auf die Straße, die sich grau und flimmernd hinauf wand, der Stadt entgegen. Das bewährte Stahlross schwang in eleganter Linie meinen Körper und meinen Geist hinan zu ihrem Ziel. Ich spürte die Verbindung, erlebte die Abhängigkeit der Maschine von meinen feinauflösenden Impulsen, die sie lenkten, erfuhr die Rückmeldung und die lustvolle Lebendigkeit der innigen Verbindung, die mir spontane Freude am Hier und Jetzt vermittelte. Kein trübender Gedanke.

    Mike war auf dem Weg der Besserung. Er hätte nie von einem schlechten Zustand gesprochen, so war seine Selbstwahrnehmung nicht. Ich meinerseits wusste daher nicht, ob er meinen Einsatz wirklich begrüßte, der ihm Medikamente aus Pirgos beschert hatte. Immerhin hatte er sie eingenommen.

    Nun saß er im Schneidersitz vor dem Zelt, schlürfte den englischen Tee, betrachtete das Meer und lächelte. Die Fähren von Korfu, Italien, Ithaka und Kefalonia liefen Patras an, das Tor zum Peleponnes. Unser Zwischenaufenthalt in Kato war nur kurzfristig angelegt; es sollte weiter nach Süden gehen, bis zum südlichsten Punkt der Halbinsel Mani. Griechenland trug noch immer den Nimbus der alten Hochkultur, des großen Vorbildes für alle späteren Hochkulturen des Abendlandes. Doch die Städte, die Provinzorte, die Dörfer, die Zivilisation insgesamt sprach eine moderne Sprache, ein dem Konsum geschuldetes Gemeinverständnis, das der Wirtschaft und ihren Segnungen angepasst war. Auf unserer Route war es der Tourismus, der als Wirtschaftszweig die erste Reihe einnahm. Die Antike war ihm als Produkt nachgelagert.

    Und auch der Alltag sah keineswegs aus wie Hochkultur. Aber das hatten wir gewusst, Mike und ich. Es gab weltweit keine Hochkulturen mehr - das hatten wir bei Professor Tarantok gelernt. Erkenntnis als Antrieb für Entwicklung war beiseite getreten hinter die Bedürfnisse nach Wohlstand, Luxus, Leichtigkeit des Besitzens.

    Mike trug nur eine Badehose. Dennoch bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sich ein wenig mühsam zu mir umdrehte, der ich im Schatten an einem Baumstamm lehnte und las.

    „Du liest immer noch die Bekenntnisse?", fragte er.

    „Ja!"

    Ich legte das Buch in den Sand, betrachtete Mike, wie er mich neugierig ansah. Ich war noch immer überrascht von der Unkompliziertheit, mit der wir unsere jeweils solo angetretenen Reisen verknüpft hatten. Und ich hatte das merkwürdige Empfinden, dass es sich auf geheimnisvolle Weise auf die gemeinsam erlebten Vorlesungen von Tarantok zurückführen ließ. Mike und ich hatten uns damals kaum gekannt. Außer bei einigen Begegnungen in diversen Cafés oder bei einer der Feten oder Partys war er mir selten aufgefallen, aber wir hatten durchaus mehrere Sätze gewechselt - mehr nicht, wenn ich mich richtig erinnerte.

    Nun hatten sich unsere Linien gekreuzt, sich berührt und verknüpft, so, wie sie bereits vorher mit dem Professor und seinen spannenden Universitätstätigkeiten verknüpft gewesen waren. Die zahllosen Fäden unserer Leben bildeten bekannte und unbekannte Netze, die wir bewusst oder unbewusst ausgeworfen hatten, um Begleiter der einsamen Geworfenheit zu finden. Und doch blieb uns kaum mehr als ein trunkenes Gefühl der Gemeinsamkeit mit verwandten „Seelen" und ein kleiner, nagender Zweifel, wie weit denn wohl jene Verwandtschaft ginge.

    Da ich seine Frage nicht nutzte, um ein Gespräch zu entwerfen, stand Mike unbeholfen aus dem Schneidersitz auf und ging gemessenen Schrittes zum Strand. Wir waren beide längst aus dem „besten" Alter heraus. Ich konnte für mich eine halbwegs eindeutige Motivation für diese Motorradtour formulieren und hatte es ihm gegenüber bereits getan.

    Ich nutzte die Zeit, die sich durch mein Ausscheiden aus dem Beruf nun anbot, um einen lange zaudernd gehegten Plan zu verwirklichen: Die Wiederholung einer früheren Motorradtour quer durch den Peleponnes und Italien, die ich vor zwanzig Jahren mit einem Freund unternommen hatte.

    „Nun, wenn du nicht reden magst, dann macht das nichts.", sagte er, als ich mich neben ihn in den Sand setzte. Gleichgültig rollten die Wellen heran, zogen sich zurück, um wieder voran zu rollen, ihre Gischt schäumend zu uns zu schieben und mit zartem Rieseln auszuatmen.

    „Das ist es nicht, Mike. Es reift ein Gedanke in mir, den ich nicht fixieren kann. Ich sehe ihn schemenhaft im Hintergrund, aber sein Gesicht erkenne ich nicht. Er will mir etwas zeigen. Tagsüber taucht er zwischen den Zeilen der Bekenntnisse auf, die ich nur unkonzentriert lese. Nachts schleicht er sich in meine Träume. Er scheint eine gewisse Wichtigkeit zu haben, obwohl ich nicht weiß, welche."

    „Erinnerst du dich an Tarantok und seine Thesen? Was du sagst, ähnelt seinem ersten Exkurs über die Wahrnehmung der Gedanken. Es gibt keine Dinge in den Gedanken, sagte er. Nur Gedanken über Dinge. Wenn wir denken, benennen, einordnen, verknüpfen, dann sehen wir nur noch unsere Gedanken über etwas. Das Etwas, das Ding, hat sich dann längst scheu zurückgezogen."

    „Ja. Ich erinnere mich dunkel. Tatsächlich würde die Reifung im Dunkeln unterbrochen, wenn ich es vorzeitig ins Licht zerren würde, um es zum Thema eines Gesprächs zu machen. Ich will sensibel mit den Dingen umgehen, die eine gewisse Wichtigkeit im Hintergrund entfalten."

    Einige Tage später konnte ich erkennen, welche Gedanken jenes zur Reife gekommene Gefühl anregten. Es war eine Form von Überblick, eine Art offenbar gewordene Erkenntnis. Sie sprang mich im Schlaf an und ich wachte auf. Sie war erfreulich und lebendig. Sie zeigte mir eine starke emotionale Verbundenheit mit allem, was ich erlebte, erlebt hatte. Gerade das, was ich wohl am meisten begehrte - das Glück - entsprang einer ungeheuren Lust am Leben, in schöner Gemeinsamkeit mit demjenigen Leben, das mich umgab. Die reine Lust erfüllte mich mit Genugtuung, als ich dort lag und meine unwillkürlich offenbarte Erkenntnis erlebte.

    Sobald ich, ebenfalls unwillkürlich, den ersten Gedanken darüber entwarf, begann sich eine unmerkliche Distanz dazwischen zu schieben, die mich von ihr entfernte, ein wenig zuerst, dann mehr. Und als ich begann, Gedanken in Sätze zu formen, um sie Mike mitteilen zu können, war der offenbarte Überblick vorbei. Dabei war jenes Gefühl gar nicht in einer Trennung zwischen mir und meinem Erlebnis begründet, sondern im Verbinden.

    „Es war exakt nach Tarantoks zweiter These., sagte ich, als ich am nächsten Tag Mike davon erzählte. „Die Verbundenheit mit allen Dingen, die wir erleben, bedeutet, dass wir all das sind. Und all das deutet weit über das hinaus, was wir mit unserem Ich zu bezeichnen gewohnt sind. Das war so ungefähr seine These.

    „Ich erinnere mich …" Mike hatte sich einen Brei aus Getreideflocken und Obst zum Frühstück gemacht. Ich zog frisches Brot vor. Er schaute versonnen in Richtung Meer, auf die Wellen, die Möwen, die ersten Badenden, die hinaus schwammen. Die Sonne stand erst knapp über dem Taygetos im Osten. Ich erwartete kein weiteres Gespräch über das Thema, aber Mike ergänzte nach einigem Zögern:

    „Damals wusste ich nicht, welche Bedeutung seine These hatte. Ich fand sie faszinierend, wegen der nahezu unbegrenzten Tragweite. Aber viel viel später, Jahrzehnte später, als sie mir nach langer Zeit wieder vor das innere Auge kam, bemerkte ich, dass sie in letzter Konsequenz mein Ich ins Wanken brachte."

    „Ja, das geht mir genauso."

    „Das Schlimmste ist dieses Wort, das Tarantok für das Ich verwendete: Chimäre."

    „Es ist schmerzhaft, das stimmt!"

    Rückblickend war die Reise durch Griechenland eine Reise ins Innere. Ich wunderte mich eine Weile wegen der Anwesenheit Mikes. Er war unverhofft aufgetaucht wie ein kranker Derwisch, aber er erholte sich unter meiner Pflege erstaunlich schnell und wir planten einen gemeinsamen weiteren Weg über die Straßen des Landes, über die abgelegenen Pfade und Schluchten der peloponnesischen Hand, die greifend ins Mittelmeer ragte. Ich hatte mich auf eine einsame, eventuell sogar bedrückend isolierte Fahrt eingestellt, also erfreute mich der Umstand, dass sich stattdessen die gemeinsame Fahrt ergab.

    Mike erwies sich als kongruente Bereicherung. Wir ergänzten unsere beschränkten Vorräte und Gerätschaften und bildeten eine Gemeinschaft auf Basis intuitiven Verständnisses.

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