Die Vögel singen weiter
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Über dieses E-Book
So entfaltet sich ein Kaleidoskop aus immer neuen Bildern von Menschen, die ihren Weg zu Ende gegangen sind. Wie einzelne Perlen in den Farben von Reue, Versöhnung, Liebe und Schuld flechten sich die Erzählungen in unsere gemeinsame Geschichte ein und hinterlassen mich mit Stille und Zuversicht.
Lea Söhner
Geboren 1958 im Schwäbischen, studierte Lea Söhner (lea-soehner.ch) Diakonie und Religionspädagogik und arbeitete zehn Jahre als Diakonin in der kirchlichen Sozialarbeit. Mehrere Jahre hielt sie sich in England, Israel, Indien und Südamerika auf, dann absolvierte sie eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Sie führte fast zwanzig Jahre zwei Institute für Tantramassagen (Dakini) in Stuttgart und Zürich. Nach dem Tod ihres Mannes zog die Autorin an den Lago Maggiore und widmet sich dem Schreiben. Mehr über Lea Söhner finden Sie auf ihrer Website: lea-soehner.ch
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Buchvorschau
Die Vögel singen weiter - Lea Söhner
Inhalt
Einführung
Heinrich
Emma
Irmgard
Opa Rudolf
Gertrud
Dhyan
Fräulein Schmälzle
Friedrich und Hannah
Marie
Irmgards letzte Reise
Freddy
Käthe
Michael
Danksagung
Über die Autorin
TiteleiDas Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice", Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.
© 2022, Lea Söhner · lea-soehner.de
Satz u. Layout / e-Book: Büchermacherei · buechermacherei.de
Lektorat: Nadja Bobik · lektorat-mit-herz.com
Korrektorat: Dorrit Bartel · dorritbartel.eu
Covergestaltung: OOOGrafik · ooografik.de
Bildquellen: #106028266, #291469820 | AdobeStock
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-66899-7
ISBN Hardcover: 978-3-347-66902-4
ISBN E-Book: 978-3-347-66903-1
Für meine Eltern
Erst jetzt kann ich dir die Geschichte meines Onkels erzählen, der nie mein Onkel geworden war, der nur Heinrich blieb, der Bruder meines Vaters. Heinrich, der zum Sterben an einen Baum gelehnt worden war und der niemals zu Ende betrauert werden konnte, weshalb die Trauer immer noch zähflüssig in den Stiefeln meines Vaters steht. Manchmal ist sie über den Rand geschwappt und ich bin hineingetreten. Nie wieder habe ich sie von den Füßen wegbekommen. Ich bin mit der Traurigkeit verwachsen. Sie gehört zu mir auf jedem meiner Lebensschritte, denn die Tränen, die der Krieg hinterlassen hat, können nicht nur von einer einzigen Generation weggeweint werden.
Erst jetzt kann ich dir Heinrichs Geschichte erzählen, jetzt, da ich durch dich den Tod gespürt habe wie einen freundlichen Hauch, da ich dabeisaß, als auch du in die andere Welt hinübergesickert bist, als du dich unter meinen Händen aufgelöst hast, so dass die Wand, die vorher fest und dick zwischen dem Leben und dem Tod gestanden hatte, zu Nebel verdampfte.
Nun sitze ich selbst unter einer Buche. Nicht zum Sterben, sondern um die Sonne zu genießen, meine Leere zu erkunden und an dich zu denken. Deine Urne ist hier begraben, hier unter der Buche im Friedwald.
Ich sitze da, um Löcher in die Luft zu starren. Vielleicht auch, um ein bisschen zu weinen. Geschichten möchte ich dir erzählen, von mir, von dir, wie sie mir einfallen, die schönen und die hässlichen. Doch hier unter der Buche im Friedwald fallen mir vor allem Geschichten vom Sterben ein. Als ob die Seelen vorbeistreiften und mir einen Wink gäben. Als ob sie mir zärtlich zuflüsterten: „Erzähl auch von mir." Als ob sie mir Bilder schenkten von ihrem Leben, während sie noch bei uns waren.
Ob du wohl die beiden Schmetterlinge sehen kannst? Tanzen sie für dich? Oder bringen sie Botschaft von jenem fernen Onkel? Möchte Heinrich in meine Trauer um dich eingeschlossen werden, damit seine Seele endlich Frieden findet?
Heinrich
Verzierhung zwischen Überschrift und TextDie Schmetterlinge sind wiedergekommen. Schon früher haben sie für ihn getanzt. Wärme umhüllt ihn, füllt ihn aus. Schwerelos wird er, wie die beiden Pfauenaugen, die zwischen den Blättern flattern. Ihr zärtlich-luftiger Liebesreigen scheint ihm zu gelten. Was flüstern sie ihm zu, diese zwei? „Erinnere dich noch einmal, dann flieg mit uns."
Auch Vögel hatte er geliebt. Sie sangen für ihn und die Blumen verschenkten sich mit ihrem Duft und ihrer Schönheit. Wie sehr er die Arbeit gemocht hatte: Allein in den Weinbergen, diese Stille, in die er eintauchen konnte wie in eine andere Welt. Das Knacksen der abgeschnittenen Reben, Vogelgezwitscher, der trunkene Flug der Hummeln durch die kristallblaue Luft, Fliegengesumme, sein eigenes Liedchen auf den Lippen und immer wieder Schmetterlinge in ihren tausend Farben.
Die Mutter erscheint ihm – groß und stark. Wie gerne hatte er mit ihr zusammen im Krautgarten gearbeitet. Auch dort tummelten sich Schmetterlinge. Nicht alle mochte die Mutter. Die Kohlweißlinge, deren Raupen den Kohl fraßen, konnte sie nicht leiden, er aber hatte alles geliebt, was da so luftig und leicht herumflatterte. Fliegen sollte man können!
Als er noch ein Kind war, gab ihm seine Mutter oft das innerste Herz des Kopfsalats zu essen. Er genoss diesen feinen, leicht bitteren Geschmack, frisch und durchwärmt von der Sonne. Wie die Sommerwärme lag auch ihr Blick auf ihm. Mit Wohlbehagen biss er in die zarten hellgelben Herzblätter. Manchmal strich die Mutter ihm über seinen blonden Haarschopf, nur beiläufig, ein bisschen geniert, bevor sie sich rasch dem nächsten Arbeitsschritt zuwandte.
Als Paradies erscheint ihm die Kindheit jetzt, da die Erinnerungen durchscheinen wie die Sonne durch die Gräser. Nun kommt der Schmerz wieder, reißt ihn in Stücke, seine Hand ist nass vom Blut, keine Kraft mehr, das Loch im Bauch zusammenzuhalten.
Er hatte es gewusst in dem Moment. Er hatte gewusst, dass er nicht mehr heimkommen würde, und er sagte es seinem kleinen Bruder, als er das Fahrrad in den Hof schob: „Ich komm nicht mehr heim!" Und er sah die Angst in den Augen des Jüngeren.
Schweigend wurde das Rauchfleisch aufgeschnitten und das Brot, das gute Weißbrot, von Mutter gebacken, das es in diesen Zeiten nur selten gab. Jetzt bekam er es als Vesperbrot mit auf seinen Weg in den Krieg.
„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …"
Das Gebet, so oft gemeinsam gesprochen, so vertraut. Zentnerschwer wog jetzt jedes Wort. Sorgenvoll die Augen der Mutter. Sie sollte nicht sehen, dass er um sein Schicksal wusste, sie wollte es auch nicht sehen, und er verbarg seinen Blick vor ihr. Schweigend war der Abschied von den Eltern, den Schwestern und dem kleinen Bruder. Gotthilf, der Älteste war schon in Russland. An ihn dachte man jetzt auch.
Sie standen unter dem Hoftor und schauten ihm wortlos nach. Nicht umschauen, nur nicht umschauen. Ein Schritt um die Ecke und sie würden ihn nicht mehr sehen. Es war, als triebe man einen Keil in sein Leben. Wie in ein Holzscheit, den man spaltete.
Was folgte, waren Schwärze, Härte, Kälte, Tod, Tod, Tod. Hass, das war es, was er nicht zu entwickeln vermochte. „Schieß!", hieß es. Er konnte nicht, obwohl er es doch soeben gelernt hatte.
„Schieß, schieß!"
Da waren Augen ihm gegenüber: Panik, Verzweiflung, Stolz, Erstaunen im Blick des dunkelhaarigen Kindes.
„Schieß! Schieß endlich, du Idiot!", schrie es in sein Ohr.
Er schoss – Lachen, böses Lachen.
„Na also, geht doch!"
Menschen fielen um, sackten in ihr Blut. Dunkelheit, schwarzes Eis, die Schmetterlinge waren längst geflohen, auch die Sonne und der Wind.
Truppen wurden von Ost nach West verlegt und er wusste, sie würden mit dem Zug durch sein Dorf fahren. Er schrieb Feldpost: „Ich fahr durch Schwaigern, ich werde winken."
Und er wusste, sie würden täglich am Bahnhof stehen. Immer mittags, wenn die Soldatenzüge vorbeirauschten, um ihn für einen Moment am Fenster winken zu sehen. Doch als der Zug durch den Heimatbahnhof fuhr, schloss er sich in die Toilette ein und weinte.
Bald hatte sich alles gewendet. Der Feind rückte näher, Kameraden neben ihm fielen in den Dreck. Aufspritzende Gehirne, splitternde Knochen, abgeschossene Hände – immer leichter fiel ihm das Töten. Der Hass hatte sich endlich eingestellt und wuchs mit jedem zerfetzten Kameraden. Wie ein schwarzes Ungeheuer beflügelte er ihn, überrauschte seine Taubheit. Den Ami-Schweinen werd ich’s zeigen! Sportlich fühlte er sich, dann endlich: Er wurde getroffen. Das Geschoss zerriss seinen Leib, aber schon vorher war alles andere in ihm zerrissen. Nur noch Schmerz war da und Schreien, Dreck, Schlamm, Blut.
Die Bucheckern treiben schon aus. Eine Buche ist es also, unter der ihn seine Kameraden liegen haben lassen. Das schmerzende Tier in ihm beruhigt sich, bald müsste sein Geburtstag sein. Siebzehn Jahre wäre er geworden und seine Mutter wird schweigend weinen. Sie wird ihn nicht wiedersehen. Ihren Schmerz fühlt er jetzt, diesen alles zerreißenden Schmerz in seinen aufgesprengten Gedärmen, den Schmerz, der den Vater niederhämmert, bis sein Rücken krumm ist und er nicht mehr geradestehen kann. Auch der ältere Bruder wird nicht mehr kommen, er weiß es jetzt in diesem Moment. Die silbrige Luft sagt es ihm, sie lässt ihn noch einmal atmen. Noch nie hat er ein Mädchen gehabt. Warum fällt ihm das gerade jetzt ein? Sind es die beiden Schmetterlinge, die ihn ans Leben erinnern? Das Frühjahr, so schön, wie die zarten Blätter glitzern. Alles ist auf einmal leicht. Hell ist der Himmel und groß. Wie ein Vogelflug in die Sonne hinein.
Verzierhung zwischen Überschrift und TextWie leise es ist, hier im Friedwald. Und wie leicht die Bilder kommen, wenn man still wird. Ich lege eine Bucheckernschale auf den Platz, wo deine Urne vergraben ist. Für Heinrich. Mein weicher Blick ruht auf dieser kratzigen Samenhülle, gedankenverloren, ohne Sinn. Da senkt sich eine Stille in mich, die nicht von mir zu kommen scheint. Auf einmal weiß ich, dass jetzt alles gut ist.
Ungenutzt lasse ich die Zeit verstreichen. Sie streicht um mich herum, rennt nach vorne, hüpft zurück und immer lässt sie uns denken, sie liefe geradeaus. Was sie nie tun würde. Rückwärts geht sie jetzt, weit zurück, dahin, wo ich herkomme.
Bäuerlich sind meine Wurzeln, das weißt du schon lange und konntest es doch nie nachfühlen. Alle meine Ahnen waren Bauern und Bäuerinnen. Ich trage es in mir, das Bauern-Dasein, die Erinnerung an den Duft der frühlingshaften Erde, den Jubel über die herrliche Erdbeerzeit, die Wärme der Sonne und die Freude über die Fülle der Feldfrüchte, den Schweißgeruch der Arbeit, den Dunst des Herbstes und die Eile, vor dem ersten Frost alles einzuholen.
Ich kenne den Schock des Frühsommerhagels, der die wohlbestellten Felder zerstört. Ich rieche den Diesel des Traktors, während ich mit Freundinnen, Mutter oder Schwester auf der Pflanzmaschine sitze, singend und schwatzend. Ich spüre die väterlichen Sorgen wie eine unsichtbare Last auf mir, ob der Hof die große Familie ernähren kann. Und ich erinnere mich daran, wie ich meine Vitalität beim Aufladen von Salatkisten genoss.
Auch verhasste Arbeiten gab es, aber wer hat schon gefragt damals. Wengert spritzen. Mit dem Schlepper – Traktor ist ein hochdeutsches Wort und wurde niemals benutzt – mit dem Schlepper also, auf dessen Anhänger ein längliches Fass aus Glasfaserkunstharz stand, voll mit Hektolitern von Pestiziden, fuhren wir hinaus in den Weinberg. Während der Vater mit der Handspritze die steilen Reihen entlangging und jede Rebe sorgfältig abspritzte, saßen wir Kinder rittlings mit kurzen Hosen auf dem Fass. Wir rollten den Schlauch ab und zogen ihn jedes Mal wieder ein, wenn Vater nach oben kam. Der schwarze schwere Schlauch war verschmiert mit Erde und weißlicher Spritzbrühe. Am Abend brannten die Innenschenkel vom Glasfaserfass, die Augen von der Müdigkeit und die Hände vom Spritzmittel. Die Nase war taub vom durchdringenden Chemiegeruch, der Mund pappig, und weil wir uns mit der ungewaschenen Hand den Schweiß abgewischt hatten, bekamen unsere Gesichter manchmal rote Pusteln. Ab und zu war uns auch ein wenig schwindlig.
Unbemerktes Gift atmeten nicht nur unsere Lungen, sondern auch unser kindlicher Geist ein. Unbemerkt, weil wir nichts anderes kannten und die Verformung erst spät spürbar wurde. Wenn überhaupt. Da war der Kindergarten, in dem eine von Nazis geschulte Kinderschwester immer das gleiche Kind bestrafte, gerade das lebhafteste und lauteste. Auch ich war von Natur aus lebhaft und laut. Nicht aber in diesem Kindergarten. Anstatt mich auszudehnen, lernte ich mich einzuengen. Anstatt mich auszudrücken, lernte ich zu schweigen, anstatt mich auszuprobieren, lernte ich nur das zu tun, was sicher war.
Die Schule, wo das Nachplappern belohnt wurde, wo Lehrer uns sprichwörtlich rieten, das Denken den Pferden zu überlassen, hat uns Scheren in den Kopf getrieben, welche bis ins Alter ganze Arbeit leisten. Dieselben Lehrer demütigten schwache Schüler vor der Klasse (meist nur die Jungs) und gaben kritische Fragensteller der Lächerlichkeit preis.
Dicke Luft atmeten wir auch unter der Dunstglocke einer engen Religiosität, des schwäbischen Pietismus, ein. Auch sie hat uns den Geist verwirrt und die eigene Lebensspur verwischt, doch wir konnten ihr leichter entkommen als der allgegenwärtigen Nachkriegsideologie.
Wie unterschiedlich unserer beider Kinderwelten trotz allem waren:
Ich, eines unter fünf Geschwistern – du, einziger Sohn einer Kriegerwitwe.
Ich, eingebunden in die kleinbäuerliche Großfamilie – du, Abkömmling einer großstädtischen Akademikerfamilie.
Ich, bis zur Pubertät die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln – du, die feinen Hände, immer sorgfältig gepflegt.
Ich, eingeschlossen in Scham und religiöse Enge – du, eingeschlossen in das seelische Trauma eines Kriegskindes.
Ich, noch mit dreißig Hemmungen über meinen schlechten Schulabschluss – du mit der nachlässigen Arroganz des Gebildeten.
Ich vierzehn Jahre jünger – du vierzehn Jahre älter.