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Geistertitel
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eBook421 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Nichts in dem Leben der 19-jährigen Pieper ist gewöhnlich. Seitdem ihre Mutter vor 6 Jahren spurlos verschwand, musste sie sich mit ihren beiden älteren Schwestern allein durchschlagen. Während die chaotische Iken und die unnahbare Aline ihren Weg scheinbar gefunden haben, den Alltag trotz aller Hürden zu meistern, will sich Pieper nicht mehr damit abfinden, weitere Opfer zu bringen.
Da meldet sich ihre Mutter plötzlich mit einer Postkarte und alles, wonach sich Pieper sehnt, scheint in greifbarer Nähe.

Voller Zorn und gleichzeitiger Hoffnung erzählt Pieper ihre Geschichte, von Begegnungen mit eigenwilligen Menschen, von seltsamen Momenten nachts um halb 2 und davon, wenn etwas kommt und dich mitten ins Herz trifft.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Apr. 2016
ISBN9783732372386
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    Buchvorschau

    Geistertitel - Anne E. Fiebelkorn

    eins

    Bevor die Postkarte aus California bei uns ankam, lief alles seinen gewohnten Gang. Nicht besonders herausragend oder vorbildlich, doch es funktionierte auf seine eigene Art. Vielleicht sogar besser, als es bei anderen in dieser Situation der Fall gewesen wäre.

    Zumindest habe ich mir das eine ganze Zeit lang erfolgreich eingeredet. Die Wirklichkeit und ich – wir sind keine besonders guten Freunde.

    Manchmal überlege ich, was passiert wäre, wenn sie nie den Weg zu uns gefunden hätte. Jeden Tag gehen so viele Ansichtskarten auf unverständliche Weise verloren, landen im Nirgendwo oder in Briefkästen von wildfremden Menschen, die sich wundern, wer bloß zu dieser Schrift gehört. Die richtigen Adressaten allerdings müssen plötzlich lächeln und ins Haus rennen und die Karte herumzeigen. Selten lösen Postkarten so große Panik aus, dass sich alles, was gerade ist und sein wird, von Grund auf verändert. Selten teilen sie alles in ein Davor und Danach.

    Und beim Danach sind wir nun angekommen.

    Das Parkhaus ist menschenleer und beinahe stockfinster, die spärliche Beleuchtung beruhigt mich auch nicht. Das ist nicht ihre Schuld, die Lichter tun ihr Bestes, um mich zu erleuchten. Dennoch tappe ich im Dunkeln und in diesem Moment scheint es einfach nichts zu geben, das meine Gedankengänge lahmlegen könnte. Sie ziehen weiter Kreise und werden wie so üblich zu Sorgen, stecken sich gegenseitig an. Ein Gedanke ist nicht gern allein.

    Ich drehe das Autoradio auf volle Lautstärke, um etwas zu hören, das lauter ist als alles in meinem Kopf, lehne dabei meine Stirn an das warme Lenkrad. Mein Blick fällt auf die Uhr: 18.34 Uhr. In zwanzig Minuten müsste das Flugzeug die Landebahn erreicht haben.

    Mit geschlossenen Augen, immer noch gegen das Steuer gelehnt, taste ich auf dem Beifahrersitz nach meiner Tasche und krame die Ansichtskarte heraus. Streiche mit meinem Daumen über die Tesafilmreste und blinzele der abgedruckten Sonne entgegen. Obwohl ich sie mir schon so um die hundert Male angesehen und ganz genau inspiziert habe, warte ich dennoch darauf, dass die Landschaft vor meinen Augen unscharf wird und sich in eine geheime Botschaft verwandelt. Doch es bleiben die Palmen vor der untergehenden Sonne, darüber der Schriftzug California. Alles in Orangetönen, fast schon zu kitschig, um wirklich ernst genommen zu werden. Iken dagegen erkannte den Ernst der Lage sehr schnell. Bevor ich eingreifen konnte, hatte sie die Karte bereits zerrissen und nach einem Feuerzeug gezückt. Abends musste ich die Schnipsel dann heimlich mit Tesafilm wieder zusammenkleben.

    Manche Kleinigkeiten bringen meine Schwester zum Ausrasten. Ein Rechtschreibfehler auf Plakaten der Kunstgalerie, ein neues Verpackungsdesign ihrer Gewohnheitsspeisen, ein herrenloser, angeleinter Hund vor Oskars Supermarkt. Genauso schnell hat sie sich auch schon wieder beruhigt. Nur diesmal nicht, denn ich warte noch darauf.

    Ich bin noch nie in Amerika gewesen, aber als ich noch immer dabei bin, jeden Zentimeter der Karte abzusuchen, entsteht in mir der Wunsch, in diesem Augenblick dort zu sein. Von mir aus könnte es auch jeder andere Kontinent sein, wenn es nicht gerade hier, in diesem Auto und zu diesem Zeitpunkt wäre.

    Und ich weiß, was auch immer ich in den nächsten Minuten oder Stunden tue, ich werde der Verlierer sein.

    Es folgt ein Rocksong im Radio, genau das Richtige um mitzubrüllen, auch wenn man den Text nicht kennt. Beim Ende schlage ich um mich – zum Glück sieht mich hier niemand –, komme plötzlich auf die Autohupe und ein lautes Tuten geht durch das gesamte Parkdeck und beendet meinen Aktivismus schlagartig.

    Da klopft es direkt neben mir an mein Fenster. Ein Mann bewegt seinen Mund, es passt nicht zu den Liedzeilen. Er gibt mir zu verstehen, ich solle die Scheibe runterkurbeln. Ich schüttele den Kopf, doch er bleibt dabei. Also probiere ich ein paar der Knöpfe aus, als erstes schiebt sich das Fenster auf der Beifahrerseite herunter, dann erst meins. Der Mann und ich sehen den fahrenden Fensterscheiben zu, als gehöre es zu der Vorstellung.

    „Was haben Sie für ein Problem?", frage ich gereizt und schalte das Radio aus.

    „Was haben Sie für ein Problem?"

    Als ich nicht reagiere, da die Ausführung Stunden dauern würde, schiebt er hinterher: „Sie haben mich angehupt."

    „Nicht absichtlich."

    Er verschwindet aus meinem Sichtfeld, um sich doch kurz darauf wieder zu mir herunterzubeugen. „Ist es, weil ich beinahe auf einem Frauenparkplatz geparkt hätte?", überlegt er weiter. „Ich habe das Schild noch im allerletzten Augenblick bemerkt und war gezwungen, das Steuer rumzureißen. Das war vielleicht knapp. Oder störe ich ein eventuelles Zusammentreffen zwecks Austausch bestimmter Substanzen?"

    „Was?!"

    „Was?"

    „Was ist mit Ihnen nicht in Ordnung?", stutze ich.

    Das bringt ihn zum Lachen. Es füllt das komplette Parkhaus mit einem Hallen, das nur ganz langsam untergeht. Ich steige aus dem Wagen und der Mann lehnt am nebenstehenden Auto und lacht noch immer, als wäre das alles ein Vergnügungspark und wir mittendrin. Mein Blick fällt auf seine Arme, verschränkt vor seinem Oberkörper im grauen Hemd, fällt auf seine Statur. Er muss mindestens zwei Köpfe größer sein als ich, Mitte Ende Dreißig irgendwas. Ich kann nicht gut schätzen, in Mathe bin ich eine Niete und auf dem Gebiet Männer finde ich mich nicht immer zurecht.

    Ich schultere meine Tasche, drehe mich weg, mache mich auf, doch komme nicht weit, denn es wird schwärzer als schwarz. Zuerst denke ich, die Beleuchtung spinnt, doch ein Gefühl krabbelt mir die Kehle herauf, mein Kopf dreht sich, oder sind es die Autos? Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich suche was zum Festhalten, bevor ich mein Gleichgewicht verliere.

    „Setzen Sie sich", ruft er und stützt mich, ehe meine Beine ganz wegsacken.

    „Ist Ihnen übel oder schwindlig?"

    „Alles" ist alles, was ich rausbekomme.

    „Atmen Sie gleichmäßig, nicht zu tief … Sonst gelangt zu viel Sauerstoff in Ihr Gehirn."

    Ich versuche in der Dunkelheit etwas Angenehmes wie einen Palmenstrand zu erkennen, doch so weit reicht meine Vorstellung nicht, sie ist bloß Horrorszenarien gewohnt. Dafür lande ich in unserem alten Kino und mein Lieblingsfilm fängt gerade an. Dieser Moment, wenn die Lichter erlöschen und sich die letzten Stimmen räuspern und alles gespannt wartet.

    Dann rieche ich wieder Benzin und Teerdecke, Reste von Abschiedstränen und Wiedersehensfreude.

    „Besser?", fragt er leise und klingt so nah.

    „Hmja …", antworte ich nicht sehr überzeugend.

    „Möchten Sie einen Bonbon?"

    „Hm?"

    Seine Fingerspitzen sind sonderlich warm, während sie meine Handfläche berühren. Natürlich habe ich das da in meiner Hand bereits in den Mund gesteckt, bevor mir einfällt, dass es Chloroform oder ähnliches enthalten könnte.

    „Keine Sorge, meint er heiter, „die Stelle mit der Entführung kommt gleich erst.

    Ich lasse mir den Geschmack auf der Zunge zergehen, mache einen ersten Test, meine Augen wieder zu öffnen. Die Autos stehen gerade und tanzen nicht mehr im Kreis, als ich feststellen muss, dass es kein Bonbon ist. Konfekt mit einem zähflüssigen Kern, der wohl an Kaffee erinnern soll, trifft es eher. Ich teile ihm meine Erkenntnis mit.

    „Diese neue Art der Dankbarkeit ist richtig erfrischend. Schmeißen wir doch alle alten Konventionen über Bord."

    „Ich muss los, meine ich unbeirrt, „das Flugzeug landet gleich.

    „Holen Sie jemanden ab?"

    Ich knurre so etwas wie ein Ja.

    „Sie scheinen mächtig froh darüber zu sein."

    „In meinem Inneren brennt ein Feuerwerk grenzenloser Freude ab."

    „Offensichtlich. In der Halle ist übrigens die Hölle los. Ich musste vorhin jemanden wegbringen."

    „Und dann sind Sie so fröhlich?"

    Etwas fällt aus seinem Gesicht und landet auf dem Boden, von dem ich mich erhebe.

    „Keine schnellen Bewegungen, warnt er mich, noch immer in der Hocke, nur sein Blick folgt mir nach oben. „Sonst kippen Sie gleich wieder um. Das Lächeln in sei nen Mundwinkeln hat sich verflüchtigt. Ich dachte schon, es wäre dort festgeklebt.

    Ich klopfe mir den Dreck von meiner Jeans, während er mir noch einen Bonbon in die Anoraktasche steckt, diese vertrauliche Geste verwirrt mich. Zum Abschied hebt er nur seine Hand, im Gehen drehe ich mich noch einmal um.

    „Wirklich alles okay mit Ihnen?", ruft er mir zu, als gäbe es darauf eine einfache Antwort. Doch, die gibt es.

    Nein. Eigentlich ist gar nichts okay. Überhaupt nichts. Alles geht gerade den Bach runter und ich kann nur zuschauen. Alles, womit ich die letzten sechseinhalb Jahre fertig werden musste, scheint bedeutungslos. Alle Gefühle, die ich in dieser Zeit entwickelte und minder erfolgreich bekämpfte, verwandeln sich in eine bedrohliche Leere. Alles ist ein großes Nichts geworden.

    Ich trete hinaus an die Luft, ganz leise vernehme ich noch „Passen Sie auf sich auf". Dann fällt mir ein, dass ich mich hätte bedanken können. Aber das ist nun auch egal, denn schlecht fühle ich mich eh schon.

    Durch die hohen Fenster der Flughafenhalle scheint die Abendsonne genau in mein Gesicht. Für einen Augenblick spüre ich die Wärme, während Menschen an mir vorbeihasten, bepackt mit Koffern voller Erwartungen.

    Im Ankunftsterminal fahren die Schiebetüren im Sekundentakt auf und zu, spucken Menschen mit Kofferkulis aus, als wären sie von einer langen, geheimen Mission endlich wieder zu Hause. Angehörige laufen auf sie zu, verbreiten ein Strahlen wie vom Kernkraftwerk, legen eine filmreife Wiedersehensszene hin. Da wird mir bewusst, dass ich für keinen Aspekt dieser Situation bereit bin.

    Wenn ich mich hier übergäbe, hätte ich auf einmal den gesamten Platz für mich.

    Mit einem klackernden Geräusch wechseln die Buchstaben auf der riesigen Anzeigetafel und informieren mich ganz beiläufig darüber, dass der Flug EZ224 aus London Verspätung hat, auf unbestimmte Zeit. Und er ist nicht der einzige. Ein Buchstabe ist falsch, es klackert erneut vor und zurück, bis der richtige gefunden wird.

    Am Informationsschalter haben sich noch mehr Leute mit der Idee zusammengefunden, mal nachzufragen, was denn unbestimmt heißt und wieso überhaupt und wie können sie nur. Eine zufriedenstellende Antwort gibt es dennoch nicht. Also laufe ich ein paar Minuten ziellos durch die Menge, fahre mit den Rolltreppen auf und ab und lerne dabei die Slogans der übergroßen Werbereklamen auswendig.

    In den Zeitschriftenläden auf der ersten Etage blättere ich alle Auslagenhefte durch, ohne auf die wirklichen Inhalte zu achten, und beneide dabei eine Familie, die ganz vorn an der Kasse steht. Während der Vater einen großen Haufen Magazine und Zeitungen bezahlt, teilt die Mutter mit ihren beiden Töchtern ihre endlose Freude über die bevorstehende Reise. Vielleicht grinst sie die beiden auch nur so an, weil der Vater gleich seinen selbst gebastelten Sprengsatz zündet – zumindest sehen sie sehr glücklich aus.

    Möglicherweise verspätet sich das Flugzeug gar nicht, sondern ist längst abgestürzt und die Flughafenleitung zerbricht sich gerade den Kopf darüber, wie sie das den Beteiligten beibringen soll. Oder es musste auf einer einsamen Insel Not landen, wo es nur kannibalische Ureinwohner gibt. Danach kommen die Passagiere ins Fernsehen – sofern sie denn überlebt haben –, werden einzeln interviewt, dabei wird ein Satz eingeblendet, der die sprechende Person beschreiben soll. „Soundso, 26, ist nicht zufrieden mit dem Absturz oder „Soundso, 48, puzzelt in seiner Freizeit gern mit seinen Siamkatzen.

    In meiner Anoraktasche bewege ich die Autoschlüssel mehrfach in meiner Hand, spiele mit dem Gedanken, einfach wieder nach Hause zu fahren. Das Merkwürdigste daran ist die Gewissheit, dass es das Beste für alle wäre. Das Beste für sie. Und das Beste für uns.

    Doch ich verharre zwischen dem Hier und Jetzt und den Erinnerungen, die an mir haften. Damalige Momente und Zustände warten hinter jeder Ecke darauf, mich heimzusuchen.

    Nach dem letzten Shop am Ende des Ganges, wohin es niemanden mehr zieht, hole ich erneut die Amerikapostkarte aus meiner Tasche. Lese die wenigen Worte auf der Rückseite und starre auf die gerade Handschrift, die mir so entfernt bekannt vorkommt.

    Hi,

    how you’re doing?

    Habt ihr das Paket zu Weihnachten bekommen?

    Ich komme am 3. September nach Minneborg.

    Flug EZ224 aus London, 18.54 Uhr.

    Dol

    Meine Mutter konnte nicht kochen; sie hat es auch nie mit dieser selbstverständlichen Motivation versucht, die andere Mütter besaßen, was ich allerdings erst im Nachhinein feststellen musste. Als Mittagessen gab es bei uns Kuchen oder Torte mit Gravur aus der Konditorei. Fehlerhafte Produktionen mit falschen Namen, Themen oder anderen Makeln landeten mit einem Preisnachlass auf unserem Küchentisch. Ich habe mir Geschichten überlegt, in denen dieser Kuchen die Hauptrolle hätte spielen sollen und mich gefragt, was damit nicht stimmte, wenn derjenige, der ihn bestellt hatte, ihn nun nicht mehr haben wollte. War es die Farbwahl, die Kombination der Buchstaben oder doch nur eine einfache Stornierung aus Gründen unüberlegter Entscheidungen?

    An einem Tag im Sommer bekamen wir eine kleine Ausgabe einer Hochzeitstorte mit Verzierungen ersten Grades und einem Brautpaar aus reinstem bunten Zucker auf der Spitze. Ich hätte gerne gewusst, was diese beiden in Wirklichkeit gerade taten, während ich ihre Torte aß. Vielleicht ereilte sie ein Schicksalsschlag, dessen Pech sich auf alles übertrug, was mit ihrer Hochzeit zu tun hatte und daher nun durch meinen Darm kroch. Danach bekam ich keinen Bissen mehr hinunter. Bei Fototorten war es für mich sowieso vorbei. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, fremde Gesichter zu zerstückeln und zu zermahlen, was Iken dagegen mehr als gut gelang. Sie zeigte mir dann jedes Mal den Brei in ihrem Mund und nie konnte ich wegsehen, denn da war ein Mensch auf ihrer Zunge, den niemand mehr erkannte.

    Meine Mutter vergaß auch regelmäßig, mit mir in der ersten Klasse die Schultasche zu packen oder frische Kleidung herauszusuchen, sie vergaß überhaupt sehr viel, worauf die Eltern der anderen Kinder peinlichst genau achteten. Meine alleinigen halben Versuche erzeugten bei meiner Lehrerin bloß diesen Ausdruck: bedauernd und stets sorgenvoll, unübersehbar auf ihrer Stirn. Ich hasste dieses Gesicht, sollte es aber noch sehr häufig vor Augen haben.

    Und wenn dieses gewisse Etwas in der Luft lag, nahm meine Mutter uns aus der Schule, täuschte den perplexen Lehrern ein akutes Geschwür oder innere Blutungen vor und fuhr mit uns dreien in den Freizeitpark, in dem sie je des Mal die Hellseherin aufsuchte, die keine Ahnung hatte, das wussten alle.

    Ich erinnere mich an die Laute ihrer hohen Absätze in der Küche und im Flur, wie sie im Bad ihre Haare mit Haarspray besprühte und es danach noch lange so roch.

    Meine Mutter wurde, so lange ich denken kann, bei ihrem Vornamen genannt. Dol. Von Dolores.

    Und ich erinnere mich daran, wie ich am Morgen des 24. Februars vor sechs Jahren aufstand und sie war weg. Genau wie die Hälfte ihrer Kleidung, ein paar privater Dinge, der große Regenschirm, ihr guter Wintermantel, mein englisches Wörterbuch.

    Ich weiß nicht, wann die Idee in ihrem Kopf entstanden ist, ihre Heimatstadt zu verlassen, zum Flughafen zu fahren, nach Amerika auszuwandern und ihre drei Töchter allein zurückzulassen. Vielleicht in dieser Nacht oder schon Jahre zuvor. Möglicherweise hatte sie alles genau geplant, hatte heimlich Informationen über Auswanderung gesammelt und war mit ihren Gedanken schon auf Reisen, als wir mittags aus der Schule kamen. Vielleicht traf es sie auch wie ein Schlag in dieser Nacht. Dieser Gedanke, der einen nicht loslässt. Wenn man etwas tun muss, um sein Leben zu retten.

    Sie hatte keinen Zettel da gelassen, kein Zeichen, wo sie war, ob und wann sie zurückkam. Nichts.

    Ich habe mir jahrelang darüber den Kopf zerbrochen und immer wieder die Tage davor in meinem Gedächtnis zurückgespult, um herauszufinden, was ich gesagt oder getan habe, weshalb sie ging. Oder was ich hätte tun oder sagen sollen, damit sie blieb.

    Diese endlose Beschäftigung führt nur zu einem. Dass man verrückt wird.

    Auf Flughäfen tickt eine andere Zeit, die Zeitzonen bringen alles durcheinander, nur auf die ständige Warterei kann man sich verlassen. Warten, dass man an die Reihe kommt, dass der Koffer aufgegeben wird, dass die Servicedame fertig mit Tippen ist, dass der Typ vor einem endlich seinen Gürtel ausgezogen hat, dass das Gerät nicht piept, dass die Sachen im Duty Free Shop noch günstiger angeboten werden, dass man durch den Schlauch laufen darf, dass man seinen Sitz gefunden hat. Jetzt nur noch gefühlte zehn Stunden, danach das Ganze rückwärts.

    Seitdem ich einmal eine sehr eindrucksvolle Reportage über das Leben von Vielfliegern gesehen habe, kann ich mir den gesamten Vorgang in allen Details bildlich vorstellen. Denn geflogen bin ich selbst noch nie.

    Ich warte bloß auf Durchsagen, doch fürchte mich gleichzeitig vor der Stimme, die mir in drei Sprachen mitteilt, dass das Flugzeug gleich landen wird und sich damit alle Konsequenzen in einem Sprühregen über uns ergießen. Man kann nicht wirklich danach greifen, nur fühlen, wenn man bereits durchnässt ist.

    Auf der Damentoilette putzt sich eine junge Frau die Zähne und knotet ihre Haare zu einem Zopf, als stünde sie in ihrem eigenen Badezimmer. Ich frage mich, wie wohl ihr Leben aussieht und wie es wäre, sie zu sein.

    Ich suche mein Spiegelbild nach Merkmalen ab, die Dol und ich gemeinsam haben könnten, doch finde nichts – zum Glück. Wo ihr Gesicht an Länge gewinnt, hat meins eher Kanten. Ich habe weder ihre dunkelblauen Augen noch ihre Haarkonsistenz. Doch vielleicht erkenne ich Dol jetzt gar nicht wieder, weil sie inzwischen süchtig nach Schönheitsoperationen oder Alkohol geworden ist und beides so lange genossen hat, bis das Geld alle war. Ich sehe mich nach einer Person um, die ihre Art besitzt, sich ruckartig zu bewegen. In der Ausgangssituation immerzu steif, darauf plötzlich ganz hektisch und wieder zurück zu Start. Als hätte man in der falschen Sekunde eines Films geblinzelt und nun kapiert man die Handlung nicht mehr. Aber auch das kann sich geändert haben.

    Ich lasse mich auf die grauen geformten Plastikstühle gleiten, nur Menschen mit ihren Kulis und viel zu viel Gesprächsbedarf rollen an mir vorbei. Ich möchte schlafen, aber nicht hier aufwachen. Also lasse ich es sein.

    Acht Lebenszeichen erreichten unser Haus während den sechseinhalb Jahren, in denen Dol vermisst wurde.

    Die erste Postkarte kam nach 68 Tagen. Ich habe sie alle wie ein Sträfling gezählt.

    Ansichtskarten legen meistens einen längeren Weg zurück und klingen in irgendeiner Weise fröhlich. Fröhlich, fort zu sein, etwas anderes zu erleben. Sonnenschein und Sehenswürdigkeiten und Grüße, etwas Neid verteilen, auch wenn das Wetter gar nicht so bombig ist und die Zimmer zu eng. Dols Karteninhalt war so oberflächlich, sie hätte sich die Mühe sparen können. Aber wahrscheinlich wollte sie uns nur wissen lassen, dass sie am Leben war und es ihr gut ging. Zumindest klang es so.

    Anfangs habe ich die Karte noch ganz ehrfürchtig in die Küche gehängt und sie nie aus den Augen gelassen. Wenn ich wegsah, nahm ich manchmal an, es war bloße Einbildung und Dol war eigentlich gerade einkaufen und damit beschäftigt, die Angestellten im Supermarkt zu provozieren. Doch wenn ich dann an die Wand blickte, kam alles geradewegs auf mich zu. Zuerst blieb mir noch die Luft weg, dann gewöhnte ich mich allmählich an sie wie an ein Bild, das nicht besonders schön war, aber auch niemand abzuhängen vermochte.

    Und dieses dicke Stück Papier war das beste Beispiel für den unvorhersehbaren Verlauf der Dinge, die man nicht beeinflussen kann. Die Welt dreht sich nicht um einen Moment oder ein paar Zeilen oder eine Person, habe ich dann festgestellt und hätte ganze Aufsätze damit füllen können. Habe ich auch. Nur zu den falschen Themen. Ungenügend war nicht nur eine Note, es war die Überschrift für die ersten Monate allein nur mit meinen beiden Schwestern und all dem Chaos, das ab und zu einen Sturm in mir auslöste und an manchen Tagen einen lebensgefährlichen Orkan.

    Das zweite Lebenszeichen war ein Brief, eine Seite, beidseitig beschrieben auf Motelpapier, mit 15.000 Kronen darin, die Miete für vier Monate. Wieder ohne Absender. Als ich ihn fein säuberlich zu der ersten Karte an die Wand hing, warf mir Aline nur einen langen Blick zu, ich spürte ihn im Nacken wie einen unangenehmen Luftzug. Und noch immer hoffte ich – auch wenn ich es niemandem erzählte, denn meine beiden Schwestern fanden sich sehr schnell und gut zurecht. Sie wollten es zumindest unbedingt.

    Zu Weihnachten erreichte uns sogar ein Päckchen mit einer Weihnachtsklappkarte mit bunten Weihnachtsmännern und viel zu viel Geglitzer auf der Vorderseite. Die drei kitschigen Schneekugeln, in denen weiße Kügelchen auf die Freiheitsstatue rieselten, wann immer man das Verlangen danach hatte, waren ein schwacher Trost für unser erstes Weihnachten ganz allein. Danach kam zu jedem Weihnachtsfest ein Päckchen mit Geschenken, die sich kein Mensch wirklich erträumt: Dinge aus Souvenirshops ohne Geschmack und Persönlichkeit. Das, was wir eigentlich brauchten, war in keinem Paket enthalten.

    Und nach dem ersten Weihnachten ohne sie hörte ich auch letztendlich auf zu warten und heimlich zu hoffen, und Dol wurde zu einer Erinnerung, die nur durch die noch kommenden lächerlichen Päckchen heller wurde, sonst aber mit jedem Jahr verblasste.

    Nur im letzten Herbst rüttelte mich ihre Post noch einmal wach, denn dort auf der Rückseite stand ganz klein Dols aktuelle Adresse in California. Aline und Iken hatten allerdings keinerlei Bedürfnis mehr, sich bei ihr zu melden, ihr Leben lief weiter. Doch meins – meins stolperte so vor sich hin.

    Der weiße Pappbecher mit dem braunen Kaffeegemisch wärmt meine kalten Hände. Ich beobachte die Menschen um mich herum und nach und nach werden sie alle unwirklich. Wie wenn man bei Fernsehwerbung den Ton ausstellt, es wirkt einfach absurd.

    Eine halbe Familie steuert auf die Reihe zu, in der ich sitze, und sucht sich dann doch ganz plötzlich eine andere aus. Wahrscheinlich gucke ich wieder zu abweisend. Ich denke an die Frau, die früher in unserer Straße wohnte und stets eine große, dunkle Sonnenbrille trug, und wir wohnen nun wirklich nicht im Süden. Immer habe ich angenommen, sie wolle sich wie eine Prominente aus dem Fernsehen fühlen, die in ihren lässigen Freizeitklamotten die Straße entlang stolziert, ohne erkannt zu werden. Doch nun verstehe ich sie. Unsichtbar wollte sie sein, alles wahrnehmen, nur nicht wahrgenommen werden von anderen.

    Hier bin ich allein unter hundert Menschen. Sie alle finden sich mit der Situation ab, niemand regt sich jetzt mehr auf. Ich möchte nichts hier lassen, auch keine Erinnerung.

    Immerhin wirkt der Flughafen in der Nacht wunderschön. Künstliches Licht in Blautönen, gelbe Schilder mit Zahlen der Gates und flimmernde Fernseher. Alles, was einen versorgen kann, findet man hier. Und es beruhigt einen, wie die Dunkelheit sich langsam der Fenster annimmt, ab und zu rollt ein riesiges, weißes Flugzeug wie ein Wal aus dem düsteren Meer vorbei und die Leute suchen sich Plätze, an denen sie verweilen können, bis alles vorbei ist, während für das Personal das alles hier den Alltag darstellt.

    Eine Gruppe Jugendlicher hat ein Lager mit Rucksäcken aufgeschlagen, sie sitzen zusammen auf dem Boden und lachen zeitweise auf, ich verstehe nicht weshalb. Einige Meter weiter entdecke ich ein Stück Abfallpapier. Vielleicht von einem Hamburger oder etwas ähnlich Fettigem, von meinem Platz aus ist es schlecht zu erkennen. Es fällt nur auf, weil es das einzige weit und breit ist auf einem spiegelblanken Grund. Ich wünschte, mein Kopf wäre so aufgeräumt wie der Fußboden dieser Halle. Dann beobachte ich einen Mann im Overall, der sich müde, doch nicht träge, mit einem Reinigungswagen daran zu schaffen macht. Niemand scheint ihn zu beachten, seine Person oder Tätigkeit, dennoch ist er da. Dunklere Haut als die meisten hier, Schnurrbart und kurzer Körperbau. Für einen Moment versuche ich mir sein Leben vorzustellen, wie er nach Hause zu seiner Frau kommt, die sein Lieblingsessen gekocht hat, obwohl er inzwischen ein anderes wählen würde, aber dankend nach dem Besteck greift und der Teller seines Sohnes leer bleibt, weil dieser gerade die Bekanntschaft mit den falschen Jungs aus seiner Schule gemacht hat und nun die Nacht seines Lebens verbringt, aber das muss nicht immer gut ausgehen.

    Eine Gitarre reißt mich aus den Gedanken. Sie gehört einem Typ mit einem langen Pferdeschwanz, der immer wieder schnaufend lachend die Brille auf seiner Nase hochschiebt, weil ihm niemand sagt, wie bescheuert das aussieht. Entweder summe ich jetzt zu seiner schrägen Melo die oder ich ticke völlig aus, reiße ihm die Gitarre aus der Hand und zerschmettere sie auf den Plastikstühlen, die sich nicht verrücken lassen.

    Bevor ich das in die Tat umsetze, krame ich nach meinem vorletzten Kleingeld und rufe zu Hause an. Es ist fast zwei Uhr nachts und Iken nimmt nicht sofort ab. Zweifellos muss sie erst den Videorekorder anhalten und wenn das Bild in einer schlechten Sekunde stoppt, eine unnatürlich hübsche Hauptfigur der Serie zum Beispiel die Augen nur halb geöffnet hat, kann es etwas dauern, bis sie ein Standbild gefunden hat, mit dem sie zufrieden ist.

    „Dol ist noch nicht da, ein paar Flüge hier haben Verspätung", sage ich, meine Stimme ist nach all den Stunden ganz eingerostet.

    Iken wiederholt nur das, was sie seit Tagen vor sich hin wettert: „Sie kann in der Badewanne schlafen! Warum bringst du sie überhaupt wieder hierher?!"

    „Iken …"

    „Das ist ein Zeichen, ganz sicher ist das Flugzeug über dem Ozean abgestürzt und niemand wollte sich mit ihr ein Schlauchboot teilen, also ist sie bereits tot!"

    „Iken!"

    „Lass sie einfach dort und fahr zurück, ich warte auch mit der Folge auf dich, letztes Angebot!"

    „Nein, Iken! Das werde ich nicht."

    „B–a–d–e–w–a–n–n–e!"

    Ich lege auf.

    Dols letzte Ansichtskarte fand ich vor neun Tagen in unserem Briefkasten. Ich weiß nicht, wie lange sie da schon gelegen hat; Iken und ich haben erkannt, dass Briefe selten etwas Gutes bedeuten. Die häufigsten davon sind Rechnungen, die wir nicht bezahlen können, oder eben Werbung für Dinge, die wir uns schlechtreden müssen, weil sie unerreichbar sind. Aline und Iken hatten mit keiner Postkarte mehr gerechnet, schon gar keiner, die uns mitteilte, dass Dol wiederkommen würde. Daran hatten sie nicht mehr geglaubt. Und wenn ich ehrlich bin, ich wohl auch nicht.

    Kurz nachdem sie gegangen war, schwappte jede erdenkliche Emotion einfach so ohne Vorwarnung über mich: Trauer, Verzweiflung, Enttäuschung, Wut, Angst, Einsamkeit. Eine bunte Mischung der Launen, die man im Alltag nicht gebrauchen kann. Ich hatte nicht unbedingt den Wunsch, ihr in die Arme zu fallen, doch irgendetwas in der Art muss es gewesen sein. Das oder die Vorstellung, sie so lange zu schütteln, bis sie zusammenbricht. Auf einmal drehte sich alles um Dol, obwohl sie selbst nicht mehr da war. Und ich konnte ihr die ganze Bandbreite von Gefühlsresten nicht einmal vor die Füße kippen. Da hat man Jahre damit verbracht, diese Empfindungen irgendwo abzuladen oder in dem letzten Stück seines Körpers zu verstauen, da wirbelt sie den alten Staub mit einem Satz in blauem Kugelschreiber wieder auf. Ihre Heimkehr kommt so plötzlich, obwohl ich mich darauf hätte gefasst machen müssen, denn an dem Grund bin ich nicht ganz unbeteiligt.

    Und nun ist alles ein großes Nichts geworden.

    Ich muss wohl doch eingeschlafen sein, denn ich erwache von allgemeiner Unruhe. Leute begrüßen und umarmen sich, als hätten sie den Weltuntergang ganz knapp überlebt. Ich bin die einzige, die noch auf den Wartestühlen sitzt, und als die Situation endlich in meinem Gehirn angelangt ist, überfliegen meine Augen bereits die Halle. Es sind zu viele Körperteile im Weg, also warte ich, bis sich der Ankunftsterminal lichtet und die Schiebetüren nicht alle zwei Sekunden aufschnellen. Zwischen den letzten verirrten Personen entdecke ich sie.

    Auf dem Boden vor ihrem Koffer hockend.

    Wühlend zwischen den Dingen. Aufwühlend.

    Vielleicht versteckt sie etwas, bevor sie mich trifft. Ich und ihr altes Leben treffen sie wie eine Kriegsverwundung. Vielleicht ist auch gar nichts dabei.

    Und dann streift ihr Blick den Wartebereich und stoppt augenblicklich bei meiner Erscheinung. Einige Sekunden lang schauen wir uns an. Ich bleibe reglos sitzen. Mein Daumen zuckt, was er bei jeder Nervosität macht. Dol schließt ihren Koffer, hievt ihn auf den Kuli neben die anderen beiden, die einen längeren Besuch versprechen. Ich sehe mich nach den nächstgelegenen Notausgängen um. Ihre Pumps klacken auf dem gebohnerten Fußboden. Die gesamte Situation kommt mir so widersinnig vor, dass ich auf den lachenden Moderator warte, der die heimlichen Kameras aufdeckt. Hier … hier … uuuund hier in dem Gepäck zwischen der Unterwäsche. Dort ist das kleine Loch mit der Kamera, tadaa.

    Als sie vor mir steht, erhebe ich mich aus der Position, in der ich die letzten Stunden verweilt habe; mein Körper schmerzt und meine Beine sind eingeschlafen.

    „Das Parkhaus wird teuer", sage ich, weil es das erste und einzige ist, das mir einfällt.

    zwei

    Minneborg liegt etwa zwei Autostunden vom Flughafen entfernt, ganz verborgen, als wollte es sich vor dem Rest der Welt verstecken. Es heißt, wer sich hier einmal niedergelassen hat, wird nicht mehr wegziehen. Ich kenne allerdings genügend Menschen, die es gar nicht erwarten konnten, von hier wegzukommen.

    Vielleicht wollen sie alle in eine größere Stadt, nach Kryll zum Beispiel, wo es ein Einkaufszentrum auf drei Etagen und ein Kino mit Surround-Sound in allen Sälen gibt. Wenn ich mir einmal ein Bein brechen oder sich ein Tumor bei mir einnisten würde, käme ich in das Kryll Hospital. Bisher ist das noch nicht der Fall gewesen.

    Minneborg dagegen hat nur eine Hauptstraße vorzuweisen, auf der sich die meisten Geschäfte aufreihen. Es werden keine Lebensmittelläden durch große Supermarktketten ersetzt oder ganze Wohnhäuser für Parkplätze abgerissen. Alles bleibt wie es ist. Nicht einmal die jährlichen Feste und Aktivitäten werden erneuert. Darauf kann man sich stets verlassen. Ebenso wie auf die Tatsache, dass man sich keinen Film in unserem kleinen Kino ansehen kann, ohne jemanden zu treffen, den man kennt. Man kann keine obszöne Zeitschrift abonnieren, ohne dass Per, der Postbote, einem mit einem Auge zuzwinkert und man kann keine Mutter haben, die sich ohne Warnzeichen aus dem Staub gemacht hat, ohne dass man beim Bäcker oder beim Haareschneiden darauf angesprochen wird. Den mitleidigen Gesichtern auszuweichen erschien mir praktisch unmöglich, ein banales Gespräch anzufangen, das nicht irgendwann zwangsläufig bei der Wieso-nur-Frage endet, erwies sich als aussichtslos. Da teilt sich die Stadt auf einmal in zwei Hälften. Die eine gibt einem unnötige Ratschläge und kocht Suppen für einen, die man nicht einmal mag, und die andere hört auf zu tuscheln, wenn man zu nahe kommt. Die wenigen Menschen, denen das alles egal ist, waren mir in den Jahren am liebsten.

    Das Geheimnis daran ist eine gute Beziehung zur Zeit. Man muss nur warten, bis neue Schlagzeilen und Themen an der Oberfläche brodeln, dann hat alles wieder zu seiner scheinbaren Normalität gefunden.

    Erst als wir schon einige Kilometer auf der Autobahn sind, hört Dol auf, ständig die Radiosender zu verstellen, die ich hören will. Wir hatten noch nie denselben Musikgeschmack.

    Ich kann mich kaum auf die Straße konzentrieren, weil ich sie immerzu anstarren will. Ich möchte sie fragen, wie es in Amerika war, wie ihr Leben bisher so verlaufen ist, ob sie schon früher zurückkommen wollte oder es niemals vorgehabt hat und seit wann sie diesen ausgefransten Bob als neue Frisur trägt. Und dann bin ich mir nicht sicher, ob ich die Antworten wirklich wissen will. Vielleicht würde ich mir im Nachhinein wünschen, ich hätte es nicht erfahren, doch dann schwebten die Wahrheiten so zwischen uns im Auto herum und endeten im besten Fall im Kofferraum. Aber aus meinem Kopf wären sie nicht fortzujagen und dort ist sowieso gerade zu viel los. Alles, was ich gern aussprechen möchte, doch einfach nicht über meine Lippen kommt, bereitet mir Kopfschmerzen.

    Diesen Moment, meine Mutter nach all den holprigen Jahren wiederzusehen, habe ich mir schon so oft vorgestellt, dass ich ihn nicht mehr zählen kann,

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