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Das Kloster der höchsten Seligkeit
Das Kloster der höchsten Seligkeit
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eBook304 Seiten4 Stunden

Das Kloster der höchsten Seligkeit

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Über dieses E-Book

Thomas und sein Sohn Daniel haben eine nostalgische Pilgerreise zu den 88 Tempeln von Shikoku (Japan) unternommen. Dabei ist es ihnen nach Jahren der Entfremdung gelungen, sich miteinander und mit ihrer tragischen Familiengeschichte auszusöhnen.
Auf der Rückreise erreicht sie in Tokio der Hilferuf eines alten Freundes der Familie. Die Suche nach dessen verschollener Tochter wird für sie zu einer abenteuerlichen Reise, die sie bis in die hintersten Winkel Chinas und schließlich bis nach Nepal führt. Dort offenbart sich ihnen ein seit Jahrzehnten gehütetes Geheimnis, das ihnen die Augen für die wahren Hintergründe ihrer tragischen Familiengeschichte öffnet und das ihrer beider Leben für immer verändern wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Nov. 2022
ISBN9783347572614
Das Kloster der höchsten Seligkeit
Autor

C.D. Gerion

Geb. 1955, hat der Autor erst nach einem äußerst lehr- und abwechslungsreichen Leben die Zeit und die Freiheit zum Schreiben gefunden. Lebensweg: Aufgewachsen in der norddeutschen Provinz, High School-Abschluss als Austauschschüler in den USA, Abitur in Deutschland, Studium der Ökonomie und der Sinologie in Hamburg, Tokio, Taipei und Hong Kong, Promotion zum Dr. rer.pol.; Attachéausbildung im Auswärtigen Amt. Langjährige Tätigkeit im Auswärtigen Dienst, zuletzt 9 Jahre als Leiter diverser Auslandsvertretungen. Einsatz vor allem in Ostasien (China insgesamt 6 Jahre, Japan 12 Jahre). Schreibmotivation: Spannende Unterhaltung zu bieten, dies aber durchaus mit Tiefgang sowie in kritisch-aufklärerischer Tradition und Intention. www.cdgerion.de

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    Buchvorschau

    Das Kloster der höchsten Seligkeit - C.D. Gerion

    10. Juni, früher Abend

    N28⁰ 49´ 18.196´´, E83⁰ 53´ 9.127´´

    Meine lieben Eltern (ja, das seid Ihr für mich noch immer)!

    Was geschehen ist, tut mir so leid! Ich kann nur hoffen, dass Ihr eines Tages versteht und verzeiht.

    In meiner jetzigen Lage (ich bin hier hoch in den Bergen verunglückt) muss ich davon ausgehen, dass ich keine Gelegenheit mehr bekommen werde, Euch all das persönlich zu sagen, was jetzt noch zu sagen ist. So bleibt mir nur der Vorsatz, wenigstens das Wichtigste noch zu Papier zu bringen, ehe ich zu schwach werde, um überhaupt noch leserlich schreiben zu können. Und schließlich kann ich nur hoffen, dass dieses Notizbuch mit meinem ‚Abschiedsbrief‘ eines Tages in Eure Hände gelangt.

    Ich weiß nicht mal, wann ich Euch das letzte Mal überhaupt einen Brief geschrieben habe – vermutlich mit siebzehn, den Gruß aus den Sprachferien in England, den man uns dort zu Übungszwecken hat schreiben lassen ...

    Ja, ich bin im Zorn gegangen und ich habe Euch getäuscht – das tut mir jetzt leid. Aber was habt Ihr erwartet, nachdem Ihr mir so spät erst die Wahrheit eröffnet habt. Und dann noch die Zumutung, ich möge diese Wahrheit für mich behalten, ‚aus Rücksicht‘ – Rücksicht auf die Gefühle anderer!

    Und was ist mit meinen Gefühlen?

    Wie, dachtet Ihr, sollte ich denn dann umgehen mit dieser Wahrheit, die mir die Welt geraubt hat, an die ich geglaubt hatte?

    Nein, Eure Begründungen haben mich nicht überzeugt. Ist es etwa normal, dass Ihr und Eure einst ‚besten Freunde‘ all die Jahre nicht fähig gewesen seid, das, was nun mal passiert ist, wie erwachsene Menschen offen zu klären?

    Dabei gebe ich meiner Mutter noch am wenigsten Schuld. Sie ist ja wohl diejenige gewesen, die unter dem, was geschehen ist, am meisten gelitten hat. Aber der einzige Mensch, von dem ich erfahren könnte, wie es seinerzeit wirklich gewesen ist, mit dem soll ich nicht reden ...

    Die späte Enthüllung, dass Ihr nicht meine leiblichen Eltern seid, hätte ich durchaus verkraftet. Ihr seid mir ja in jedem Fall gute und liebevolle Eltern gewesen. Aber nach den Zumutungen, die Ihr mit dieser Eröffnung verbunden habt, musste ich einfach weg.

    Und wohin? Nach Japan, natürlich, dorthin, wo meine leibliche Mutter ihre letzten Jahre verbracht hat. Wo anders hätte ich versuchen sollen, ihre Spur aufzunehmen?

    Aber nun das, was Euch, wie ich Euch kenne, jetzt erst mal das Wichtigste sein wird: Ihr denkt sicher, ich müsse verzweifelt gewesen sein, jetzt, wo ich dies schreibe – verzweifelt vor Schmerzen oder vor Hunger, verzweifelt, weil ich wohl nur noch wenige Wochen zu leben habe.

    Nein, ich kann Euch versichern, in diesem Moment verspüre ich überhaupt keine Verzweiflung. Insofern ist meine spirituelle Reise wohl nicht ganz vergebens gewesen.

    Ich habe intensiv geübt, Gleichmut zu entwickeln gegenüber allem, was mir widerfährt. Ja, man kann negative Gefühle wie Frustration, Angst oder Verzweiflung durch intensives geistiges Training tatsächlich weitgehend unter Kontrolle bringen. Darüber hinaus habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass das ganze Leben nur aus einem einzigen flüchtigen Moment besteht, dem, den man ‚Jetzt‘ nennt. Wer diesen Moment verpasst, verpasst alles. Vielleicht habe ich damit auf meiner Reise sogar alles gewonnen, was es auf diesem Weg überhaupt zu gewinnen gibt.

    Dass ich darüber jetzt wahrscheinlich mein Leben verliere, ist nicht das Schlimmste. Was mir wirklich Schmerzen bereitet, ist die Tatsache, dass ich Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten, Menschen, die ich liebe, verraten habe. Ja, das, was mir tatsächlich am meisten leidtut, ist, dass ich Euch Leid zugefügt habe.

    Jetzt wird es zu dunkel, um weiterzuschreiben. Ich könnte zwar noch die Lampe meines Handys benutzen, aber das habe ich ganz ausgeschaltet, um den Akku zu schonen. Netz habe ich hier oben ohnehin nicht ...

    14. Mai, Tokio

    „Nach drei Wochen pilgern auf Shikoku fühlt sich das hier so an, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet", schreit Daniel mir ins Ohr.

    „Du konntest es ja gar nicht abwarten, wieder nach Tokio zurückzukommen", schreie ich zurück.

    Wir stehen schwankend in der überfüllten Monorail, unsere Rucksäcke zwischen die Beine geklemmt, klammern uns an den Halteriemen fest, und draußen tanzen die Lichter der Megacity vorbei, mal tief unter uns, mal weiter entfernt, mal direkt vor den Fenstern der Bahn.

    Ich hatte mir ja eigentlich vorgestellt, dass wir uns nach unseren drei Wochen äußerst herausfordernden Pilgerwanderns – gut siebenhundert Kilometer rund um Shikoku – noch ein paar schöne Tage am Meer gönnen würden – mit gemächlichen Strandspaziergängen, genussvollen Ausflügen quer durch die Speisekarte des Restaurants im Ashizuri Thermae Hotel und entspannenden Stunden im heißen Wasser des Außen-Pools mit dem herrlichen Blick auf den Pazifik hinaus. Daniel aber wollte ja nur noch so schnell wie möglich wieder hierher, nachdem seine Flugzeugbekanntschaft heute Morgen am Telefon so überdeutlich Interesse bekundet hat, ihn wiederzusehen ...

    Da fährt unsere Bahn aber auch schon in die Endstation ein: Hamamatsucho. Im zähen Strom der Menschenmassen der abendlichen rush hour lassen wir uns hinüber zur Yamanote Line schieben und drücken uns für die zwei Stationen bis Shinagawa nochmal in einen überfüllten Waggon. Anders als vor drei Wochen habe ich diesmal im New Takanawa Prince Hotel zwei Zimmer für uns gebucht, Daniel zuliebe. Er will ‚flexibel‘ sein in den zwei Tagen, die wir bis zu unserem Rückflug nach Deutschland hier jetzt noch zubringen werden. Der Junge verschwindet sofort in seinem Zimmer zwei Türen weiter. Er will sich vielleicht später noch ‚ein wenig in Shibuya umsehen‘. Erst einmal aber will er telefonieren.

    Mir aber reicht es für heute. Ich lade meinen Rucksack auf dem einen Sessel der Sitzecke ab, werfe meine hier viel zu warme Wanderjacke darüber, drehe den zweiten Sessel zum Fenster hin und lasse mich fallen.

    Wir sind hier im vierundzwanzigsten Stock. Draußen vor dem Fenster die vertraute, chaotische Stadtlandschaft dieser Megacity: Geschäftsviertel, die mit ihren Hochaustürmen wie zerklüftete Felseninseln aus dem unendlich scheinenden flachen Meer der Wohnbebauung herausragen. Hier und da auch mal ein augenfälliges, extravagantes Gebäude, das wie ein einsamer Fels im ringsum anbrandenden Häusermeer steht. Das Ganze wird von einem Netz breiter Durchgangsstraßen und aufgeständerter Stadtautobahnen durchzogen und ist von nur wenigen grünen Inseln durchsetzt. Die größten grünen Oasen, das Gelände des Kaiserpalasts und der Yoyogi-Park mit dem Meiji-Schrein, hat man hier nach Osten raus gar nicht im Blick. Ebenso wenig unser altes Wohnviertel südlich von Naka-Meguro, dem Daniel und ich vor unserem Aufbruch nach Shikoku noch einen nostalgischen Besuch abgestattet haben.

    Um auf die kleine Parkanlage um das Hotel herum hinuntersehen zu können, muss ich den Sessel noch näher ans Fernster heranrücken: Mittendrin im dichten Grün noch das alte Takanawa Price Hotel. In dem habe ich schon mal mit Angelika übernachtet, damals in unserer Kobe-Zeit ...

    Drüben dann die unzähligen Schienenstränge all der Bahnlinien, die sich hier an der Shinagawa Station in dichten Bündeln zusammenfinden. Ganz dahinten der markante rostbraune Turm des alten World Trade Center Building, der den Punkt markiert, an dem sich der Hafen von Tokio am weitesten ins Herz dieser Riesenstadt vorschiebt. Vorhin, beim Landeanflug auf Haneda, ist dieser Turm auch schon einmal kurz im Fenster neben Daniel aufgetaucht. Und als sich der Flieger noch tiefer in die Kurve gelegt hat, hatte man plötzlich fast die ganze Tokio Bay im Blick – den Kranz der aufgeschütteten Inseln und Halbinseln, die wie ein schartiges Wolfsgebiss in die Bay hineinragen, verbunden durch die Spangen zahlreicher Brücken, und darauf zusammengeballt das wilde Durcheinander von Hafen- und Industrieanlagen, Vergnügungsparks, Messehallen und Golfabschlagsplätzen.

    Man muss schon genauer hinsehen, um zu bemerken, dass sich hier in den letzten zehn Jahren doch etwas verändert hat. Das Bahnhofsgebäude unten hat man offenbar von Grund auf modernisiert, der ein oder andere der Hochhaustürme in der Nähe ist neu, und in der Ferne kann ich im Dunst sogar die Silhouette des brandneuen Tokio Sky Tree ausmachen.

    Ich bin erschöpft, aber gleichzeitig erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit. Als ich mich auf die dreiwöchige ‚Pilgerreise‘ mit meinem Sohn eingelassen habe, war ja keineswegs sicher, wie dieses Experiment ausgehen würde. Wie sich herausgestellt hat, hatte ich sogar unterschätzt, wie weit wir uns über die Jahre entfremdet hatten, und wieviel unausgesprochen zwischen uns stand.

    Dass ich es am Ende tatsächlich geschafft habe, ihm zu beichten, was mir so lange wie ein Mühlstein auf der Seele gelegen hat, und dass er es trotzdem weiterhin nur als bloßes Verhängnis sieht, was damals mit seiner Schwester passiert ist, macht mich froh und dankbar zugleich.

    Beinahe genauso wichtig ist mir, dass wir das mit Michiko klären konnten. Dass Daniel tatsächlich all die Jahre geglaubt hat, ich hätte seine Mutter damals in Kathmandu mit seiner japanischen ‚Kinderfrau‘ betrogen, war wahrlich ein Schock für mich ...

    Und dann auch noch der vergoldete Buddha aus der Kamakura-Zeit! Ich bin ja nicht abergläubisch, aber dass der mir zum Abschluss unserer Pilgerreise quasi in die Hände gefallen ist, erscheint mir jetzt fast wie ein Zeichen – Zeichen, dass unsere Pilgerreise unter einem besonderen ΄Segen΄ gestanden hat.

    Dabei habe ich mir nicht mal die Zeit genommen, diesen kleinen, vergoldeten Bronzebuddha näher in Augenschein zu nehmen. Ich stemme mich aus dem Sessel, um das gute Stück jetzt endlich ans Tageslicht zu holen. Ich kann nur hoffen, dass es im Rucksack keinen Schaden genommen hat, als ich den mit Gewalt in das Gepäckfach über unserer Sitzreihe quetschen musste. Es war ja nur notdürftig geschützt durch das Zeitungspapier, in das es die beiden Alten gewickelt hatten ...

    Nein, zum Glück ist er unversehrt. Wirklich ein schönes Stück! Ich stelle ihn auf das Nachttischchen neben dem Bett und lege mich hin. Ich sehe ihn noch auf mich herunterlächeln, bevor mir die Augen zufallen.

    *

    Mindestens zwei Wochen lang hatte ich meine Mails nicht mehr gecheckt. Etwas Wichtiges oder gar Dringendes war nicht zu erwarten. Die Kollegen wissen ja, dass ich in Kur bin. Auch diese eine Nachricht hätte ich eben beinahe gelöscht, weil ich mit dem Absender zunächst nichts anfangen konnte: Bernhard Kästner.

    Erst im letzten Moment hat es bei mir geklingelt. Angelikas alten Freund Bernd haben Daniel und ich in unseren Gesprächen unterwegs auf Shikoku sogar ein- oder zweimal erwähnt. Aber Kontakt habe ich mit dem ja schon seit Jahren nicht mehr.

    Die Nachricht ist am 11. Mai eingegangen – also vor drei Tagen bereits. Ich lese sie jetzt schon zum zweiten Mal.

    Mein lieber Thomas,

    eigentlich hätte ich dich lieber gleich telefonisch gesprochen. Wir haben aber nun schon so lange keinen Kontakt mehr gehabt, dass ich nicht einmal mehr Deine aktuelle Telefonnummer kenne ...

    Immerhin habe ich jetzt herausfinden können, dass Du inzwischen in Bangladesch stationiert bist. Ein Anruf in Dhaka ergab allerdings nur, dass Du Dich zurzeit im Urlaub befindest und sie mir Deine Privatnummer nicht rausgeben dürfen. Ich kann also nur hoffen, dass Deine alte E-Mail-Adresse noch stimmt.

    Bitte melde Dich doch so schnell wie möglich zurück. Marie und ich sind in größter Sorge um Sophie, Angelikas Patentochter, die ja auch Du ein paarmal gesehen hast, als sie noch ganz klein war. Wir haben seit über zwei Monaten kein Lebenszeichen von ihr. Alle Spuren, die wir bisher verfolgt haben, haben ins Nichts geführt. Unser Problem: Sophie war für ein Auslandssemester in Japan, als sie verschwunden ist.

    Du bist doch mit Angelika zweimal für längere Zeit dort auf Posten gewesen. Marie und ich sehen es geradezu als göttliche Fügung an, dass es nun so aussieht, als ob Du eher als jeder andere in der Lage wärest, unsere Tochter dort aufzuspüren.

    Wir bauen auf Dich und beten für eine möglichst baldige Reaktion von Dir.

    In alter Verbundenheit

    Bernhard und Marie Kästner

    P.S.: Hier vorsorglich auch noch mal unsere

    Telefonnummer ...

    ΄Göttliche Fügung΄ – nun ja, der Bernd ist nun mal Pastor.

    Allerdings habe ich schon beim ersten Lesen dieser Formulierung an die letzte Nachricht meiner Pilgerbekanntschaft aus Shikoku denken müssen, dieses seltsamen Priesters aus Österreich, der mehrmals unseren Weg gekreuzt hat. An seine Ankündigung eines 'Rufs΄, der mich erreichen werde. Unsinn, natürlich, dass mir ausgerechnet das jetzt in den Sinn kommt. Aber nach einem unzuträglich langen Aufenthalt in einer religiös aufgeladenen Umgebung wie einem Pilgerpfad ist es vielleicht nicht ganz ungewöhnlich, wenn man plötzlich anfängt, in allem irgendwelche 'Zeichen΄ zu sehen ...

    Bei Licht besehen liest sich das ganze doch eher wie ein Erpresserbrief. Was geht mich Bernds Tochter Sophie eigentlich an? Anders als er da schreibt, habe ich diese Sophie überhaupt nur ein einziges Mal gesehen. Muss beim ersten und gleichzeitig letzten Mal gewesen sein, dass Angelika und ich nach der Geburt dieses Mädchens noch mal gemeinsam bei Bernd und Marie vorbeigeschaut haben. Da kann die Kleine kaum älter als zwei Jahre gewesen sein. Kann mich nur noch erinnern, dass es ein ziemlich munteres Mädchen war, und dass sich Angelika beim Abschied so sehnsüchtig nach ihr umgedreht hat, dass es sogar Marie zu viel wurde. Ich weiß noch, wie ich auf der Weiterfahrt zu Angelika gesagt habe, da sollten wir nie wieder hinfahren, und wie sie mir daraufhin heftig zugenickt hat.

    Noch dreister ist diese Mail, wenn man bedenkt, dass und warum wir seit fast zehn Jahren nun schon keinerlei Kontakt mehr miteinander gehabt haben. Ich habe sie noch im Ohr, Bernhards völlig unpassenden Bemerkungen und seltsamen Fragen damals, als er und Marie sich nach Angelikas Beisetzung von mir verabschiedet haben: Ob mir klar sei, wie sehr sie beide meine Frau gemocht hätten. Und wie glücklich sie mit ihrer Tochter seien, wie prächtig die sich entwickle. Und ob mir Angelika nicht vielleicht doch einen Brief oder sonst irgendeine Nachricht hinterlassen hätte ...

    Außerdem, wie stellt der sich das eigentlich vor? Dass ich mich einfach mal so aus meinen beruflichen Verpflichtungen ausklinken kann, um seine Tochter zu suchen? Er kann ja nicht wissen, dass ich mir gerade selbst eine Auszeit genehmigt habe – und noch weniger, dass ich jetzt zufällig auch noch in Japan bin ...

    Der Vorwahl der angegebenen Telefonnummer nach scheint der Gute ja immer noch auf seiner Pfarrstelle in Warendorf bei Münster zu sitzen.

    Kurz nach zehn. Dann ist es dort kurz nach dreizehn Uhr. Und heute ist Donnerstag. Dann müsste er jetzt eigentlich zu Hause sein ...

    *

    Ich habe gerade erst aufgelegt, da klopft Daniel an meine Zimmertür. Ja, er hat mit seiner Flugzeugbekanntschaft telefoniert, aber nur kurz. Die haben für heute Abend noch eine zusätzliche Probe ihres Kammerorchesters angesetzt – für ihr Konzert in der Suntory Hall am Sonntag. Jetzt hat er sich mit ihr für morgen früh verabredet.

    „Rate mal, mit wem ich gerade telefoniert habe, sage ich. Der Junge sieht mich nur fragend an. „Jemand, mit dem ich seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr gehabt habe.

    „Mach΄s nicht so spannend, Dad. Ich weiß ja nicht mal, mit wem du in den letzten zehn Jahren überhaupt Kontakt gehabt hast. Wie soll ich dann wissen, mit wem alles du keinen Kontakt hattest ..."

    „Über den haben wir aber erst kürzlich gesprochen."

    „Etwa Mom's alter Freund, dieser Pastor?"

    „Genau! Von dem hatte ich eine Nachricht in meinem Posteingang."

    „Oh Gott, was will er denn?"

    „Dass wir ihm seine Tochter suchen."

    „?"

    „Die ist verschollen, war aber zuletzt hier in Japan, zum Studium."

    „Woher wusste der denn, dass du gerade in Japan bist?"

    „Das ist es ja gerade – er hatte keine Ahnung. Aber er wusste natürlich, dass wir mit Mom zuletzt in Tokio gewesen sind und uns deshalb hier auskennen müssten."

    „Wie alt ist diese Sophie überhaupt?

    „Du weißt doch, die ist genau in der Zeit geboren, als wir beide in Kathmandu waren, müsste jetzt also so Anfang zwanzig sein."

    „Dann ist die ja erwachsen. Könnte es nicht sein, dass die gar nicht gefunden werden will?

    „Genau das habe ich ihren Vater auch gefragt. Sag' mal, wollen wir uns nicht noch kurz oben in die Bar setzen? Dann erzähle ich dir alles. Ich kann jetzt sowieso nicht schlafen."

    Schon bei der Fahrt in den neununddreißigsten Stock kommt die Frage, mit der ich gerechnet habe. „Du erwartest jetzt aber nicht, dass ich dir bei dieser Suche helfe, oder?"

    „Darüber reden wir später, sage ich. „Ich bin mir ja noch nicht einmal sicher, ob ich selber das überhaupt mache.

    Hier oben haben wir die Wahl zwischen gleich mehreren Bars. Daniel strebt direkt auf die ‚Nine Bar‘ zu, aus der man schon von hier draußen laute Disco-Musik hört. ‚DJ Time untill 23:45 p.m.‘ steht auf der Anzeigetafel neben dem Eingang – darunter ganz klein ‚cover charge 2.169 Yen‘.

    „Die spinnen ja wohl, sage ich, „außerdem versteht man da drin ja wahrscheinlich sein eigenes Wort nicht.

    „Aber man hat eine tolle Aussicht über die Stadt", sagt mein Sohn, der einen Blick durch die Glastür geworfen hat – aber dann folgt er mir doch, wenn auch zögernd.

    Durch den weit offenen Eingang der spärlich neonblau beleuchteten ‚AWA Lounge‘ dringt nur leiser Hintergrundjazz und durch die Panoramafenster kann man schon von hier aus die Lichter der benachbarten Hochhaustürme sehen. Die Plätze am Fenster sind an diesem Samstagabend natürlich alle besetzt. Aber wir wollen ja eigentlich sowieso bloß reden.

    Nachdem wir uns ein Bier bestellt haben, fasse ich erst mal zusammen, was der Herr Pastor mir am Telefon berichtet hat. Seine Sophie hatte angefangen, an der Uni in Hamburg Japanologie zu studieren. Nach den ersten zwei Semestern ist sie Ende Oktober letzten Jahres nach Tokio gegangen, um dort ein halbes Jahr lang intensiv Japanisch zu lernen. Ihre Eltern hatten zum letzten Mal vor über zwei Monaten per Skype Kontakt mit ihr dort. Danach ist sie auch per Telefon oder E-Mail nicht mehr erreichbar gewesen. Als Bernd und Marie schließlich herausgefunden haben, dass das Spracheninstitut, an dem ihre Tochter angeblich studiert hat, gar nicht existiert, haben sie die Polizei in Deutschland und die Botschaft in Tokio eingeschaltet – ohne jedes Ergebnis.

    „Aber ohne Studienplatz kann sie doch auch kein Studentenvisum gehabt haben, wirft Daniel ein. „Dann hätte sie ja sowieso nur drei Monate hier im Land bleiben dürfen.

    „Frag mich was Leichteres. Jedenfalls hatten Bernd und Marie bis vor zwei Wochen keinerlei Anhaltspunkte für die Suche nach ihrer Tochter. Dann aber haben sie herausbekommen, dass die vor Ihrer Abreise nach Japan einer Studienkollegin in Hamburg nicht nur ihre Möbel, sondern auch ihren Laptop verkauft hat. Den konnten sie zurückkaufen und mit Hilfe eines Bekannten gelöschte Daten darauf wiederherstellen. Da haben sie entdeckt, dass Sophie sich in ihren letzten Monaten in Deutschland immer intensiver mit Meditation oder Buddhismus beschäftigt hat. So ist sie anscheinend mehrmals nach Düsseldorf gefahren, um dort im Hofgarten an irgendwelchen ' spirituellen Übungen' irgend so einer Sekte teilzunehmen. Und jetzt kommt΄s: Darüber hat sie sich regelmäßig auch mit einem gewissen John aus Tokio ausgetauscht, der dieser Sekte offenbar auch angehört. Das ist also die Spur, der wir nachgehen sollen."

    „Ist das nicht reichlich vage?"

    „Eigentlich schon. Aber Sophies Vater ist immerhin noch darauf gekommen, dass es sich bei dieser Sekte um die Falun Gong handeln muss. Hätte ich ihm natürlich gleich sagen können. Dass Sophie ausgerechnet bei diesem fragwürdigen Verein gelandet ist, finde allerdings auch ich etwas bedenklich.

    „Sind die nicht eher harmlos? Ich weiß nur, dass diese Sekte in China gegründet worden ist, aber dort inzwischen verboten ist, weil sie der Regierung zu populär wurde", meint Daniel.

    „Die sind schon etwas dubios. Der Gründer der Sekte behauptet, übernatürliche Kräfte zu haben. Außerdem verbietet er seinen Anhängern, zum Arzt zu gehen, weil sie angeblich gar nicht krank werden könnten, wenn sie seine spirituellen Übungen nur richtig praktizierten. Der hat sich, soweit ich weiß, inzwischen auch in die USA abgesetzt."

    „Wenn die Sophie auf diesem speziellen Sektentrip ist, warum ist sie dann nicht gleich in die USA gegangen, um dort die Nähe des Meisters zu suchen. Warum dann der Umweg über Japan?"

    „Genau das habe ich Bernd auch gefragt. Und weißt du, was er geantwortet hat? Seine Tochter hätte schon als Kind ein besonderes Interesse für alles Japanische entwickelt – und zwar, weil unsere Mom ihr angeblich so davon vorgeschwärmt hätte. Das soll in der Zeit gewesen sein, als wir in Tokio waren. Da hätte Mom öfter mal länger mit Sophie telefoniert."

    „Na und? Kann doch sein. Immerhin ist Mom doch Sophies Patentante gewesen."

    „Nun ja. Dass sie sich hat breitschlagen lassen, diese Patenschaft zu übernehmen, habe ich nie so ganz verstanden. Das war ja kurz nachdem das mit deiner Schwester passiert war. Dass ausgerechnet zu der Zeit ihre beste Freundin Marie eine Tochter bekommen hat, hat Mom's Depressionen damals ja noch mal verschlimmert ... Aber egal, das Ganze ist inzwischen schließlich fast zwanzig Jahre her." Der Kellner fragt schon zum zweiten Mal, ob

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