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Der Hebräerfall
Der Hebräerfall
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eBook364 Seiten5 Stunden

Der Hebräerfall

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Über dieses E-Book

Eine Serie grausamer Morde, die an Hinrichtungen erinnern, erschüttert den verschlafenen, idyllischen Landkreis Ludwigsburg in Baden-Württemberg. Die Opfer weisen auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zueinander auf. Der junge Ermittler Leo Jäger und sein Zwillingsbruder Luca geraten mit dem ermittelnden Kripo-Beamten Harry Schwarz im Kampf gegen die Zeit in einen gefährlichen Sog aus Grausamkeit, Wahnsinn, Verbohrtheit und Fanatismus, der sie im Meer der Gelähmtheit und Angst zu verschlingen droht und sie müssen Stück für Stück erkennen, dass nichts so ist wie es den Anschein hat. Als Luca verschwindet, wird klar, dass der Täter vor nichts zurück schreckt, um seine Ziele zu erreichen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum7. Jan. 2020
ISBN9783748725534
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    Buchvorschau

    Der Hebräerfall - Noa Winter

    Prolog

    Es gibt kein Schicksal, sagte Großvater immer. Man trifft Entscheidungen.

    Ich sehe es heute genau wie er. Jeder Mensch trifft eine Entscheidung und bestimmt damit das Kommende.

    Es gibt Zufälle. Aber mehr nicht.

    Zufälle können im richtigen Moment Gutes bewirken. In unserem Fall war dem so.

    Und damit hatten wir sicher nicht gerechnet.

    Wir, das sind mein Bruder Luca und ich.

    Zwillinge - zweieiig.

    Ich bin – und darauf legen alle Zwillinge Wert! - der etwa zwölf Minuten Ältere. Auch, wenn Luca das nicht gerne hört.

    Zwölf Minuten sind in einem durchschnittlich achtzig Jahre langen Leben im Prinzip gar nichts. Aber wie man das eben so unter Zwillingen kennt: da zählt jede Minute.

    Das ist eigentlich auch schon die einzige Sache, die Differenzen unter uns beiden hervorruft.

    Wir haben so viel gemeinsam und sind dennoch unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch stets ein Herz und eine Seele.

    Es begann schon als wir noch im Bauch unserer Mutter waren. Schon während der Schwangerschaft war ihr und Vater klar, dass ihre Jungen Leo und Luca heißen werden. Sie hatten diese Namen also mit Sorgfalt gewählt. Das war vor 25 Jahren.

    Nun gut.

    Dann wäre zu erwähnen, dass wir uns auch im Aussehen etwas unterscheiden.

    Bei zweieiigen Zwillingspaaren generell nichts Ungewöhnliches. In unserem Fall bedeutet das, dass ich circa zehn Zentimeter größer bin als Luca. Dann ist da die Statur, bedingt durch unsere Hobbys.

    Sicher, wir teilen die meisten. Zum Beispiel Filme sehen, Konsolenspiele, Kino, Autos.

    Aber im Gegensatz zu Luca bin ich leidenschaftlicher Kampfsportler. Genauer gesagt: ich praktiziere Kickboxen. Zweimal die Woche. Luca dagegen ist da eher der gemütlichere von uns beiden. Er liest gerne. Am liebsten Krimis. Und er liebt Dokus im TV. Und zwar sämtliche.

    Das alles in die Waagschale gelegt kann man sich nun wahrscheinlich eher vorstellen wie unsere Staturen sind: ich bin der athletische Typ Kerl, dessen Muskeln sich an den richtigen Stellen abzeichnen; Luca dagegen hat keine Ansätze von Muskeln und wirkt eher schlaksig, fast dünn.

    Aber das ist völlig in Ordnung.

    Warum, fragt man sich an dieser Stelle sicher. Nun, weil es zu unseren Charakteren passt, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten: Ich bin der extrovertierte, draufgängerische Typ mit der großen Klappe, mein Bruder ist der ruhige und eher schüchterne Typ.

    Auch unsere Gesichter sind unterschiedlich. Wir haben beide braune Haare, wobei meine die Durchschnittslänge eines jungen Mannes haben. Mit Haarspray reicht es zu angesagten Frisuren, sei dazu erwähnt. Luca‘s Braun in den Haaren ist heller, zudem trägt er sie länger und durchgestuft. Wäre mir viel zu viel Arbeit jeden Morgen im Bad, aber hey, er ist eitel! Dann wären da noch die Gesichtszüge zu erwähnen: meine sind deutlich härter, was mein Gesicht unnahbarer wirken lässt. Wenn jemand ein Problem hat, geht man daher meist auf Luca zu.

    Luca hat ohnehin ein Talent dafür, zwischen Menschen zu vermitteln. Er kommt ganz nach unserer Mutter.

    Ich dagegen bin aufbrausend und schnell auf hundertachtzig. Genau wie Vater. Ich denke, das ist auch der Grund, warum wir schon immer ein Herz und eine Seele waren.

    Und vor allem unzertrennlich.

    Manche mögen ihre Geschwister nicht. Vielleicht hassen sie einander ja sogar im schlimmsten Fall, wenn etwas vorgefallen ist.

    Die meisten Menschen verstehen sich jedoch im Allgemeinen gut mit ihren Geschwistern.

    Aber dann, irgendwann in der Pubertät, verliert man das Auge für diese Bindung.

    Man verliebt sich. Das erste Mal. Dann das zweite Mal. Dann wieder und wieder.

    Und mit jedem Mal entfremdet man sich mehr von der familiären Bande.

    Man findet neue Freundeskreise, zieht mit dem Partner umher und beginnt, mit diesem einst so fremden Menschen alles zu teilen. Jedes noch so kleinste Geheimnis.

    Und der Geschwisterteil... er bleibt zurück, um dann irgendwann ebenso diese Prozedur durchzugehen.

    Vielleicht, weil er zurückgelassen wurde und es weitergehen muss.

    Vielleicht aber auch deshalb, weil ihm die Geschwisterbande noch nie so wichtig waren wie die sexuelle Bindung zu irgend jemand Fremden, mit dem man dann irgendwann das Intimste teilt.

    Das klingt jetzt vielleicht etwas hart formuliert, aber im Prinzip ist es ja so und nicht anders.

    Man kennt einander ein Leben lang, seit der Geburt.

    Man wächst zusammen auf, verbringt die Kindheit miteinander, spielt zusammen, lacht oder weint zusammen, hat Geheimnisse miteinander und ist in der Regel immer füreinander da und vertraut dem anderen blind.

    Und dann kommt jemand anderes. Und von da an ändert sich alles. Für immer.

    Sicher, man hat dann natürlich immer noch Kontakt zu seinen Geschwistern.

    Aber es wird niemals wieder so sein wie früher.

    Sobald man eine eigene Familie gegründet hat, nein, sobald man in einer Beziehung ist, dann ist es vorbei.

    Wahrscheinlich werden mich an dieser Stelle die wenigsten nachvollziehen können.

    Weil man ja auch Ärger hat mit Geschwistern. Und weil manche vielleicht um einige Jahre älter oder jünger und damit die Interessen zu verschieden sind.

    Ich beziehe mich hier auf Geschwisterpaare, die nicht mehr als drei oder vier Jahre auseinander sind vom Alter her.

    Jedenfalls lange Rede, kurzer Sinn:

    Aufgewachsen sind Luca und ich in einer ländlichen Gemeinde in Baden-Württemberg. Kleiningersheim.

    Nichts besonderes auf den ersten Blick, wenn man an die Nester auf dem Lande denkt. Aber da täuschen Sie sich mal lieber nicht. Kleiningersheim hat ein eigenes Jagdschloss. Und unsere Gemeinde hat bereits als Kulisse für eine TV-Sendung gedient. „Die Kirche bleibt im Dorf" heißt diese und ich wette, spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Kleiningersheim viel mehr Menschen ein Begriff als es bis dato war.

    Im Prinzip ist der Großraum Ludwigsburg ja ohnehin für seinen Weinbau bekannt und wer hier schon einmal durch die umliegenden Ortschaften gefahren ist, dem dürften die steilen, an manchen Stellen champagnerfarbenen majestätischen Felsen mit den vielen akkurat in Reihen angeordneten Reben aufgefallen sein, die im Sommer von der Sonne verwöhnt werden und im Herbst prächtig leuchten. Keine Frage, Baden-Württemberg ist nicht umsonst für seinen exquisiten Wein bekannt.

    Und für seine romantischen Altstadt-Kerne, die von vergangenen, längst vergessenen Zeiten erzählen mit dem freigelegten Fachwerk, das den Betrachter von dem erstaunlichen Können der Menschen von damals berichtet.

    Da soll mal noch jemand von den „mittelalterlich rückständigen Zeiten" sprechen.

    Wenn man sich da die sogenannten architektonischen Meisterbauten der heutigen Fachmänner ansieht, diese nackten würfelförmigen Klötze in Übergröße mit Fenstern von ganz oben bis nach unten, das jeder schwäbischen Hausfrau Albträume bereitet, da kann man nur im Unverständnis den Kopf schütteln.

    Solche Bauten verschandeln das Flair der kleinen Ortschaften, durch die sich die Straßen schlängeln, dann zwischen den vielen kleinen Wäldern und entlang oder über die Flüsse, die zum Träumen anregen und niemals ein Ende zu finden scheinen.

    Der einzige optisch WIRKLICH störende Wermutstropfen in unserem schönen Landkreis ist das Windrad zwischen Ingersheim und dem Husarenhof, ganz oben am höchsten Punkt der Gegend.

    Aber seien wir mal ganz offen: in Zeiten von Atomkraft und Co. auf die ursprünglichen Naturgewalten wie Wasser, Sonne oder in dem Fall Wind zurückzugreifen ist doch wohl das mindeste, um Verantwortung für die kommenden Generationen zu übernehmen. Und so groß ist der „Schandfleck" ja auch nicht mal. Eigentlich muss man stolz auf das von Weitem zu sehende weiße, bei Nacht rot blinkende Ungetüm sein, denn man sieht hierbei wohl, zu was für Fortschritten wir Landeier fähig sind. Und Ingersheim hat hiermit einen großen Schritt getan.

    Als Kinder waren uns die Belange der Erwachsenen freilich egal gewesen. Wir waren alles gewesen außer besorgt. Das Jagdschloss war unser Lieblingsplatz. Wir waren Abenteurer, Schatzsucher, Piraten, Ritter, Drachentöter.

    Na gut, meistens war ich das alles und Luca musste nicht selten das arme Opfer spielen, das ich rettete und so meine Tugenden unter Beweis stellen konnte. Er machte es halt immer geduldig mit, wenn in unserer Fantasie das Schloss uns gehörte und ich, der Ritter, ihn, den Prinzen unseres Landes, vor feindlichen Heeren beschützen musste.

    Die Feinde waren selbstredend nichtsahnende Passanten, die eben mal mit dem Hund Gassi gingen oder ältere Ehepaare auf ihrem Verdauungsspaziergang. Ab und zu auch Jogger, die waren dann feindliche Spione oder Boten.

    Was hatten wir um das Jahrhunderte alte geschichtsträchtige Schloss herum, das sogar zeitweise als Krankenhaus im zweiten Weltkrieg umfunktioniert gewesen worden war, Spaß und Abenteuer erlebt!

    Angeheizt hatte uns natürlich unser Vater, der uns abends, getarnt als Gute-Nacht-Geschichten immer mal wieder einen Schwank aus der eigenen Kindheit erzählt hat und wie er selbst als Kind dies und das beim Schloss gefunden hatte in irgendwelchen Spalten und Höhlen in der Nähe – sogar verrostete Helme und Schwerter!

    Klar, dass wir uns da als Kinder nicht lumpen lassen wollten. Gefunden haben wir bis heute nichts, weil man viele dieser Spalten und den Geheimgang verschlossen hat, aber das tut der grenzenlosen Fantasie keinen Abbruch. Nicht einmal mit 25 Jahren.

    Unsere Eltern sind immer noch verheiratet – ganz spießig, wie das manche oberflächlichen Leute heute bezeichnen würden, denen Monogamie ein Fremdwort ist.

    Doch genau in der Zeit, in der unsere Gesellschaft einen steilen Absturz von Moral und Werten hatte, waren unsere Eltern eines der wenigen Beispiele, da sie jeden noch so großen Sturm in ihrer Ehe immer wieder überstanden anstatt feige davon zu laufen.

    Heute ist es gang und gäbe, wenn einem etwas nicht in den Kram passt, mit Sack und Pack auszuziehen. Das Scherbenmeer und die später kaputten Existenzen, die daraus entspringen, werden einfach totgeschwiegen. Hauptsache, es geht einem selbst gut. Einfach schnell den nächsten Partner her. Wie bei einem Ersatzteillager.

    Unsere Eltern haben sich von diesem kranken, familienfeindlichen Trend niemals beeinflussen lassen.

    Das Ergebnis? Zwei gesunde und ausgeglichene junge Erwachsene, die sie mit Stolz ansehen. Und sie gehen Hand in Hand den Weg ins Alter. Wie ich meine Eltern bewundere.

    In der Schule waren die meisten unserer Klassenkameraden – Luca und ich waren in der selben Klasse -  Scheidungskinder, die einen früher, die anderen später. Das Unverständnis darüber und die Verstörtheit über die entzwei gerissene Familie machte sich in Form von ADHS oder Aggressionen gegenüber anderen Kindern bemerkbar.

    Das hatte zur Folge, dass ich meine Energie in der Schule dafür einsetzte, den gepeinigten und gemobbten Kameraden zu helfen. Was wiederum dazu führte, dass ich und dadurch auch Luca recht beliebt in der Klasse waren.

    Nach dem Unterricht verließen wir die Schule und kehrten nach Hause zurück  - ein Eigenheim aus den 60ern, Erbe väterlicherseits, das Papa Stück für Stück renoviert hatte.

    Es liegt direkt an der Straße, die dann weiter durch den Wald nach Hessigheim führt. Von dort aus hat man im ersten Stock einen wunderbaren Ausblick abends nach Westen über die Felder und kann Rehe oder Feldhasen bei der Nahrungsaufnahme, dem Äsen, beobachten, während die Sonne am Horizont in den schönsten warmen Farben versinkt.

    Der angrenzende Garten lag gen Osten und wir frühstückten nicht selten im Sommer und Frühherbst draußen und genossen die Wärme und das Vogelgezwitscher am Morgen. Nachbarn, die zusahen? Nein. Wir hatten sehr nette Nachbarn und jeder war sehr feinfühlig, wenn der andere mal etwas Zeit mit der Familie im Garten verbringen wollte.

    Mom hatte ein breites Gemüsebeet angelegt, aber wir hatten auch eine große Eiche darin stehen, in deren Äste wir ein Baumhaus gebaut hatten. Es war unser ganzer Stolz als wir Kinder waren. Dad hatte uns natürlich geholfen, das Ding zu bauen. Es sieht heute noch aus wie damals. Selbst die Sprossenleiter steht noch da. Als würde sie uns sagen: Kommt nochmal hoch, eure Kindheit steckt hier drin und ich hüte sie wie einen Schatz für euch.

    Aber unsere Kindheit ging eben auch irgendwann vorbei.

    Mit 21 zogen wir aus. Luca hatte die Ausbildung zum Apotheker in Bietigheim beendet. Ich dagegen war Kriminalpolizist geworden, hatte die Ausbildung auch hinter mich gebracht mittels dualem Studium auf der Schule in Biberach und war nun ebenfalls in Bietigheim auf dem Revier stationiert. Nichts Weltbewegendes. Aber wir konnten es uns nun gut leisten, zu zweit in eine Wohnung einzuziehen, die nur eine Querstraße von unseren Eltern entfernt lag. Es war die obere Wohnung, von der aus wir auch wieder den Ausblick nach Westen genießen konnten. Wir waren zufrieden. Drei Zimmer. Wir zahlten die Wohnung in Raten ab. Was wollten wir mehr?

    Wir waren nun unabhängig von unseren Eltern und lernten die Vorteile und Nachteile des Erwachsenseins kennen. Und irgendwie waren es oft mehr Nachteile. Aber das Gute daran, erwachsen zu sein ist auch, dass man flirten kann, was das Zeug hält und niemandem Rechenschaft ablegen muss.

    Seltsamerweise: so sehr ich meine Eltern um ihre intakte Ehe bewundere, so sehr genieße ich meine Freiheit, die ich habe. Sicher will ich irgendwann auch eine Familie gründen. Unsere Eltern haben uns hohe moralische Werte mitgegeben. Aber jetzt nicht  - noch nicht.

    Mit der Ausbildung hatte ich hier und da mal eine Freundin gehabt. Nichts festes oder so. Es ist ja nicht so als hätte man besonders viel Zeit während der Ausbildung. Aber ich hatte es sehr genossen, bei den Mädchen so beliebt zu sein. Die körperlichen Strapazen in der Ausbildung zum Polizist, die Uniform und dann das Kickboxtraining zollten meinem Körper ihren Tribut. Nicht, dass es nach der Ausbildung bzw. während dem dualen Studium nachgelassen hätte.

    Neid musste ich von Luca diesbezüglich nie erdulden. Er war damit zufrieden, dass er eben kein Adonis war wie er im Buche steht. Sein fast knabenhafter Körper stand immerhin in der rechtmäßigen Relation zu dem Wissen, das er sich geistig angeeignet hatte. Über Medikamente, deren Zusammensetzung, Wechsel- und Nebenwirkungen oder dergleichen. Und man mag es kaum glauben, doch durch das jahrelange Ansehen von Dokus hatte er sich ein enormes Wissen über das Dritte Reich, die Antike, die Wissenschaft, Tiere, Religionen und Naturphänomene angeeignet.

    Ich konnte ihn zu irgendeiner Sache befragen, er wusste immer etwas dazu zu sagen.

    Kurzum vertrieben wir uns oft den Feierabend zusammen in der Altstadt in einer Kellerkneipe oder in einer Eisdiele.

    Ob uns das nie langweilig wurde, immer mit dem Bruder zusammen zu sein? Ganz ehrlich: nein. Nie.

    Zudem kannte man ja die Klassenkameraden aus der Schule, mit denen man sich dann auch privat hatte zu treffen begonnen.

    Sind alles eigentlich recht nette Leute, obwohl man dazu sagen muss, dass die meisten nicht gerade ums Eck wohnen und dass Luca bis auf einen weiteren Kerl nur Frauen in der Klasse gehabt hatte. Muss total cool sein, der Traum eines jeden Mannes.

    Aber nicht für Luca. Er war einfach schüchtern und vor allem sehr bescheiden. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum er damals nie eine feste Freundin hatte.  

    Aber das ist nicht schlimm, habe ich ihm dann gesagt, dann bleibt mehr für mich, bis du soweit bist.

    Ich bin sicher, dass er die Besonnenheit und die Schüchternheit von Mom hat und die im krassen Gegensatz zur strikten Geradheit von unserem Vater stehen. Aber gerade diese warmherzige Art, die auch so fürsorglich sein kann, steckt in ihm. Und damit holt er mich runter, wenn ich mal wieder einen Überfliegertrip habe oder schneller rede als denke.

    Vielleicht ist das der Grund, warum Luca und ich uns nach wie vor ein Schlafzimmer teilen. Weil wir uns so ergänzen, dass es kaum Streit gibt. Und natürlich weil dadurch ein extra Zimmer frei ist, das wir fürs Konsole zocken und als Büro nutzen.

    Frauenbesuch, so haben wir uns arrangiert, ist erlaubt, aber man spricht sich kurz vorher ab. Und klappt echt gut. Nicht zuletzt, weil Luca eh nie Mädels mit nach Hause bringt. Er hat eher die große Not, weil ich alle Frauen mag. Ob brünett, ob blond, ob schwarzhaarig, ob große Oberweite oder wenig, Leo Jäger liebt sie alle. Gut, lieben ist etwas übertrieben, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden.

    Wie man sieht, haben Luca und ich eine völlig gewöhnliche Kindheit hinter uns. Wir glaubten an den lieben Gott, an Partys und an das Geld, das wir verdienten. Was bis zu dieser Stelle ja auch absolut in Ordnung wäre und wegen dem man kein Buch schreiben müsste.

    Aber an dieser Stelle, noch nicht sehr lange im Leben der Erwachsenen angekommen, passierte etwas, das uns beide unser viel zu sorgloses Leben überdenken ließ und das uns noch viel mehr zusammenschweißte als wir es ohnehin bereits waren.

    Und wir mussten einsehen, dass das Böse auch uns hier auf dem Lande erreichte. Denn das Böse kennt keinen Halt. Vor niemandem.

    Kapitel 1

    Es begann als wir einen Nachmittag im späten August, dem bekanntlich heißesten Monat des Jahres neben Juli, in einem Eiscafé in der Bissinger Altstadt verbrachten, das sich zwischen den Läden befand, und an dem stets ein Strom Menschen vorbei zog, ob es warm war oder kalt, ob die Sonne schien oder ob es in Strömen regnete.

    Es war zu warm für einen deftigen Rostbraten oder ein Schnitzel, aber ganz leer wollte man den Magen auch nicht belassen, also hatte ich meinen Bruder kurzerhand auf einen Eisbecher eingeladen. Nicht zuletzt, weil Lucas Arbeitsstelle nur einig Meter entfernt davon lag. Wir wechseln uns beim Zahlen eigentlich immer ab, man kann fast sagen, wir haben eine gemeinsame Kasse.

    Wir saßen außen an einem der runden Tische und Luca löffelte immer noch an seinem Eisbecher – der Genießer, klare Sache - , während ich bereits mit meinem fertig war, die vorbeiziehenden Menschen musterte und wie gebannt an den langen Beinen der leicht bekleideten Mädchen hängen blieb, die so viel preis gaben, dass man sich in seiner Fantasie nicht mehr viel ausmalen konnte. Ich liebe den Sommer alleine schon wegen den tollen Ausblicken. Klar, oder?

    Aber dann zog eine Dame vorbei, bei der ich zweimal hinsehen musste, weil ich nicht glauben wollte, dass jemand so viele Krampfadern haben kann. Nun gut. Wo waren gleich nochmal die endlos langen, schönen jungen Mädchenbeine?

    Zwei Männer um die Fünfzig setzten sich an den Nebentisch. Mussten Bankangestellte sein oder sowas, denn sie trugen Anzüge, nur das Sakko fehlte, aber ganz stilecht und dem Klischee entsprechend trugen sie immer noch ganz obligatorisch ihre Krawatten über ihren Hemden mit den kurzen Ärmeln.

    Sie bestellten sich Eiskaffee. Irgendwie auch ganz klischeehaft.

    Dann zog einer der beiden eine Zeitung aus seiner Tasche.

    „Ich bin heute noch gar nicht zum Lesen gekommen", murrte er mit rauchiger Stimme und fing an, das Ding zu durchforschen. Das schwarz bedruckte Papier knisterte immer wieder, wenn er die Seiten umschlug. Der andere wartete geduldig auf seinen Eiskaffee und verfolgte den Passanten-Strom.

    Irgendwann aber wurde er ungeduldig und wollte eine Konversation beginnen.

    „Hast du schon den Artikel mit diesem grausamen Mord in Ludwigsburg gefunden?"

    Grausamer Mord? Ich wurde hellhörig. Nachrichten im Fernsehen oder Radio sind Medien, die ich eigentlich nicht oft nutze, weil ich ohnehin genug Ärger mit ansehen muss in meinem Beruf. Aber da war wohl offensichtlich was ziemlich am Brodeln bei den Kollegen in Ludwigsburg.  

    „Nein", brummte der andere in seinen nicht vorhandenen Bart hinein und blätterte weiter.

    „Schrecklich, zu was Menschen imstande sind", stellte der erste wiederum fest, kurz danach kam auch schon ihr Eiskaffee.

    Der Mann mit der Zeitung blätterte jedoch unbeeindruckt weiter, bis er gefunden hatte, was er gesucht hatte.

    „Da."

    Dann wurde er wieder still und las den Artikel. Ich fragte mich genervt, ob er den Artikel denn seinem Kollegen mit demanderen karierten Hemd nicht endlich mal vorlesen konnte.

    Irgendwann sah er wieder auf und begann, seinen Eiskaffee zu löffeln.

    Fein, ging das denn nicht noch langsamer?!

    Dann sah er seinen Kollegen endlich an. „Die haben keinerlei Spuren gefunden. Aber gut, ist ja auch erst einen Tag her. Da kann man eben noch nicht so viel sagen."

    „Hast du mal von etwas vergleichbarem hier in der Gegend gehört?"

    „Nein. Gott bewahre, nein, zum Glück nicht. Wäre je noch schöner."

    Aber wie kam er darauf? Was war da denn bloß passiert?

    Zum Glück fuhr er fort, sonst wäre ich wohl vor Neugier geplatzt.

    „Ich meine, ganz unter uns: wer ist schon so krank und steinigt jemanden, der sich nicht wehren kann, so lange, bis er daran stirbt?"

    Was?

    „Hey, hörte ich es plötzlich gegenüber von mir leise rüber zischen. „Belauschst du gerade etwa die Männer am Nebentisch?

    Ich fuhr erschrocken zusammen und sah geradewegs in Lucas große blaue Kulleraugen und er musste wegen meinem vermutlich dümmlich dreinblickenden Gesichtsausdruck lachen.

    „Erwiiiiischt."

    „Ha ha. Sehr witzig", maulte ich und lief rot an. Wenigstens hatte mein Bruder den Anstand gehabt, so leise zu sein, dass die Krawatten tragenden Schnösel es nicht bemerkten.

    „Was ist denn so wichtig?", wollte Luca nun natürlich wissen.

    Ich blies hörbar Luft aus. „Da hat wohl irgendein Verrückter jemanden in Ludwigsburg zu Tode gesteinigt."

    „Was?!"

    „Shhhh!"

    Ich deutete im mit einer Handbewegung, unauffällig zu sein, und schon sahen die beiden Herrschaften auch schon herüber.

    „Äh… zumindest finde ich, das Mädchen passt gar nicht zu dir!"

    Sehr schön aus der Patsche gerettet, Bruderherz, aber das war ein böses Foul… Ich hob die Augenbraue provozierend. „Welches? Ich kenne genug hübsche Damen."

    Die Männer sahen wieder weg und ich war erleichtert. Wobei es ja kein Weltuntergang gewesen wäre, wenn sie mich enttarnt hätten, immerhin war es ja nichts gewesen, das absoluter Geheimhaltung unterlag. Dennoch: jemanden zu belauschen ist, so haben uns die Eltern gelehrt, kein Kavaliersdelikt. Es gehört sich einfach nicht.

    Luca bog sich an unseren leeren Eisgläsern vorbei in meine Richtung.

    „Wie jetzt? Gesteinigt? Ist das dein Ernst?"

    Ich zuckte die Schultern. „Ja?"

    Damit gab er sich logischerweise nicht zufrieden. „Ja, und was weiß man bisher über den Täter oder die näheren Umstände? Weiß man in Bietigheim im Revier nichts darüber?"

    „Ich habe genug um die Ohren, entgegnete ich etwas entnervt. „Ich weiß auch nicht viel mehr als du! Das leiten die uns ohnehin nur weiter, wenn Hilfe vonnöten ist.

    Klar, man bekam in der Zentrale hier und da was mit. Aber wir hatten mehr als genug Arbeit hier, da blieb nicht viel Zeit für etwas anderes.

    Es war unser Glück, dass sich die beiden Männer weiter unterhielten.

    Der eine raschelte mit der Zeitung und sah hinein. „Sowas erwartet man vielleicht in einer Großstadt oder in den USA oder sonst wo. Aber nicht hier."

    Ja, da hatte er recht.

    Luca lauschte nun ebenso gespannt wie ich und kratzte mit seinem langen Löffel den letzten mittlerweile flüssig gewordenen Rest Eis in seinem hohen Glas heraus.

    Der andere Mann sah in der Straße umher und fächelte sich mit seiner Serviette kurz etwas Luft zu. „Ich hoffe, die Kripo bekommt dieses kranke Schwein zu fassen."

    Das hoffte wohl mittlerweile der gesamte Landkreis Ludwigsburg, vermutete ich.

    „Vor allem finde ich es sehr geschmacklos, die Leiche auch noch vor der Auferstehungskirche abzulegen."

    Aha. Da war die getötete Person also gefunden worden. Und ich meinte, der Name der Kirche wäre heute Morgen auch gefallen gewesen. Hätte ich bloß besser zugehört…

    Der mit der Zeitung hob den Kopf. „Ja, aber gesehen will wohl auch keiner was haben. Typisch deutsche Nächstenliebe. Die sind sich alle selbst der Nächste. Und dann kommt lange nichts mehr."

    Da musste ich ihm still beipflichten. Heute kann neben dir jemand einen Herzinfarkt erleiden und von zwanzig Menschen um dich herum gaffen neunzehn, während der zwanzigste damit ringt, ob er davonlaufen oder dir helfen soll. Oder vielleicht wenigstens den Notarzt rufen.

    Das bekommt jeder Polizist mit. Und zwar oft genug. Weil man den gaffenden Mob nämlich wegschicken, nein, förmlich davonjagen muss.

    „Nun, irgend jemand wird bestimmt was herausfinden. Wird halt wohl dauern ohne die Mithilfe von den Bürgern."

    Sie wechselten das Thema. Es ging um einen jungen Kollegen, der offensichtlich auf dem Überfliegertrip war.

    Aber die Kripo... das war das Stichwort. Wir hatten ja Verwandtschaft, die bei der Kripo in Ludwigsburg arbeitete. Genauer gesagt, es war unser Onkel. Der ältere Bruder unserer Mutter. Und ich hatte sogar ab und an das Vergnügen, ihn zu sehen, wenn er ermittelte und bei uns in Bietigheim hereinschneite.

    Sein Name war Harry Schwarz. Und er war schon seit wir denken konnten bei der Kripo. Er pendelte oft zwischen Stuttgart und Ludwigsburg umher und war schon immer eine Person gewesen, zu der ich aufsah. Man kann sagen, er war mein Vorbild.

    Wenn man von unserer Mutter auf ihn schließen würde, käme man wohl niemals auch nur auf die Idee, dass die beiden Geschwister sind.

    Warum? Nun, das beginnt schon beim Aussehen. Mom hat wie Luca hellbraune, längere Haare, unser Onkel hat dunkelbraune, glatte, kurze Haare, zwischen denen schon die ersten silbrigen verräterisch durchfunkeln.

    Mom sieht zwar auch jünger aus als sie mit ihren Mitte Vierzig ist, aber Harry wirkt eher wie Ende Dreißig als dass er fast Ende Vierzig wäre.

    Dann kommen noch die harten Gesichtszüge dazu, die er hat. Vermutlich hat er bereits viel Schlimmes gesehen und erlebt in seiner langen Karriere bei der Kripo. Mom‘s Gesicht dagegen war schon immer weich und unterstreicht ihr sanftes Wesen.

    Jedenfalls hatte Onkel Harry es seit wir denken konnten drauf. Er hatte jedoch nie ein Aufheben um seine geschärften Sinne und seine gelösten Fälle gemacht. Man konnte es ihm ansehen. Er hatte einen so durchdringenden Blick, den er selbst wenn er ab und an eine Lesebrille trug nicht hinter den Gläsern verbergen konnte.

    Seit Luca und ich denken können, war er unser Vorbild. Er war auch einer der Gründe, warum ich Polizist wurde und dann zur Kripo wechselte.

    Und genau er, das schwebte uns beiden durch den Kopf, er würde sicherlich etwas herausfinden.

    „Meinst du wir sollten Harry aufsuchen?", vollendete Luca meinen Gedankengang.

    Ich nickte kurz. „Ja, der hat garantiert schon mehr Einblick als die Zeitung jemals berichten dürfte."

    „Aber er hat sicher Schweigepflicht."

    Lucas Bedenken waren gerechtfertigt. Natürlich darf in einem ermittelnden Verfahren nichts an die Öffentlichkeit dringen. Das könnte zu unnötigen Spekulationen und vor allem Verwirrungen führen oder im schlimmsten Fall sogar den Täter alarmieren.

    Aber Harry kannte uns. Und er wusste auch, dass er auf uns zählen konnte. Und nicht zuletzt waren wir seine Neffen, der Gerechtigkeitssinn lag und liegt quasi bei uns im Blut. Sowieso, weil ich im Prinzip ein Kollege von ihm war.

    „Wird schon in Ordnung gehen, sagte ich schließlich. „Wir müssen es nur geschickt anstellen, dann wird er es schon nicht allzu eng sehen.

    Ich machte der Bedienung einen kurzen Wink und zückte meinen Geldbeutel.

    Überhaupt war Harry nie der Typ Onkel gewesen, wie man ihn

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