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Labyrinthwege: Band 2
Labyrinthwege: Band 2
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eBook521 Seiten7 Stunden

Labyrinthwege: Band 2

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Über dieses E-Book

"Du kannst mir meine gewünschte Zukunft nehmen, aber nicht mein Schicksal. Wenn du mich in den Rat der Weisen aufnehmen willst, musst du mich nehmen, wie ich bin: mit allem, was ich zu geben habe, aber auch mit meinem unabhängigen Geist, meinen Fehlern und meinem Versagen, mit meinem freien Willen und meiner Verantwortung."

Labyrinthwege will Mut machen - den Mut so zu sein, wie wir sind und wie wir sein wollen. Gemeinsam mit dem inneren und dem äußeren König begegnen wir auf verschlungenen Wegen der zeitlosen Frage, wie denke, fühle und handle ich, wenn das Leben mich herausfordert. Dabei hören wir von der tragenden Kraft der Liebe und erfahren: jeder Schritt auf der Suche nach sich selbst lohnt sich.

Band 2 berichtet von der Einweihung des inneren Königs zum Weisen. Er zeigt die Anstrengungen, Erfolge und Misserfolge der Könige bei ihrer Aufgabe als Hüter der Grenzen und schildert Stationen ihres Pilgerweges in das Unbekannte - mit all seinen Freuden, Gefahren und Versuchungen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Aug. 2016
ISBN9783734546419
Labyrinthwege: Band 2

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    Buchvorschau

    Labyrinthwege - Reinhild Pohl

    1. Kapitel

    Jede Erscheinung auf Erden ist ein Gleichnis und jedes Gleichnis ist ein offenes Tor, durch welches die Seele, wenn sie bereit ist, in das Innere der Welt zu gehen vermag, wo du und ich und Tag und Nacht alle eins sind.

    Hesse

    Der äußere König erzählt

    Zwei Wochen nach der Begräbniszeremonie für meinen Vater brachen der innere König, meine Familie und ich zur geplanten Reise in das innere Land auf. Ich trauerte um meinen Vater, doch ich freute mich auch auf das innere Land. Seine freundlichen, friedlichen Menschen, ihr vor vielen Jahren herzliches Willkommen für mich, die anstrengenden, aber den Geist öffnenden Gespräche mit dem weisen Orakel - all dies lockte mich. Schon in Gedanken daran schenkte es mir ein Lächeln und ließ mich leichter atmen.

    Zuerst jedoch galt es den Übergang zu bewältigen. Das innere Land war von einer nicht sichtbaren energetischen Sperre umgeben, die keiner durchbrechen konnte. Nur an einigen besonderen Übergängen konnten die Bewohner des inneren Landes in die äußeren Länder reisen. Seit hunderten von Jahren war dies so. Unerkannt kamen die Bürger des inneren Landes in die äußeren Länder, lehrten und setzen wichtige Impulse, um dann in ihre Heimat zurückzukehren. Lange wussten wir nichts von dem Geschehen, erst zur Zeit meiner Großeltern entstand ein vages und sehnsuchtsvolles Wissen nach dem inneren Land. Für die meisten blieb es ein Geheimnis, denn es konnte nicht betreten werden.

    Als junger Mann hatte ich einige Jahre im inneren Land gelebt. Lange hatten wir nicht gewusst, wie mir der Zutritt dorthin gelungen war. Erst nach mühsamen geduldigen Nachforschungen glaubten der innere König und ich, eine Erklärung gefunden zu haben.

    Vor Jahren hatte uns das weise Orakel zu Hütern der Grenzen berufen. Unsere Aufgabe war es, eine Lösung für einen Grenzübergang für alle Menschen zu finden. Es war an der Zeit, dass das innere Land zugänglich wurde. Ihm drohte Gefahr und dadurch auch den äußeren Ländern. Obwohl unsere Länder so scharf getrennt waren, bestand eine verwobene Verbundenheit zwischen ihnen.

    Mit Spannung hatten wir uns auf den Weg zum Haus des Übergangs gemacht. Nun würde sich zeigen, ob unsere Gedanken richtig gewesen waren. Der innere König hatte sich mit meiner Frau und meiner Tochter in das Übergangszimmer zurückgezogen. Ihnen sollte der Übergang leicht fallen. Die größte Unsicherheit gab es bei mir. Deswegen sollte ich als letzter übertreten. Während ich unruhig auf der Terrasse in der späten Wintersonne wartete, wanderten meine Gedanken in die Vergangenheit zurück.

    Wie viel war seit meinem Aufenthalt im inneren Land vor gut 20 Jahren geschehen. Ich hatte meinen Thron zurück gewonnen und mein Land befriedet und nach Zeiten langer Trennung lebten endlich auch meine Frau und meine Tochter bei mir. Dem inneren und dem äußeren Land hatten zahlreiche Gefahren gedroht, doch gemeinsam hatten der innere König und ich ihnen standhalten können.

    Unvorstellbar erschien mir heute die Vorstellung, dass meine Freundschaft mit dem inneren König auch hätte scheitern können. Wie nahe waren wir einem Bruch gewesen, wie quälend hatten wir um uns gerungen. Doch wir hatten es geschafft. Auch wenn es immer wieder heftige Auseinandersetzungen gab, wuchs unsere Freundschaft beständig und verankerte sich fester in uns. Wir vertrauten einander und verließen uns aufeinander und dies half uns, alle auftauchenden Hürden und Schwierigkeiten zu überwinden. Auch wenn es manchmal mühsam und schmerzhaft war, erlebte ich unsere Freundschaft jeden Tag als ein kostbares Geschenk und ich wusste, dem inneren König ging es ebenso.

    Langsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. Könnte das innere Land wirklich betreten werden, wenn auswärtige Besucher hypnotisiert und all ihre Zorn- und Hassgefühle blockiert würden? Meine Hoffnung darauf war groß.

    Im Haus hörte ich die schwere Tür des Übergangsraumes zufallen. Kurz darauf betrat der innere König lächelnd die Terrasse und beendete meine kreisenden Gedanken. „Deine Frau und deine Tochter haben das innere Land problemlos betreten, meinte er zufrieden. „Wir wussten, dass deine Frau als Bürgerin des inneren Landes keine Schwierigkeiten haben würde. Aber auch bei deiner Tochter verlief alles leicht. Es wohnt nur wenig Arg und Böses in ihr. Etwas verlegen fügte er hinzu: „Außerdem weiß ich um ihre Liebe und sie vertraut mir vollständig, Es war ein leichtes, sie zu hypnotisieren."

    Auffordernd sah er mich. „Willst du es jetzt versuchen?"

    Der Mund wurde mir trocken. Wie oft war ich bei unseren früheren Versuchen schon schmerzhaft zurückgeworfen worden. Wortlos stand ich auf und folgte dem inneren König in den Übergangsraum. Mit ruhiger Stimme führte er mich in die Entspannung und stimmte mich in der Hypnose ganz auf meine liebevollen Gefühle ein. Es gelang ihm gut, denn wir teilten viele schöne Erinnerungen. Lächelnd tauchte ich in sie ein.

    Kurz darauf sah ich mich verwirrt um. Wo war ich? Die Welt drehte sich um mich, ich fühlte mich eigenartig konturlos und gleichzeitig war mir so übel, dass ich heftig erbrechen musste. Der mich umgebende Raum zog in langen farbigen Streifen vor meinem Auge entlang. Nichts stand still oder hatte eine vertraute Form. Ich schwebte zwischen diesen bunten Farbschlieren und suchte verzweifelt nach einer Orientierung.

    Irgendwann hörte ich die beruhigende Stimme des inneren Königs und spürte seine Berührungen. Langsam erklärte er mir, dass der Übergang geglückt und ich im inneren Land angekommen sei. Es bedurfte noch zahlreicher Wiederholungen, bis ich seine Laute richtig verstand und als Worte zuordnen konnte. Mit der Zeit schrumpften die farbigen Lichtstreifen und nahmen ihre feste gegenständliche Struktur an. Zuerst erkannte ich den inneren König, dann erhielten auch der Raum und das Bett, in dem ich lag, ihre vertraute Form. Dennoch dauerte es noch einige Tage, bis ich die Nebenwirkungen des Übergangs vollständig überwunden hatte.

    Bedauerlicherweise hatten wir keine Vergleichsmöglichkeiten über die Nebenwirkungen des Übergangs bei mir. Bei meinem Übergang vor vielen Jahren war ich schwer verwundet und ohnmächtig gefunden worden. Es ließ sich nicht sagen, welche damaligen Symptome wir meinem Fieber und den Verletzungen zuschreiben mussten und welche dem Übergang. Unabhängig davon war der innere König in großer Sorge wegen meiner heftigen Reaktion.

    „So etwas hätte nicht passieren dürfen, meinte er, als es mir besser ging. „Wenn solche Nebenwirkungen auftreten, ist der Übergang mithilfe der Hypnose keine Lösung. Im Notfall können wir diese Folgen auf uns nehmen, aber es ist keine allgemein gültige Möglichkeit für die Bürger der äußeren Länder. Grübelnd schaute er mich an. „Ich fürchte, wir werden weiter suchen müssen. Dieser Weg ist so nicht begehbar."

    Seufzend stimmte ich ihm zu.

    Es war ein milder Wintertag, als wir endlich vom Haus des Übergangs zum Hof des inneren Königs aufbrachen. Auf den Wiesen des inneren Landes lag kaum noch Schnee. Hier kam der Frühling eher als bei uns. In strahlendem Sonnenschein und mit einem Frühling verheißenden Duft in der Luft machten wir uns auf den Weg. Das weise Orakel hatte für die Frauen eine offene Kutsche mit warmen Decken geschickt. Eine Rittereskorte begleitete uns und der innere König und ich trugen unseren königlichen Ornat. Es war ein prunkvoller Zug, der sich langsam Richtung Schloss bewegte. Überall am Weg standen die Menschen und winkten uns zu. Ich erkannte, dass der innere König nicht nur bei uns, sondern auch in seinem Land sehr geliebt wurde. Auch seine lange Abwesenheit hatte daran nichts geändert.

    Kurz vor dem Schloss galoppierte uns eine Schar jugendlicher Reiter entgegen und umkreiste uns mit freudigen Rufen und Jauchzern. Die Freunde meiner Tochter begrüßten sie auf ihre Weise und meine Tochter schrie und winkte begeistert zurück. Der innere König überließ sie ihrem fröhlichen Toben und hatte seine Freude daran. Lange hatte ich ihn nicht mehr so gelöst lachen sehen. Erst kurz vor dem Schloss hielt er an und ließ die jungen Männer ihre Formation einnehmen. Kontrollierend umritt er unseren ganzen Zug, bis er sich mit mir an die Spitze setzte.

    Ich weiß nicht, ob dann sein Pferd scheute oder ob es Absicht von ihm war: sein Pferd stieg hoch und tänzelte minutenlang auf den Hinterbeinen. Erst jetzt gab er das Signal zum Aufbruch. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er mir einen übermütigen Blick zuwarf. „Angeber", flüsterte ich leise und grinste. Schnell schlug er die Hand vor den Mund, um sein Kichern zu verbergen. Doch dann versteckte er seine Freude nicht länger und zeigte offen sein strahlendes Gesicht.

    Würdig zogen wir auf dem Schlosshof ein und wurden zeremoniell und ehrenvoll empfangen. Ich war außer in meinem eigenen Land noch nie so begrüßt worden und ich muss sagen, ich genoss es, Ehrengast zu sein. Es war etwas Genussvolles, solche Feierlichkeiten zu erleben, ohne die Verantwortung dafür zu tragen. Der innere König strahlte. Mit großer Freude präsentierte er uns und nahm das Willkommen entgegen. Dabei merkte er nicht, dass ein überwiegender Teil der Begeisterung ihm galt.

    Doch so sehr wir die Begrüßungsfeierlichkeiten und das anschließende Fest genossen, so waren sie uns gleichzeitig auch eine Pflicht. Wir wussten, das Zeremoniell war wichtig für alle am Hof lebenden Menschen und für das Volk. Je länger es allerdings währte, desto mehr sehnten wir uns danach, uns endlich im privaten intimen Kreis begrüßen zu können.

    Erst am späten Abend war es soweit. Die Empfänge hatten das weise Orakel angestrengt, so dass wir nur noch kurz zusammen kamen. Diese, nach langen Jahren der Trennung, erste private Begegnung des weisen Orakels mit seiner Tochter und seiner Enkelin war herzbewegend. Niemals hatte ich das weise Orakel so weich und gefühlsoffen erlebt. Zum ersten Mal wurde mir deutlich bewusst, wie viel alle aufgegeben hatten, damit ich mit ihnen leben konnte.

    Das weise Orakel war mir immer liebevoll und wohlwollend begegnet. Stets war darin jedoch eine lehrende Distanz enthalten gewesen. Jetzt begrüßte es mich so herzlich und zugehörig, dass ich ganz verlegen wurde. Und es wäre nicht das weise Orakel gewesen, wenn es nicht sofort gesehen hätte, wie es um mich stand. Nach langen Jahren der Ungewissheit hatte ich kurz vor unserer Abreise die verscharrte Leiche meines Vaters gefunden und ihm ein würdiges Staatsbegräbnis geschenkt. Noch trug ich die frische Wunde der Trauer in mir. Das weise Orakel hielt meine Hand und sah mir in die Augen, während es mit der anderen Hand leicht über mein Herz strich und dabei leise sagte: „Dieser Schmerz wird heilen." Es waren nur wenige Worte, es war nur eine kurze Begegnung im Kreise der anderen und dennoch fühlte ich mich bis in meine Tiefen hinein getröstet.

    Umso verwunderter war ich, als ich sah wie flüchtig sich das weise Orakel und der innere König begrüßten. Eine kurze Umarmung – und schon trennten sie sich wieder. Ich hatte anderes erwartet, denn wenn der innere König vom weisen Orakel sprach, schwang stets seine große Zuneigung und Achtung in seinen Worten. Doch je länger ich sie beobachtete, desto mehr verstand ich sie. Sie ließen allen anderen den Vortritt. Häufig suchten sie auf die Entfernung den Blick des anderen und schickten sich ein kleines flüchtiges Lächeln. Ihre Begrüßung würde nicht vor allen Augen stattfinden. Diese meine Vermutung bestätigte sich kurz darauf. Als sich das weise Orakel zurückziehen wollte, bot ihm der innere König seine Begleitung und Hilfe beim Auskleiden an. „Was glauben sie eigentlich, wen sie mit diesem Manöver täuschen können?", lachte meine Frau, als die beiden zusammen den Raum verließen.

    Der äußere König erzählt

    Einige Tage später bat das weise Orakel den inneren König und mich in sein Arbeitszimmer, um ihm über unsere bisherigen Ergebnisse hinsichtlich der Übergänge zu berichten. Zuvor hatte ich mit dem inneren König überlegt, wie wir den Heiler über unsere vermutete Verwandtschaft aufklären sollten. Ich wollte dies gleich am ersten Tag allein mit ihm besprechen. Der innere König war anderer Ansicht.

    „Es hängen so viele Gefühle und Verstrickungen daran, ich kann sie nicht alle entwirren. Das weise Orakel sollte dieses Wissen zuerst haben. Ich bitte dich, warte das Gespräch mit meinem Orakelvater ab. Dann lass ihn entscheiden."

    Die Begründung des inneren Königs leuchtete mir nicht ein. Doch er wiederholte seine drängende Bitte mehrmals. Ich nahm ihn ernst. Auch wenn es mir schwer fiel und ich den Sinn nicht verstand, stimmte ich ihm schließlich zu.

    Nun zeigte das weise Orakel höchste Aufmerksamkeit für unsere Annahme einer Abstammung und Verwandtschaft von mir mit dem Heiler. Abwechselnd berichteten wir ihm, was uns die alte Zofe über meine Großmutter und den fremden Sänger am Hof erzählt hatte. Ausführlich schilderten wir, wie der fremde Sänger am Hof aufgetaucht war und schließlich das Herz meiner Großmutter gewonnen hatte. Mein Großvater hatte dies stillschweigend geduldet, bis meine Großmutter ein Kind von dem Fremden erwartete. Dadurch war der Sänger gezwungen gewesen, den Hof zu verlassen und seitdem hatte niemand mehr von ihm gehört. Auch wenn wir kaum Beweise für unsere Annahme hatten, waren der innere König und ich von unseren Ergebnissen überzeugt und hegten keinen Zweifel an den Zusammenhängen.

    Schweigend hörte das weise Orakel zu. Seine gelegentlichen Nachfragen waren so scharf durchdacht und detailliert, dass wir oftmals Zeit brauchten, um die Antwort in Worte fassen zu können. Es war faszinierend für mich zu beobachten, wie konzentriert und überlegt die Fragen und Antworten zwischen Vater und Sohn hin und her wechselten. Ich erkannte die jahrelange Übung der beiden, aber ich verstand auch, wie der innere König als junger Mann darunter gelitten haben musste. Endlich kamen wir zum Ende.

    Lange Zeit schwieg das weise Orakel in seine Gedanken versunken. Wir störten es nicht. Von Zeit zu Zeit musterte es mich und forschte in meinem Gesicht, dann zog es sich wieder in seine Gedanken zurück. Wusste es, dass ich ihm einen Teil verschwiegen hatte? Etwas Unbestimmtes, Unklares in mir hatte mich bewogen, ein wichtiges Detail zurückzuhalten.

    Der innere König war irritiert. Mehrmals hatte er mich fragend angesehen. Doch er hatte mich gewähren lassen. Es war meine Geschichte, er würde nicht darin eingreifen. Seine zeitweise auftauchende Verwunderung war jedoch nicht zu übersehen.

    Nicht nur er war überrascht. Auch mir selbst war nicht klar, warum ich dem weisen Orakel verschwieg, dass der Fremde meiner Großmutter ein geheimnisvolles Pendel schenkte, bevor er sie verlassen musste. Ich redete mir ein, dass dies unwichtig sei, dabei wusste ich im Geheimen, dass ihm eine zentrale Bedeutung zukam. Dennoch, ich wollte nicht darüber sprechen. Denn genau dieses Pendel hatte mein Vater benutzt, um mich für den Übergang in das innere Land zu hypnotisieren. Nach den Worten der alten Zofe war er bereits als kleines Kind in das Geheimnis des Pendels eingeweiht worden und in der höchsten Not hatte er es zu meiner Rettung benutzt.

    Auf seltsamen Wegen hatte mich das Pendel nach langer Zeit erreicht. Im Dunkel der Nacht hatte mein sterbender Vater es dem jüngsten Sohn des Patriarchen anvertraut, der es später, ebenfalls zu Tode verletzt, seiner Schwester überlassen hatte. Kurz vor unserer Abreise hatte sie es mir übergeben. Noch heute staunte ich über die verwinkelten Wege und die scheinbar zusammenhanglosen Handlungen, die dazu beigetragen hatten.

    Als das weise Orakel endlich aus seinem Schweigen auftauchte, richtete es seinen Blick allein auf mich. Seine Augen wurden dunkel, fast schwarz und schienen sich beinah körperlich in meine hineinzubohren. Ich fühlte mich wie gebannt und wagte kaum zu atmen. Was sah es in mir, was blieb ihm verborgen? Auf unbestimmte Art fürchtete ich mich.

    Doch zu meiner großen Überraschung sagte das weise Orakel nur zwei Worte. „Sei willkommen."

    Diese zwei harmlosen Worte bewirkten, dass sich mir die Haare auf den Armen und im Nacken aufstellten. Es lag etwas Fremdes, Feierliches und Geheimnisvolles in diesen zwei Worten. Ich konnte es nicht benennen, aber es ließ mein Inneres erzittern. Und die ganze Zeit über hielt mich das weise Orakel mit diesem fremden durchdringenden Blick fest.

    Dann blinzelte es rasch zweimal hintereinander und im nächsten Moment sah ich wieder sein vertrautes liebevollstrenges Gesicht. Hatte ich mir den vorigen Moment nur eingebildet? Nein, ich hatte den Klang seiner Worte noch im Ohr. Ein Echo dieses fremden Gefühls hallte in mir nach. Ich nahm mir vor, den inneren König später danach zu fragen.

    Jetzt schlug das weise Orakel vor, den Heiler zu unserem Gespräch dazu zu holen. „Es ist gut, dass ihr es mir zuerst berichtet habt, meinte es. „Doch nun sollte es auch der Heiler erfahren. Kannst du alles noch einmal berichten?, fragte es mich. Selbstverständlich stimmte ich zu.

    Als ich vor Jahren in das innere Land gekommen war, war ich schwer verletzt gewesen. Dennoch hatte ich den Heiler kaum kennen gelernt. Der innere König hatte gerade seine Ausbildung beendet, er war mein Heiler gewesen. Nur gelegentlich war der alte Heiler dazugekommen, um sich über meine Fortschritte in der Genesung und die Maßnahmen des inneren Königs zu informieren. Ich hatte keinen näheren Kontakt zu ihm gehabt und auch später waren unsere Begegnungen selten und nur im formellen Rahmen gewesen. Erst durch die Erzählungen des inneren Königs hatte ich mir ein Bild von ihm machen können.

    Deswegen war ich erschüttert, als ich ihn jetzt den Raum betreten sah. Er war älter als das weise Orakel. Ich konnte ihm das hohe Alter ansehen. Klein, mager und gebückt betrat er mit langsamen Schritten das Arbeitszimmer des weisen Orakels.

    Seine Augen jedoch blickten aufmerksam und neugierig aus dem faltenreichen Gesicht. Ein liebevoller Blick begrüßte den inneren König, dann wanderte er fragend zu mir. Sein Geist war wach und aufgeschlossen und ich bin sicher, dass ihm nur selten etwas entging.

    Wir warteten schweigend, bis der Heiler Platz genommen hatte. Doch auch dann sprach keiner von uns. Allmählich wurde unser Schweigen unangenehm. Fragend schaute der Heiler in die Runde. Auffordernd nickte mir das weise Orakel zu. Ich verstand, aber ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Es ist selten, dass mir derartig die Worte fehlen. Nun schwirrten sie mir beziehungslos durch den Kopf. Ich fand einfach nicht den richtigen Anfang. Schließlich half mir der innere König. Er hockte sich neben den Stuhl des Heilers und nahm zärtlich seine Hände.

    „Wir müssen dir etwas sagen, meinte er liebevoll. „Auf der Suche nach dem Geheimnis der Übergänge wurde uns von einem Mann aus dem inneren Land berichtet, der sich einige Zeit im äußeren Land aufgehalten haben soll. Dieser Mann könnte dein Vater gewesen sein. Wir sind uns dessen sicher. Dann wäre der äußere König sein Enkel – und dein Neffe.

    Der alte Heiler sagte nichts. Seine Hände zitterten und sein Mund bebte. Unverwandt blickte er dem inneren König in die Augen. Es erschien mir unendlich lang, bis der innere König leise fragte: „Möchtest du, dass er dir alles erzählt?"

    Der alte Heiler nickte bejahend. Langsam zog er seine Hände zurück, rückte näher an den Tisch heran und sah mich aufmerksam an. „Erzähle", forderte er mit klarer Stimme.

    Während ich nach Worten suchend stockend zu berichten begann, ging der innere König leise herum und füllte unsere Becher. Schließlich nahm auch er wieder am Tisch Platz.

    Ich sprach und sprach. Diesmal unterbrach mich keiner, weder das weise Orakel mit Nachfragen noch der innere König mit Ergänzungen. Als ich endlich zum Schluss kam, schwiegen wir alle erschöpft.

    Nach einer Weile forderte mich der Heiler mit heiserer Stimme auf: „Komm her zu mir." Ich ging zu ihm und kniete mich wie zuvor der innere König neben seinen Stuhl. Der Heiler musterte mich gründlich. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte zart mein Gesicht. Seine Finger zitterten, als er mir tastend über Augen, Wangen und Mund fuhr. Ich hielt still, doch innerlich bebte auch ich.

    „Ja, murmelte der Heiler, „ja, es könnte sein. Jetzt tastete er mir mit beiden Händen über den Kopf. Dann hielt er still und nur seine Fingerspitzen ruhten mit leichtem Druck auf meinem Schädel. Auf einmal spürte ich hinter dem äußeren Bild des alten Mannes die Kraft und die Weisheit, von der der innere König mir immer erzählt hatte. Seine Hände wanderten weiter über meinen Kopf, bis sie wieder zu den Wangen kamen und mein Gesicht umschlossen. Mit innerer Gewissheit und Stärke sah er mich an.

    „Bruderkind, ich erkenne dich."

    Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen. Er umklammerte mich heftig, während ich eher vorsichtig zufasste. Er fühlte sich so zerbrechlich an, ich wollte ihm nicht wehtun.

    „Du musst mir alles erzählen, raunte er. „Ich will alles über deinen Vater, meinen Halbbruder, wissen. Im selben Moment wurde der Heiler in ihm wach. „Nein, erzähl mir nur das, worüber du sprechen kannst. Du sollst dich nicht quälen."

    Ich lächelte. „Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst. Und ich möchte gern mehr über meinen Großvater erfahren."

    „Ihr werdet noch viel Zeit haben, euch auszutauschen, unterbrach uns das weise Orakel. Es legte eine Hand auf den Arm des Heilers. „Im hohen Alter hast du eine Zukunft geschenkt bekommen, sagte es zum Heiler und legte seine andere Hand auf meine Schulter, „und dir wurde ein Teil deiner Wurzeln geschenkt. Verknüpft beides miteinander, damit es Segen bringt für unsere Gegenwart."

    Das weise Orakel nahm seinen Becher und erhob sich. „Lasst uns schweigend für diese Begegnung danken." Auch wir erhoben uns und tranken einander wortlos zu.

    Langsam stellte ich meinen Becher ab und setzte mich wieder. Das weise Orakel hatte uns Ruhe geschenkt, doch in mir konnte sie noch nicht wirken. Ich hatte noch etwas zu erledigen. Niemand wusste davon, selbst der innere König nicht. Mein Herz klopfte wild. Eine innere Stimme wisperte leise: „Nicht jetzt", doch ich schob sie beiseite. Ich wollte dies so tun wie von mir geplant. Unauffällig griff ich in meine Hosentasche und legte die geschlossene Faust auf den Tisch.

    Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der innere König blass wurde. Er versuchte, mir etwas zu signalisieren, doch ich achtete mit Absicht nicht darauf. Während ich langsam meine Faust öffnete, schüttelte er leicht den Kopf. Ich sah es, doch wieder beschloss ich, ihn zu ignorieren. Jetzt zeigte ich dem Heiler das kleine Ledersäckchen auf meiner Hand.

    „Ich habe dir etwas mitgebracht, sagte ich feierlich. „Es ist aus dem inneren Land und stammt von deinem Vater. Nach einem weiten Weg soll es zu dir als Erbe deines Vaters zurückkommen.

    Der innere König beugte sich erschrocken vor. Er wollte einschreiten. Doch schon hatte der Heiler nach dem Säckchen gegriffen. Resigniert lehnte sich der innere König zurück. Aufmerksam wanderten die Augen des weisen Orakels von einem zum anderen. Es hatte alle Handlungen und Reaktionen wahrgenommen.

    Sorgsam und mit gespannter Miene wickelte der Heiler das Ledersäckchen auf. Erwartungsvoll beobachtete ich ihn. Ich hoffte, ihm damit eine Freude zu machen. Mit zwei Fingern holte der Heiler die Kette mit der gravierten Kugel hervor - und ließ sie im gleichen Moment entsetzt auf den Tisch fallen. Das weise Orakel reagiert blitzschnell. Es griff nach dem Leder, warf es über die Kugel und verstaute beides in seiner Tasche.

    Erschrocken sahen die beiden Alten sich an. Ich wusste nicht, was geschah, aber dies kümmerte niemanden. Scharf wandte sich das weise Orakel an den inneren König. Jetzt war es nicht der liebende Vater, der das Zusammensein mit seinen Sohn genoss und auch nicht der wohlwollende weise Lehrer. Jetzt spürte ich nur noch strenge und unnahbare Autorität in ihm und Zorn.

    „Woher habt ihr dies? Warum weiß ich nichts davon?" Klirrend wie scharfe Klingen trafen die Fragen den inneren König.

    „Es war noch nicht die Zeit", antwortete er ruhig.

    „Rede dich nicht heraus! Wie kannst du darüber schweigen! Gleich in der ersten Nacht hättest du mir davon berichten müssen!"

    „Vermutlich hätte ich es machen müssen, ja, bestätigte der innere König. Offen begegnete er dem Zorn des weisen Orakels. „Ich wusste nicht, welche Bedeutung du der Kugel zumisst, fügte er leise hinzu. „Ich will mich nicht herausreden. Aber die Kugel ist Erbe des äußeren Königs. Ich hatte nicht das Recht, über sie zu entscheiden."

    „Das entschuldigt dich nicht! Du hättest mich informieren müssen. Hast du denn gar nichts gelernt? Du kennst die Zeichen und Symbole, du weißt um ihre Bedeutung und ihre Kraft."

    „Ja", flüsterte der innere König betroffen und senkte den Kopf. Mit beiden Händen umklammerte er die Tischkante, bis seine Knöchel schneeweiß wurden. Ich ahnte, wie es in ihm brodelte. Er musste all seine Beherrschung aufbringen, um nicht ebenfalls zornig zu reagieren. Zu meiner Verwunderung schien er gleichzeitig die Zurechtweisung zu akzeptieren.

    Verstört sah ich zum Heiler hinüber. Was hatte ich angerichtet? Beruhigend legte er mir die Hand auf den Arm. Offensichtlich verstand er den Grund für den Zorn des weisen Orakels und auch die Betroffenheit des inneren Königs. Nur ich, ich verstand nichts. Jeder Versuch von mir, etwas zu sagen, wurde übergangen. Ich wurde gar nicht mehr wahrgenommen. Außer dem Heiler schienen mich alle zu ignorieren.

    Das weise Orakel war ein kleiner zierlicher Mann und durch das Alter noch etwas geschrumpft. Doch nun schien mir als würde es wachsen und alle Personen am Tisch überragen.

    „Hast du sie gespürt?" Wie ein scharfer Pfeil schoss die Frage auf den inneren König zu.

    Stumm nickte er.

    Sofort wurde der nächste Pfeil abgeschossen. „Was hast du gefühlt? Sag es mir!"

    Der innere König schwieg. Er schluckte und presste die Lippen zusammen. Von hinten wandte sich der Heiler an das weise Orakel. Er berührte es sacht und sagte beschwichtigend: „Er weiß es nicht."

    Unwillig schüttelte das weise Orakel die Hand des Heilers ab. „Das spielt keine Rolle, sagte es schneidend. „Er hat sie gespürt. Du siehst doch, er versteht meine Frage.

    Doch obwohl das weise Orakel weiterhin streng und fordernd blieb, hatte die Bemerkung des Heilers seinen Zorn durchbrochen. Als es sich nun dicht zum inneren König hinüber beugte, hörte ich hinter seiner Forderung eine große Sorge.

    „Du musst es mir sagen!"

    Der innere König atmete schnell und heftig. Seine Schläfenmuskeln zuckten und ich hörte das Knirschen seiner Zähne bis zu mir. Mit steinerner Miene sah er dem weisen Orakel in die Augen. Schließlich begann er gepresst zu sprechen. „Als der äußere König diese Kugel erhielt, bat ich darum sie ansehen zu dürfen. Ich erkannte die Zeichen und Symbole und die Kraft, die in ihnen wohnt. Und dann…., dann…, die Kugel sprach zu mir. Kurz zeigte sie mir eine Macht, die weit über meiner Verstellung lag. Sie …, sie sagte, dass sie auf mich gewartet habe und mir dienen wolle."

    Der innere König warf mir einen schnellen Seitenblick zu. Er war tiefrot vor Scham. Obwohl er fast flüsterte, klang mir seine Stimme laut in den Ohren. Dicht führte er sein Gesicht vor das weise Orakel und in einer Mischung von Scham und Zorn spuckte er ihm die nächsten Worte geradezu entgegen.

    „Dieses Angebot war höchst verführerisch. Ich …, ich habe die Versuchung nicht erkannt. Ich wäre ihr erlegen – wieder einmal. Der äußere König hat mich gewarnt. Ohne etwas Genaues zu wissen, hat seine Liebe die Gefahr gespürt. Dank seiner Warnung konnte ich widerstehen. Aus Liebe zu ihm. Ich wies die Macht zurück und übergab ihm die Kugel. Der innere König atmete tief aus und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen – und auch nicht danach gefragt.

    Auch das weise Orakel stieß laut die angehaltene Luft aus. Es streckte seine Hand aus und strich dem inneren König flüchtig über die Wange. „Diese Zeiten zwischen uns sollten schon längst vorbei sein", sagte es entschuldigend zum inneren König. „Mein Schrecken hat mich in sie zurückgeworfen. Meine Schärfe hatte einen Grund. Du musstest deine Versuchung laut bekennen, denn nur so kannst du ihre Macht über dich brechen.

    – Schäme dich nicht. Jeder, der die Stimme der Kugel hört, gerät in die Fänge ihrer Macht. Du hast widerstanden, ich bin stolz auf dich."

    Noch einmal strich es dem inneren König über die Wange. „Mein Sohn, ich bedränge dich nicht grundlos."

    Der innere König atmete tief. „Ich weiß", murmelte er schließlich und legte seine Hand auf die des weisen Orakels. Die Spannung zwischen ihnen schwand dahin, nun lag nur noch gegenseitiges Verstehen in ihrem Blick.

    Auch ich atmete erleichtert auf. Der innere König hatte mir von quälenden Stunden mit seinem Vater erzählt, vor allen Dingen in den Zeiten seiner Ausbildung. Ich hatte es mir nie richtig vorstellen können, denn trotz aller Strenge hatte ich das weise Orakel mir gegenüber immer liebevoll erlebt. Jetzt verstand ich, wie solch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Vater und Sohn die Beziehung zusätzlich belasten konnte.

    Ich überlegte, ob ich die Situation hätte vermeiden können. Hätte ich die Kugel gleich nach meiner Ankunft dem weisen Orakel geben sollen? Ich hatte nicht von ihrer Gefährlichkeit und Bedeutung gewusst, ich wusste dies ja jetzt nicht einmal genau. Ich hatte sie als Geschenk für den Heiler gedacht. Als Überraschung. Gab es Geschenke, die keine Überraschung sein dürfen? Meine Zwiespältigkeit bei den Überraschungsgeschenken des inneren Königs fiel mir ein. Müsste auch beim Schenken viel sorgfältiger geschaut werden? Es schien fast so.

    Das weise Orakel unterbrach meine Gedanken. „Du hast alles richtig gemacht, lächelte es freundlich. „Mach dir keine Gedanken.

    Ruhig wandte es sich zum inneren König. „Nun erzähle, wie die Kugel zu euch gekommen ist."

    Fragend schaute der innere König mich an. Selbst jetzt noch suchte er meine Zustimmung. Schweigend nickte ich. Er mochte erzählen, was er für wichtig hielt. Zu meiner Überraschung begann er damit, wie ich das Todesurteil gegen die Feinde in eine Verbannung umgewandelt und später den Bann über die Tochter des Patriarchen aufgehoben hatte. Ich hätte dies gar nicht erwähnt, doch für ihn schien es dazu zu gehören. Wie immer war es mir etwas peinlich, wenn er meine Handlungen hervorhob. Doch der anerkennende Blick des weisen Orakels machte mich stolz. Schließlich beendete der innere König seinen Bericht damit, wie er mir die Kugel zurückgegeben hatte.

    Schweigend hatten das weise Orakel und der Heiler zugehört. Stumm schienen sie sich zu beraten. Schließlich seufzte das weise Orakel. Nachdenklich sah es uns an. „Dann sollt ihr nun das Wissen über die Kugel erhalten. Offensichtlich spricht sie nicht zu den Menschen im äußeren Land und gefährdet sie nicht. Doch du, besorgt blickte es zu mir hinüber, „du trägst etwas aus dem inneren Land in dir. Schwach hast auch du die Gefahr gespürt. Danke deiner inneren Lauterkeit, dass du die Kugel nicht öfter hervorgeholt und betrachtet hast. Wir können davon ausgehen, dass sie es war, die deinen Übergang erschwert hat. Die Verzerrungen, die du erlebt hast, waren ungewöhnlich.

    Das weise Orakel rückte näher an den Tisch. Flach legte es beide Hände auf die Tischplatte und musterte uns. Im nächsten Moment rutschten seine Hände in die Haltung eines Dreiecks, eine Gestik, die mir lieb und vertraut an ihm war.

    „Hört nun. Diese Kugel gehörte nicht dem Vater des Heilers. Sie gehörte meinem Großvater. Ich weiß nicht, woher er sie hatte, wie sie zu ihm gekommen ist und wer sie hergestellt hat. Dies liegt im Dunkeln. In der Kugel wohnt eine große Macht. Sie ist weder gut noch böse, sie ist. Doch durch die Gravuren auf der Kugel kann sie nur zerstörerisch wirken. Deshalb sprechen wir von einer bösen gefährlichen Macht. Keiner von uns wusste, dass so etwas existiert. Mein Vater berichtete gelegentlich von einem gefährlichen Pendel und warnte mich ausdrücklich davor. Aber mein Vater warnte mich jeden Tag vor so vielen Dingen und ich war jung. Ich maß dieser speziellen Warnung keine besondere Bedeutung zu.

    Erst als der Weise aus dem fernen Land kam, um mir bei der Einweihung zu helfen, erst da kam das Gespräch wieder auf das Pendel. Der Weise fragte mich danach, aber ich wusste nicht, wo es war. Viel Zeit verbrachte der Weise mit meinem im Geist zerstörten Großvater. Er versuchte, die Seele meines Großvaters so weit wie möglich zu heilen. Auch ihn befragte er ausführlich nach dem Pendel. Mit unserer Zustimmung suchte er schließlich im Geist des Heilers und in meinem Geist nach Hinweisen darauf. Es war schwer für uns, denn er suchte gründlich."

    Das weise Orakel sah zum Heiler hinüber. Beide lächelten schwach, als sie in die gemeinsame Erinnerung eintauchten. Ihre Hände schoben sich aufeinander zu und berührten sich zart an den Fingerspitzen. Der innere König und ich warfen uns einen Blick zu. Dieses wortlose innere Verweilen bei einem gemeinsam erlebten Geschehen, wir kannten es gut. Geduldig warteten wir, bis sich das weise Orakel wieder an uns wandte.

    „Der Weise aus dem fernen Land fand nicht viel bei uns. Allerdings hatte der Heiler das Pendel einmal bei seinem Vater gesehen. Hatte der Vater des Heilers es geschenkt bekommen oder hatte er es gestohlen? Wir wussten es nicht. Das Pendel war und blieb verschwunden, so wie der Vater des Heilers auch.

    Der Weise aus dem fernen Land warnte uns ausdrücklich vor der Kugel. Die quälende Suche in unserem Geist und die Art, wie er uns warnte, waren so eindringlich, dass wir es niemals in unserem Leben vergessen werden. Danach gab er uns Anweisungen für den Umgang damit, sollten wir sie jemals entdecken. Wir sollten die Kugel weder genau betrachten noch mit der bloßen Hand anfassen. Und wir sollten sofort die fünf weisen Weisen davon benachrichtigen."

    Das weise Orakel seufzte müde. „Fast ein ganzes Leben hat es gedauert, bis das Pendel zu uns gekommen ist. Ich wünschte, es wäre nie geschehen. Der Weise aus dem fernen Land weilt schon lange nicht mehr unter uns. Dennoch werde ich mich jetzt zurückziehen und seinem Auftrag nachkommen."

    Es wandte sich an den inneren König. „Ruf bitte meine Reisewächter zu mir, ich werde sie brauchen."

    „Ich kann dich begleiten", bot der innere König an.

    „Nein! Scharf wehrte das weise Orakel ab. Milder fügte es hinzu: „Du musst das Reinigungsritual vollziehen. Jede Spur des Pendels in dir muss gelöscht werden.

    Der innere König wurde blass. Doch er nickte bestätigend und sagte mit flacher Stimme: „Sag mir, wann."

    „Bereite dich vor. Ich werde dich holen lassen."

    Nun wandte sich das weise Orakel an mich. Gütig und verständnisvoll lächelte es mich an. „Diese Stunden sollten in Freude enden. Wir alle hätten es uns gewünscht. Die Kugel aber hat alles verändert. Mache dir keine Vorwürfe. Das Leben begegnet uns überraschend und lässt sich nicht planen. Aber wir können darauf reagieren und darin finden wir unsere Freiheit. Du glaubst, du stehst jetzt am Rande des Geschehens. So scheint es zu sein. Du ahnst nicht, wie nahe du dem Zentrum bist. Wir aber haben unsere Aufgaben zu erfüllen. Geh du mit dem Heiler. Lernt euch kennen, nimm deine Familie dazu und gewähre auch ihr einen Blick in deine Vergangenheit."

    Mit diesen Worten stand das weise Orakel auf. „Komm", sagte es zum inneren König. Einen Moment hielt der Heiler es am Arm fest, intensiv sahen sie einander in die Augen. Dann zog das weise Orakel seinen Arm zurück, nickte uns zu und verließ mit dem inneren König den Raum.

    Bestürzt sah ich den Heiler an. Natürlich hatte ich die Not und die Sorge des weisen Orakels erlebt, ich hatte seine Worte gehört – und dennoch verstand ich nur einen Teil des Geschehens. Auch fühlte ich mich trotz der Worte des weisen Orakels an den Rand gedrängt und ausgeschlossen. Viel lieber wäre ich mit dem inneren König gegangen und hätte ihm beigestanden.

    Begütigend lächelte der Heiler mir zu. „Du machst dir Sorgen um den inneren König und du verstehst nicht warum. Sorge dich nicht, er ist in guten Händen. - Komm, lass uns in meine Gemächer gehen. Dort kann ich dir ein Bild deines Großvaters zeigen. Später werden wir mit deiner Familie essen und sie mit unserer Verwandtschaft überraschen."

    Väterlich fasste er mich an die Hand. Der innere König hatte mir erzählt, in welch hohem Maße der Heiler die Position eines Vaters für ihn eingenommen hatte. Nun verstand ich seine Berichte auch mit dem Herzen. Trotz meiner Verwirrung fühlte ich mich bei dem Heiler aufgehoben und beruhigt. Selten hatte ich eine Situation erlebt, in der ich meine Verantwortung so abgeben konnte mit der Gewissheit, dass dennoch Sorge getragen wurde. Es war fremd, dieses Gefühl. Ich spürte es, ich betrachtete es von außen und dann erlaubte ich mir, es schlicht zu genießen. Liebevoll hielt ich dem Heiler meinen Arm als Stütze entgegen, während wir langsam den Raum verließen.

    Der äußere König erzählt

    Erst vier Tage später sah ich das weise Orakel und den inneren König wieder. In diesen vier Tagen fragte niemand nach ihnen, niemand schien sie zu vermissen oder sich über ihre Abwesenheit zu wundern. Meine Frau lachte, als ich sie darauf ansprach.

    „So ist das bei uns. Es ist dir vor Jahren nur deshalb nicht aufgefallen, weil du mit vielen anderen Dingen beschäftigst warst. Wir alle wissen, dass sich das weise Orakel und auch der innere König gelegentlich zurückziehen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Aufgaben, die wir nicht kennen, von denen wir aber wissen, dass sie notwendig sind für unser Land. Wir machen uns keine Sorgen. Wir vertrauen den Weisen und ihren Helfern. Wir wissen, sie sind in ihren Arbeitsräumen oder in ihren Gemächern. Ihre Hüter sind bei ihnen. Sie würden uns benachrichtigen, wenn eine Gefahr bestände. Du siehst, wir wissen immer Bescheid – auch wenn wir nicht wissen, wo sie wirklich sind und was sie tun. Hast du dich noch nie gefragt, warum der innere König immer den Haushüter informiert, wenn er das Schloss verlässt? Dies tut er, damit wir uns nicht sorgen, wenn er ein paar Tage lang nicht auftaucht. Es ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er es selbst in deinem Land tut."

    Tatsächlich war mir dieses Abmelden merkwürdig aufgefallen. Der Knappe oder der Haushüter, einer wusste immer genau, ob sich der innere König im Schloss, im Haus der Heilung oder in welchen Häusern auch immer aufhielt oder ob er ausgeritten war und wohin. Ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht und es einfach für eine Marotte von ihm gehalten.

    Doch die Worte meiner Frau beruhigten mich nicht. Vielmehr stellte ich fest, wie unschuldig sie war in Bezug auf die inneren Welten und wie wenig Information selbst sie über die Aufgaben eines Weisen hatte. Ich hatte nicht vor, sie zu beunruhigen und ihr ihre Sicherheit zu nehmen. Also schwieg ich. Dabei wusste ich, dass die Arbeit eines Weisen, mochte sie auch in den eigenen Gemächern stattfinden, nicht ungefährlich war. Aber selbst der Heiler schüttelte den Kopf, als ich ihm meine Besorgnis mitteilte.

    „Du weißt doch, warum beide sich zurückgezogen haben, meinte er. „Lass ihnen Zeit das zu tun, was zu tun ist und sich davon zu erholen. Sorge dich nicht, die Hüter würden mich rufen, wenn sie Hilfe bräuchten.

    Es bleib mir nichts anderes übrig als zu akzeptieren. Die Unruhe in meinem Herzen jedoch blieb.

    Es war wie alle gesagt hatten. Nach vier Tagen tauchten das weise Orakel und der innere König zur Morgenmahlzeit auf und taten, als seien sie niemals fort gewesen. Vielleicht schmiegte sich meine Tochter ein wenig länger als sonst an den inneren König, vielleicht schob sie ihm ohne Worte einen Leckerbissen zu, doch auch sie schien die zeitweilige Abwesenheit als selbstverständlich hinzunehmen. Im Gegensatz zu ihrem üblichen Verhalten stellte sie keine Fragen, viel eher entdeckte ich Anzeichen einer fast mütterlichen Fürsorge.

    Während sich alle am heiteren Gespräch beteiligten, grübelte ich vor mich hin. Erst als ich den Blick des inneren Königs eindringlich auf mir spürte, hob ich den Kopf.

    Er lächelte leicht. „Es ist alles in Ordnung. Über den Tisch hinweg griff er nach meiner Hand. „Was hältst du davon, wenn wir nach der Morgenmahlzeit einen Ausritt machen? Nur wir beide allein?

    „Sehr viel, nichts wäre mir lieber." Erleichtert strahlte ich ihn an. Genau das war es, was ich brauchte. Nun konnte auch ich mich in die Entspanntheit des morgendlichen Gesprächs hineinbegeben.

    Im leichten Trab ritten wir durch den milden Vorfrühlingstag. Eine helle Sonne schien durch einen blassblauen, milchigweißen Himmel und die ersten Frühlingsvögel erprobten ihre Stimmen. Es lag so viel Lichtes, so viel Helles in der Luft, dass auch mir ganz leicht zumute wurde. Welch eine Wohltat war es, in diesen zuversichtlichen Tag hineinzureiten. Noch in den Ställen hatte der innere König mich gefragt: „Erinnerst du dich an unseren verschwiegenen Platz am See? Wollen wir dorthin reiten? Vielleicht finden wir noch den Weg."

    Nur zu gern war ich einverstanden. War dies doch ein Platz, der mit schönen Erinnerungen gefüllt war. Hier waren wir uns nahe gekommen, hier hatten wir die ersten Worte dafür gefunden, dass unsere Sympathie füreinander mehr war und tiefer ging als alle bisherige Erfahrung. Mit hochrotem Kopf, stockend und zögernd und voller Befürchtungen vor einem Missverständnis hatten wir hier das Wort Liebe für unsere Gefühle gewagt. Seitdem mich der innere König vor rund fünfzehn Jahren in mein Land zurückgebracht hatte, war er nicht mehr an diesem Platz gewesen. Selbst nach unserer Versöhnung hatte er ihn allein nicht aufsuchen wollen.

    Beide erinnerten wir uns recht gut und so kamen wir zügig voran. Schwierig wurde es, als wir das kleine Wäldchen erreichten, das den See umgeben hatte. Aus dem lichten schmalen Waldgürtel war ein hoher Wald mit dichtem Unterholz geworden. Dennoch meinten wir immer wieder ein Stück des Weges zu erkennen. Bald jedoch war

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