Jedermanns Akte: Band II
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Buchvorschau
Jedermanns Akte - Peter Grosse-Plankermann
Kapitel 1
Meine Herren, wir sollten uns auf den Weg machen. Wir werden erwartet."
Der Klang der Totenglocke drang in meine Ohren. Er war mir mit der Zeit so vertraut geworden wie das tägliche Zähneputzen. Wieder war ein Mensch gestorben. Wieder wurde ein Mensch beerdigt.
Bereitwillig trotteten Aalglatt, mein Kumpel und Partner, und ich dem Herrn Wissi Allweiß hinterher. Den Weg vom Friedhof zur weißen Villa kannten wir inzwischen auswendig. Wir schlenderten über die Sandwege, die mit Rhododendren gesäumt waren, beschauten uns die frischen und die alten Gräber und Grabsteine. Manche wurden durch frische, bunte Blumen geschmückt, andere hingegen wurden von Unkraut überwuchert, die Steine mit Moos bewachsen, und die Buchstaben kaum mehr lesbar.
Auf unserem Weg stand auch die Bank, auf der mein Nachbar, Herr Schönreden, immer noch saß. Neben ihm Frau Kranklieb, die unentwegt erzählte und sich aufregte über die Ärzte und die Medizin, die ihren sämtlichen Krankheiten nicht zu Leibe rücken konnten. Das Gejammer des Herrn Schönreden über seine verpassten Chancen und seinem Aufruf, endlich den Menschen seine Meinung zu sagen, hallten in meinen Ohren wider. Er redete und bewegte sich weiterhin nicht einen Zentimeter von dieser Parkbank fort.
Wenig später fanden wir uns in der mir vertrauten, herrschaftlichen, weißen Villa wieder. Ein Assistent in weißem Anzug führte uns in einen imposanten, weißen Saal, in welchem der Kamin wohlig wärmend prasselte. Ich kannte diesen Saal. Er war mir vertraut. Und ich erinnerte mich an den imponierenden Herren und seine Predigt. Dieser Herr war nicht durch die Tür gekommen. Er war einfach in einem gleißenden Licht im Raume erschienen. Seitdem war ich mir sicher, dieses wäre der „Gottesraum".
Die großen, weißen, breiten Ledersessel schienen auf uns zu warten, und wir nahmen die Einladung gerne an.
Das gleißende Licht erschien und blendete mich kurzfristig. Ich hörte die donnernde Stimme des Wesens, welches ich für Gott hielt.
„Herzlichen Glückwunsch! Der Raum war gefüllt von dieser Stimme. „Euren Auftrag habt ihr mit Bravour gemeistert.
Ich spürte Stolz in meiner Brust und schaute verstohlen zu Aalglatt. Auch er war gerade um einige Zentimeter gewachsen.
„Nun wartet noch mehr Arbeit auf euch. Bisher haben es nur sehr wenige geschafft, auf die Erde zurückzukehren, um dort ihre Richtung zu ändern und damit ihr Leben zu optimieren."
Gespannt wartete ich auf unseren Auftrag. Ich, Jedermann, hatte die Chance, mein Leben zu optimieren. Es musste mir nur gelingen, nicht in meine alten Gewohnheiten und Muster zurückzufallen.
Sollte es mir gelingen, wäre es mir möglich, nach meinem Tode in die nächste höhere Dimension aufzusteigen. Ich wusste nicht, wie sich das gestalten sollte, aber die Erfahrung in meinem Jetzt und Hier hatte mich gelehrt, dass nichts, absolut gar nichts, unmöglich war, und die Geschehnisse immer so eintraten, dass sie sich zusammenfügten wie Puzzleteile. Ich musste nur vertrauen.
Die Stimme schwoll wieder an.
„Euer Auftrag ist es, Rückkehrwillige zu unterstützen."
Ich sah verwirrt zu Aalglatt hinüber. Aber auch in seinem Gesicht war nur Ratlosigkeit zu entdecken. Wissi Allweiß lehnte hingegen völlig entspannt und wissend in seinem weißen Sessel.
„Die Menschen glauben, es käme ein Wunder, ein äußerer Energiestrahl, der sie automatisch läutern würde. Viele haben noch nicht verstanden, dass nur sie selbst für ihr Leben und für alles, was danach kommt, selbst verantwortlich sind. Sie leben in Gier, in Lügen, in Heucheleien und sind irgendwann nicht mehr Herr ihrer selbst. Der Bezug zu ihrer Akte geht verloren. Sie fristen ein Dasein ohne Bezug zur Wahrheit.
Doch um in eine höhere, göttlichere Dimension zu gelangen, reicht dieses nicht aus. Dies erfordert Erkenntnis, Einsicht und den Willen zur Bewegung und Änderung!"
Ich nickte. Ich kannte diese Worte. War ich, Jedermann, doch selbst ein bequemer, feiger und von
Gewohnheiten getriebener Mensch, der sich im Geiste kaum weiterentwickelt und bewegt hatte.
„Alle diese Menschen bevölkern heute unseren Park hinter der Villa. Alle diese Menschen sind von Lethargie, von Trägheit geprägt, um einer Reflektion aus dem Wege zu gehen. Stattdessen bewegen sie sich nur in eine Richtung: die des Auflösens in ein Nichts!"
Der Park. Die kleinen, hübschen, gemütlichen Hütten. Und die Trägheit. Die Müdigkeit und Lähmung, die sich wie wabbeliger Nebel über diesen Park gelegt hatte, war mir vertraut. Ich hatte sie selbst gespürt und war indessen freudig erregt darüber, dieser entronnen zu sein.
„Meine Herren, Sie werden nun den Rückkehrwilligen helfen und auch auf der Erde Lebenden die Richtung weisen. Es ist an der Zeit, dass wir die Menschen wieder ihren Akten zuordnen können. Es ist wahrhaftig an der Zeit!"
Es wurde blendend hell im Saal, eine riesige warme Welle durchflutete meinen Körper, und als ich wieder klar sehen konnte, war dieser Mensch, dieser Mann oder Gott – was immer er war – wieder verschwunden, ohne dass sich eine Tür geöffnet oder geschlossen hätte.
Kurze Zeit herrschte Stille im Saal. Wir drei ausgewachsene Männer sahen uns ratlos an. Aalglatt schüttelte den empört den Kopf.
„Das ist ja ein schönes Schlamassel, sagte er, „wir sollen die da,
und er zeigte in die Richtung des Parks hinter der Villa, „aktivieren? Mir ist schleierhaft, wie wir diese trägen Typen zu irgendetwas motivieren und
ermutigen könnten. Geschweige denn, noch einmal zurück in ihr irdisches Leben zu gehen."
Mir war dies ebenfalls schleierhaft. Dabei fiel mir Herr Schönreden auf seiner Parkbank ein. Und Frau Kranklieb, die ebenfalls immer noch dort saß.
„Und was tun wir mit denen, die dort draußen umherirren und überhaupt keinen Weg mehr finden? fragte ich. „Sie sind so sehr in sich und ihrem verdorbenen Leben gefangen, dass ich Schwarz sehe.
„Meine Güte, seufzte Aalglatt, „hätte ich doch nur vorher alles gewusst. Hätte ich doch nur vorher den richtigen Weg eingeschlagen. Mir wäre all dies hier erspart geblieben. Ich hätte meine Ruhe und könnte in Frieden in einer göttlichen Welt leben.
Ich grinste ihn breit an. „Wir wussten es. Wir hörten nur nicht. Wie kleine Kinder, die sich die Finger auf einer Herdplatte verbrennen, obwohl sie tausend Mal gewarnt werden. Wir wollten es nicht sehen und nicht hören."
Wisse lächelte. „Meine Herren, sagte er, „wir wissen doch gar nicht, was geschehen wäre, wenn wir nicht den Bezug zu unseren Akten verloren hätten. Wir können nur spekulieren. Lassen wir uns überraschen vom Leben, von den Menschen, von den Geschehnissen. Lassen wir uns auf unseren Körper und unser Herz hören. Dann wird es uns gelingen.
Ja. Ich nickte. Wir sollten jetzt nicht jammern. Das hatte noch zu nichts geführt. Ich hatte es bei Herrn Schönreden lange genug erleben dürfen. Wir hatten jetzt die Aufgabe, den Menschen klarzumachen, dass sie sich
in trügerischer Sicherheit währten. Dass sie sich nicht im, wie sie glaubten, Paradies befanden, sondern in einem Aufbewahrungsort mit der einzigen Option der Vergänglichkeit. Wir zwei Gauner und ein Langeweiler hatten die Aufgabe erhalten, Menschen bei ihrer Entwicklung zu helfen. Und uns dabei selbst weiter zu bewegen, damit wir unser eigenes verpfuschtes Leben gerade rücken konnten.
In diesem Augenblick war ich mir sicher, der Teufel hatte seine Hände im Spiel. Er stand hinter der Tür, rieb sich grinsend die Hände, und wartete darauf, dass wir allesamt auf die Nase fielen. Denn nur der Teufel konnte uns diesen Höllenqualen aussetzen, diese Menschen, deren verpfuschte Leben und ihre Reaktion auf unsere Forderungen, in ihr eigenes Leben zurückzukehren, zu bekehren und zu unterstützen.
Wir kamen kaum mit unserem eigenen Leben klar und trugen nun die Last der Verantwortung für ein gutes Gelingen und das Einsetzen von Bewegung in einer trägen und feigen Welt. Ich stand vor der größten Reise und der größten Herausforderung, die je an mich gestellt worden war.
Kapitel 2
Aalglatt sah erst mich, dann Wissi bestürzt an. Ich konnte seine Gedanken lesen, denn sie waren den meinen sehr ähnlich. Wir brauchten
eine Strategie. Diese an uns gestellte Aufgabe übertraf alle Aufgaben, die ich je in meinem Leben hatte bewältigen müssen. Und die, die ich nicht bewältigen konnte oder wollte, hatte ich einfach links liegen gelassen und war davon gelaufen. Hier und jetzt konnte ich nicht mehr davon laufen.
Wir erhoben uns etwas gequält aus unseren bequemen Sesseln. Ich kannte auch die Villa inzwischen sehr gut, und wir beschlossen, die unteren Räume aufzusuchen, in denen jedem Verstorbenen seine Akte vorgelegt wurde.
Es gab mehrere dieser „Büros". Sie alle waren in Weiß eingerichtet. Weiße, riesige Schreibtische mit weißen Marmorplatten standen darin. Auch weiße, bequeme Ledersessel, in denen die Verstorbenen, meist noch nicht ganz angekommen, ausruhen durften, bevor sie Akteneinsicht bekamen.
Der Tod hatte einen Neuankömmling angemeldet. Es wurden Vorkehrungen in einem dieser Büros getroffen. Die marmorne Tischplatte wurde gereinigt und poliert. Die Akte mit dem schwarzen Deckel und dem Namen des Ankömmlings lag mitten auf dem Schreibtisch. Der weiße Sessel wurde zurecht gerückt, und ein würdiger, älterer Herr mit weißen Haaren betrat den Raum und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.
Ich kannte diesen Herrn nicht. Die graue Eminenz, die mich damals in Empfang genommen hatte, war jemand anderes gewesen. Er schaute uns