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WANDERER
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eBook411 Seiten5 Stunden

WANDERER

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Über dieses E-Book

Eine Gruppe von rund dreißig Menschen muss seit Jahrzehnten in einer fremden Welt jeden Tag wandern, bis sie abends einen Punkt unterhalb dreier Sterne erreicht hat. Dort werden die Wanderer mit allem versorgt, was sie zum alltäglichen Überleben brauchen.

Wer sind die Kräfte, die sie leiten und die der Legende nach die ›heiligen drei Sterne‹ genannt werden, bewohnt von drei neuen Göttern? Warum sind gerade diese Wanderer, die alle einen kreativen Hintergrund haben, in diese Welt transferiert worden? Und wie wird die Gruppe personell immer wieder aufgestockt, wenn eines ihrer Mitglieder verschwindet? Was ist der Sinn dieses ganzen Geschehens? Steht am Ende der Wanderung wirklich die Erlösung durch die Teilhabe am göttlichen Leben?

Die Gruppe der Wanderer hat eigenartige Mitglieder und entwickelt je nach Zusammensetzung unterschiedliche Strukturen. Erschüttert wird sie durch zwei Morde und das gleichzeitige Verschwinden einiger Abenteurer.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum11. Juni 2023
ISBN9783957657749
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    Buchvorschau

    WANDERER - Wolf Welling

    Prolog | Die neuen Götter

    Und es geschah zu einer Zeit, da sich die Menschen von den Göttern abgewendet hatten, sie vergaßen, ignorierten oder gar verlachten. Zeus und seine elf Olympier taugten nur noch für amüsante Geschichten im Schulunterricht; Thor, Odin, Frigga und die anderen germanischen Gottheiten verkamen zu gewalttätigen Sagengestalten; Jupiter, Neptun, Apollo und Venus waren nur noch Zierrat auf wertlosen Münzen und Vasen; Allah war zum Zerrbild oder zur Hassfigur geworden; die unüberschaubare Anzahl der hinduistischen Gottheiten und der Götter indianischer Stämme waren nur noch für den Aberglauben gut genug; und einen Gott hatte es im Buddhismus gar nicht erst gegeben, nur das erstrebenswerte Nirwana. Schon die ganzen Spaltungen in Katholiken und Protestanten, Sunniten und Schiiten, Gelbmützen und Rotmützen mit diversen Untergruppierungen hatten die Götter nicht nachvollziehen können. Sie verstanden die Menschen nicht mehr und verloren das Interesse an ihnen.

    Die Menschen waren ihrer Götter überdrüssig geworden. Mammon, Besitz, Events, Moden, Heilsversprechen, Verschwörungstheorien und Zerstreuungen aller Art waren an ihre Stelle getreten. Es war eine gegenseitige Distanzierung. Und so ließen die Götter die Erde im Stich und zogen sich in einen fernen Winkel des Universums zurück. Dort saßen sie wie Verbannte, trübsinnig und melancholisch, den alten wilden Zeiten nachtrauernd. Sie seien von den Menschen verlassen worden, sie seien nutzlos geworden, überflüssig. Die Menschheit habe den Glauben verloren, sie verstoße ihre Gottheiten, und immer mehr Menschen hätten nur noch ihr tägliches Leben mit Sorgen und Ablenkungen im Sinn. Die Religionen lösten sich in Nihilismus auf. Ihr Dasein ersticke in bleierner Routine, Langeweile und Ödnis.

    In dieser Situation taten sich die drei Stellvertreter der größten Religionen zusammen: Jesus, Mohammed und Buddha, ernannten sich zu neuen Gottheiten und beschlossen, der Menschheit den Garaus zu machen und nur eine kleine Gruppe Auserwählter zu erretten: die WANDERER. Sie sollten in ihren Kreis aufsteigen und ihr Dasein mit Kunst und Kultur, Kreativität und Erfindungsgeist neu beleben und erfreuen. Dies sei die Erlösung am Ende einer langen Wanderung: Die Aufnahme in den Kreis der Götter, an ihrer Seite, oder zumindest als Halbgötter – der Status hinge von der individuellen Dauer der Wanderung ab.

    Die drei Sterne am Himmel sind die Symbole für Jesus, Mohammed und Buddha. Diese drei hatten mit einigen Halbgöttern am Firmament eine Burg aus Bergkristall und Bernstein, ASGARD genannt, als ihren neuen Wohnsitz errichtet.

    Die WANDERER würden nach dem Tag des Jüngsten Gerichts in kristallinen Räumen leben mit Einrichtungsgegenständen aus Edelhölzern, Bernstein und Zierrat aus Gold und Edelsteinen. Sie würden in Purpur, Samt und Seide gekleidet und würden die köstlichsten Speisen kredenzt bekommen. Man nähme sie auf in den Kreis weiser und guter Wesen, die ihnen göttliche Kultur und göttliches Verhalten lehren und sie mit göttlichen Kräften und ewiger Gesundheit ausstatten würden. Damit wären die Gottheiten durch die WANDERER erlöst; sie erretteten die letzten Menschen und diese sie. Ihre Niedergeschlagenheit und ihre Melancholie würden weichen, sie begännen gemeinsam mit den Erwählten ein neues erfülltes Leben und würden mit ihnen eine neue Welt errichten, die die Kunst in den Mittelpunkt der Existenz rücken sollte.

    Die Vernichtung der restlichen Menschheit erörterten die drei Hauptgötter ausführlich und detailliert mit ihren Nebengöttern, Gesellen und Gespielinnen abends bei Wein und Würfelspiel: Vom Himmel würden sie ihre Apokalyptischen Reiter mit flammenden Schwertern aussenden, begleitet von sieben Engeln mit mächtigen Posaunenklängen. Riesen würden ganze Städte mit ihren gepanzerten Stiefeln zertrampeln. Hochhäuser würden von ihren mächtigen Fäusten zermalmt. Sie rissen Bäume aus und würfen sie hoch in die Luft. Die Berge würden zum Leben erwachen und kröchen auf die Täler zu, um sie unter sich zu begraben. Gigantische Ungeheuer aus den Tiefen der Meere würden an die Ufer drängen und Boote, Fahrzeuge und Straßen vertilgen. An den Küsten bekämen die Schiffe Flügel und schwebten übers Land. Blinde unterirdische Monster höben das Gelände und drängten ans Licht. Aus den Wolken fiele Feuer, Hagel und Blut. Alles Leben würde vernichtet.

    Allein die Auserwählten, die WANDERER, würden errettet und in ihren Kreis erhoben werden.

    Das war die Legende, die uns Neuankömmlingen erzählt wurde, nachdem wir auf Wiehl landeten.

    Hey Joe

    1

    Als ich in die neue Welt taumelte, bremste ein Faustschlag ins Gesicht meine Vorwärtsbewegung. Ehe ich reagieren konnte, boxte mir jemand in den Magen, ich sackte zusammen und fiel zu Boden. Dort spürte ich noch zwei Tritte in meinen Rücken. Ich krümmte mich zusammen und hielt schützend meine Arme um meinen Kopf, um nicht ernsthaft verletzt zu werden.

    Es ist nicht so, als hätte ich mich kampflos ergeben, immerhin hatte ich zwei Jahre Kickboxen geübt, aber dieser Angriff kam so überraschend, dass ich gar nicht reagieren konnte. Ich bin überhaupt kein Schlägertyp und gehe körperlichen Auseinandersetzungen lieber beschwichtigend aus dem Weg, es sei denn, ich werde angegriffen und sehe eine Chance, einigermaßen den Kampf zu überstehen. Ich hatte bisher nur wenige solcher Situation zu bestehen, also solche, in denen man sich mehr oder weniger schwer verletzen konnte, denn in den Übungen musste man ja darauf achten, den anderen nicht zu verletzen. Aber wenn es zu einer Schlägerei kommt, helfen einem die eingeübten Wendungen, Tritte und Hiebe nur bedingt, weil der Gegner sich nicht an die Regeln eines Trainings hält.

    Als ich malträtiert auf dem Boden lag, beugte sich eine große, breite Gestalt über mich. »Nur damit du Bescheid weißt! Der Boss hier bin ich und kein anderer! Kapiert?«

    Ich nickte mühsam. Was sollte ich auf diese Frage auch antworten? Ich kannte diesen Menschen nicht, ich wusste nicht, wo ich überhaupt war, und ich konnte keinen Grund für seine Attacke erkennen. Wer war der Kerl? Boss von irgendwas, was ich nicht kannte, und für Führungspositionen hatte mir schon immer der Ehrgeiz gefehlt. Ich wollte nie irgendwo Chef sein, ich wollte meinen Job machen und ansonsten in Ruhe gelassen werden.

    Ich schmeckte Blut in meinem Mund und spürte, dass eine Lippe aufgeplatzt war. Der Mann, der mich niedergeschlagen hatte, richtete sich auf und ging davon. Ich wartete noch einen Moment, ob noch ein anderer Schläger auf mich losgehen würde, dann rappelte ich mich, als nichts weiter geschah, mühsam hoch und sah, dass ich von einer Gruppe Menschen umgeben war, die mich nicht unfreundlich, teils mitleidig betrachteten. Einige von ihnen waren missgestaltet. Alle trugen altmodische, teils abgewetzte Kleidung und einen Rucksack.

    Ich tupfte mir mit dem Handrücken Blut von den Lippen und bemerkte, dass es leicht grün statt rot war. Auch meine Hautfarbe hatte einen grünlichen Ton angenommen. Ich glaubte, in einem Albtraum gelandet zu sein, aus dem ich mich schnell wieder befreien wollte. Allerdings sprachen meine Schmerzen im Gesicht und im Rücken gegen die Vermutung, mich in einem solchen Traum zu befinden. Ich sah mich vorsichtig um, ob ich erneut angegriffen wurde, aber der grobschlächtige Kerl, der mich niedergeschlagen hatte, hatte sich entfernt, und die anderen Leute standen passiv im Halbkreis um mich herum, starrten mich an und rührten sich nicht.

    »Auf unser Willkommensritual verzichten wir diesmal besser«, meinte eine etwas füllige Frau im mittleren Alter und sah bekümmert drein. Lange Haare hingen ihr ungepflegt im Gesicht, und mir fiel auf, dass alle um mich herum vernachlässigt wirkten. War ich hier unter Penner geraten?

    »Was war denn mit Big Daddy los? So hat er doch noch nie jemand Neues angegangen«, sagte ein älterer Mann, dem eine Brille schief auf der Nase saß. Wie alle Männer trug er einen Bart.

    »Das ist bestimmt die Zora, diese Roma, schuld«, bemerkte eine andere Frau mit verkniffenen Augen und herunterhängenden Mundwinkeln.

    »Die Zora? Wieso die?«

    »Ich hab gestern Abend zufällig mitbekommen, wie sie Big Daddy etwas zuflüsterte.«

    »Und das hast du verstanden, obwohl geflüstert wurde?«

    »Na ja, so halbwegs.«

    »Was hat sie ihm denn gesagt? Was soll sie denn bitteschön geflüstert haben?«

    »Wie gesagt, habe ich nicht alles verstanden. Aber zumindest so viel: Big Daddy solle sich bloß in acht nehmen. Unheil würde drohen, seine Position sei gefährdet, und so Zeugs halt.«

    »Und daraus hat Big Daddy geschlossen, dass der Neue … Wie heißt du überhaupt?«, wandte er sich an mich. Ich beugte mich nach vorne und stützte mich mit den Händen auf meinen Knien ab. Jetzt begann ich, meine Schmerzen zu spüren.

    Ich war völlig durcheinander. Jemand, den ich nicht kannte, hatte mich – jedenfalls aus meiner Sicht – grundlos angegriffen; um mich herum standen Menschen, die mir fremd waren und wirres Zeug redeten; die ländliche Umgebung, in der ich mich befand, war mir unbekannt; und ich hatte mich körperlich verändert, Stichwort: grünes Blut. War ich wahnsinnig geworden? Hatte ich bei einem Unfall oder einem Hirnschlag mein Leben verloren? Oder war ich an der Grenze zum Tode und befand mich jetzt in einer merkwürdigen Zwischenwelt mit zerlumpten Gestalten? Ich kannte weder einen Big Daddy noch eine Zora noch irgendeinen dieser Menschen, die um mich herum standen. Dennoch beschloss ich, erst einmal mitzuspielen.

    »Eigentlich heiße ich Johannes«, antwortete ich, »aber alle nennen mich Joe. Wo bin ich hier? Was ist hier eigentlich los?«

    Weiter vorn des Wegs hatte sich der Anführer, den sie Big Daddy nannten, umgedreht und gebrüllt: »Eh, wollt ihr Wurzeln schlagen oder was? Los, vorwärts jetzt, und ohne zu trödeln!« Die beiden Männer an seiner Seite stimmten ihm zu und riefen: »Macht voran! Los jetzt!«

    Die Leute, die um mich herum standen, drehten sich zu ihrem Anführer um und machten sich zögerlich auf den Weg.

    Eine hübsche Frau mittleren Alters wandte sich an mich und sagte: »Los, komm! Du musst mit uns gehen!« Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, dunkle Augen, ein schmales Gesicht und eine zierliche Figur. Sie war in keiner Weise geschminkt, trug einen abgewetzten Pullover unter einem Sakko, der ihr etwas zu groß war.

    »Ich denk nicht dran«, entgegnete ich trotzig.

    »Hör zu! Wenn du nicht mit uns kommst, wirst du hier verdursten und verhungern«, meinte sie und sah mich mit strengem Blick an. »Nahrung und Wasser gibt es für dich und uns nur, wenn wir heute Abend eine senkrechte Position unter den drei Sternen erreicht haben. Also los jetzt!« Sie forderte mich mit einer energischen Handbewegung auf, ihr zu folgen. Die anderen waren bereits ein Stück vorausgegangen.

    »Verdammt noch mal«, fluchte ich und wurde immer ärgerlicher. »Was soll das alles? Wo bin ich hier überhaupt?«

    »Komm jetzt mit, ich erkläre dir das unterwegs. Ich heiße übrigens Simone.« Sie zog mich am Ärmel und beeilte sich, die anderen einzuholen. Widerwillig folgte ich ihr auf einem ungepflasterten Weg.

    »Du bist hier auf Wiehl«, erklärte meine Begleiterin. Mir erklärte das allerdings gar nichts.

    »Auf Wiehl? Was für ein Wiehl? Wo liegt denn dieses Land?«

    »Es liegt nicht auf der Erde.«

    »Nicht auf der Erde? Wo denn sonst?«, fragte ich konsterniert und blieb stehen. Simone zerrte mich weiter und fuhr fort: »Irgendwo anders. Ich kann es dir nicht erklären. Es ist das Land der drei Sternengötter.«

    Ich schüttelte verständnislos den Kopf »Und wie bin ich hierhergekommen?«

    »Es gab einen Transfer.«

    »Was für einen Transfer, verflucht noch mal?«

    »Na ja, so eine Art Herholung deiner Person. Sei unbesorgt! Alles ist gut!«

    »Nichts ist gut! Und wer seid ihr?«

    »Wir sind die Auserwählten, so wie du.«

    »Ich und auserwählt? Von wem denn?« Ich hatte mich nie für etwas Besonderes gehalten oder wie ein Auserwählter gefühlt. Ich hatte auch noch nie bei einer Lotterie oder etwas Ähnlichem gewonnen. Daher spielte ich nach einigen anfänglichen Misserfolgen auch nie Lotto oder beteiligte mich nie an Glücksspielen, weil ich sicher war, nie etwas zu gewinnen. Und hier sollte ich ein Auserwählter sein? Dieser Gedanke war mit dem gewalttätigen Willkommensgruß eigentlich unvereinbar.

    »Die drei Sternengötter, die über uns stehen, uns leiten und beschützen, haben dich erwählt. Dort oben kannst du sie erkennen«, sagte Simone.

    Ich hob den Kopf und erblickte in der milchigen Helligkeit des Himmels weit vor uns drei helle Punkte. Ich war verständlicherweise immer noch völlig durcheinander. »Was haben diese Götter mit mir zu tun?«

    »Sie haben dich auserkoren, zu uns zu stoßen.«

    »Ich will nicht auserkoren sein, ich will wieder zurück nach Berlin.«

    »Das geht leider nicht. Es gibt keine Rückkehr. Dies ist deine neue Welt. Du wirst dich an sie gewöhnen. Gewöhnen müssen, wenn du überleben willst.« Sie zog immer noch an meinem Ärmel und beschleunigte ihre Schritte.

    Ich lief widerwillig mit und beschloss, mich erst einmal in mein Schicksal zu fügen und abzuwarten. Die Straße, auf der wir gingen, bestand aus festgestampftem Lehm mit einzelnen Steinen unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit. Die Ränder des Weges konnte ich vage erkennen, weil sie durch weitere Steine grob abgegrenzt waren. Rechts und links des Weges lag so etwas wie eine Steppe mit wenigen Sträuchern und spärlichem Grasbewuchs. Die Horizonte verloren sich im Nebel. Ich meinte aber, rechts und links der Landschaft so etwas wie hohe Mauern zu erkennen.

    Langsam verschwanden meine Schmerzen und meine Benommenheit. Ich achtete jetzt mehr auf meine Umgebung. Es war mäßig warm mit trockener Luft, die nach nichts roch. Ich hörte auch nichts, außer dem Gemurmel der Menschen vor mir. Ansonsten gab es keine Geräusche, kein Rauschen des Windes, kein Verkehrslärm, kein Flugzeug, keine Tiergeräusche. Diese Abwesenheit von Geräuschen und Gerüchen wurde mir schlagartig bewusst und verstärkte mein Gefühl, in einer völlig fremden Welt zu sein.

    »Sehe ich irgendwie verunstaltet aus?«, fragte ich besorgt die neben mir gehende Frau. Sie schaute kurz zur Seite und entgegnete: »Nee, bist völlig normal, bis auf deine etwas grünlich schimmernde Haut. Aber sonst scheint alles dran zu sein. Nach dem zu urteilen, was ich äußerlich sehen kann. Wie’s drinnen aussieht, kann ich ja nicht wissen.«

    Wir hatten zu den anderen aufgeschlossen und folgten ihnen als Letzte mit gleicher Geschwindigkeit. Der Typ, den sie Big Daddy nannten, schritt mit seinen beiden Kumpanen forsch vornweg, aber nicht zu schnell, damit alle mithalten konnten. Ab und zu umschwirrten uns Fliegen mit roten Köpfen, attackierten uns aber nicht und machten auch keine Anstalten, sich jemandem zu nähern.

    »Was sind das für Viecher?«, fragte ich Simone.

    »Das sind Geschöpfe der Götter«, ertönte vor mir eine strenge Stimme, »und keine Viecher!« Ich sah vor mir die dürre Gestalt eines älteren, sehr großen Mannes mit schwarzem Umhang und einer schwarzen Baseballkappe auf dem Kopf.

    Simone sagte leise: »Für Pater Hieronymus ist alles Teil unserer drei Gottheiten.«

    »Gibt es andere Tiere auf dieser Welt?«, erkundigte ich mich. Innerlich akzeptierte ich erst mal, da zu sein, wo ich zu sein schien.

    »Nein, das einzig Lebendige in dieser endlosen Landschaft sind wir Menschen, und das schon seit vielen Jahrzehnten. Spielzeuge für die Götter. Dann gibt es noch einen Vogelschwarm, der manchmal über den Himmel fliegt. Wir haben ihn aber nie landen sehen. Und natürlich diese komischen Fliegen. Ich glaube aber nicht, dass es Insekten sind, eher was Mechanisches.«

    Ich schüttelte den Kopf und dachte mir: Die Welt ist voller Wunder; oder besser: es gibt wahrlich wunderliche Welten. Wie war ich nur hierhergekommen? Und warum? Und was sollte das alles?

    2

    Der Transfer von der Erde hierher war für mich völlig unerwartet gekommen, ohne Vorzeichen, ohne Warnung, wie bei allen, die auserkoren waren, bevor sie zu den Wanderern auf Wiehl stießen. Es geschah auf der Party eines Freundes mit rund zehn Leuten (so genau konnte ich die Zahl nicht festmachen, da ständig neue Gäste kamen, während andere sich verabschiedeten). Ich hatte meine neue Freundin Uschi mitgebracht, die ich während meiner andauernden Studienzeit kennengelernt hatte und für die ich eine tiefe Zuneigung empfand. So was war bei mir eher selten, also, dass eine Beziehung mehr als nur ein gelegentliches Begehren war. Uschi war voll und ganz mein Typ, schlank, nett, aufgeschlossen, leutselig und lustig, und ich schien ihr auch zu gefallen. Ich hoffte, dass all die positiven Eigenschaften, die ich ihr zuschrieb, nicht das Ergebnis der rosa Brille war, die Verliebtheit nun einmal mit sich bringt, sondern etwas Tieferes – ein Band, das uns für lange Zeit verknüpfen würde. Immerhin kannten wir uns seit über zwei Jahren, waren aber erst seit drei Monaten »richtig« zusammen. Wir wohnten zwar in verschiedenen Apartments, sie in einem Studentenheim, ich in einem etwas heruntergekommenen Altbau mit einem Fenster zum Hinterhof, übernachteten aber immer häufiger bei einem von uns beiden.

    Ich hatte mich auf der Party gerade neben Uschi gesetzt und ihr den gewünschten Cocktail überreicht, einen Cuba Libre, und den Arm um ihre Schulter gelegt, als es passierte. In einem Moment hörte ich noch die dröhnenden Bässe der Technomusik aus den Lautsprechern und sah Uschi in die dunklen Augen (sie lächelte mich an), als ich plötzlich einen Sog verspürte, nach vorne taumelte und einen Schlag ins Gesicht bekam. Der Punch kam so unerwartet, dass ich mich nicht wegducken und mich auch nicht wehren konnte. Das hätte ich durchaus gekonnt, denn ich war durchtrainiert, ein passabler Kurzstreckenläufer, ein passabler Tennisspieler, und ich hatte an einigen Boxtrainings teilgenommen.

    Beruflich war ich zu der Zeit nicht fest verankert, sondern hielt mich mit Gelegenheitsjobs wie Kellnern, Taxi fahren, Essen ausliefern, auf Messen aushelfen und allen möglichen anderen Aushilfstätigkeiten finanziell einigermaßen über Wasser. Außerdem versuchte ich mich als Schriftsteller und hatte schon einen Roman und eine Reihe Kurzgeschichten veröffentlicht, die von der Kritik recht gnädig aufgenommen worden waren. Sparte? Fantastik im weitesten Sinne. Zur Zeit meines »Transfers« schrieb ich an meinem zweiten Roman, mit dem ich aber nicht so richtig vorankam. Wenn Uschi mich nicht immer aufgemuntert hätte, weiterzumachen, hätte ich das ganze Projekt längst aufgegeben und mich dem Schreiben von Hörspielen gewidmet.

    Okay, es gab auch dunkle Seiten in meiner Vergangenheit: Marihuana, Crack und Ecstasy. Vom Dealen hatte ich nach einigen schlechten Erfahrungen allerdings bald die Finger gelassen. Mit meinem bescheidenen Erwerbseinkommen – die Schriftstellerei brachte (noch) nicht viel ein – konnte ich mir zumindest die billige Miete, die Studiengebühren und eine (gewiss ungesunde) Ernährung leisten. Secondhandklamotten von meinen betuchten Freunden nahm ich gerne entgegen.

    Meinen Namen Joe als Abkürzung für Johannes hatte ich bereits in der Schule bekommen, als ich überall von dem Song »Hey Joe« schwärmte. Seitdem begannen viele Rufe nach mir mit Hey Joe, ein Akronym, das auch in den Gesprächen häufig verwendet wurde.

    Nach dem Abitur leistete ich ein Jahr Dienst bei der Bundeswehr. Ich hätte diesen Dienst am Vaterland auch verweigern können, wie viele meiner Berliner Kumpels. Das hätte mir aber zu viel Engagement abverlangt. Ich bin eher der gelassene Typ, der die Dinge auf sich zukommen lässt, und nicht einer, der sie gestalten will. Viel zu anstrengend. Ich hatte begonnen, Wirtschaftspädagogik zu studieren, dann zur Sozialpädagogik gewechselt, zwischendurch zwei Semester Philosophie studiert, ein paar Scheine gemacht, nichts zu Ende gebracht. Ich wusste gar nicht mehr, im wievielten Semester ich eingeschrieben war und für was eigentlich, denn ich brauchte meine Zeit zum Gelderwerb (das war schon anstrengend genug) und für mein Hobby: das Fotografieren. So hatte ich zwar beim Transfer mein Handy dabei, mit dem ich meiner Leidenschaft hätte frönen können, aber der Akku des Gerätes war bereits einen Tag nach meiner Ankunft leer. Empfang gab es keinen, und meine Versuche zu fotografieren schlugen fehl – auf dem Display war immer nur eine schwarze Fläche zu sehen.

    Mein Wissen über meine frühere Welt bezog ich in erster Linie aus den stundenlangen Diskussionen mit den Typen aus meiner Clique, die oft bis in die frühen Morgenstunden andauerten. Nach dem Erwachen wusste ich allerdings oft nicht mehr, worüber überhaupt geredet worden war und zu welchem Ergebnis man gekommen war.

    Das war meine Situation, bevor ich von wem oder was auch immer zwangsweise als Mitglied in die Gruppe der Wanderer rekrutiert wurde. Nachdem ich mich einigermaßen mit der Situation abgefunden hatte, beschloss ich, das herauszufinden.

    3

    Die Wanderer, wie sich die Gruppe nannte, erreichten ihr Ziel am Tag meiner Ankunft so gegen sechs Uhr, wie meine noch funktionierende Uhr anzeigte. Die drei Sterne befanden sich genau über uns im Zenit des Himmelsgewölbes. Die Wanderer stellten ihre Sachen ab, begutachteten die Gegenstände, die auf dem abendlichen Rastplatz herumlagen und suchten nach etwas Brauchbarem. Unter anderem fanden sie einen Rucksack für mich. An ihm war nichts Besonderes – es war dieselbe Sorte Rucksack wie bei allen anderen.

    Seitlich des Weges stand eine etwa eineinhalb Meter hohe Säule mit zahlreichen Ausbuchtungen. Aus ihnen zapften die Gruppenmitglieder einen Brei in ihre Blechnäpfe. Simone erklärte mir, dass diese Nahrung an jedem Abend gleich sei, zwar nicht schmecke, aber in ausreichendem Maße sättige und alle Vitamine, Kohlenhydrate und so weiter enthalte, die die Wanderer brauchten, um zu überleben, nicht zu erkranken und den nächsten Tag durchzustehen. Die Säule enthielt in Hüfthöhe auch so etwas wie einen Wassersprudler, der die nötige Flüssigkeit spendete.

    Simone und ich öffneten den Rucksack, der offensichtlich mir zugedacht war, und wir inspizierten dessen Inhalt: ein Blechgeschirr mit Besteck, ein zusammengefaltetes Zeltteil, ein eng zusammengerollter Schlafsack sowie Toilettenutensilien. Simone erklärte mir die einzelnen Gegenstände und ihre Funktionen.

    Nach einiger Zeit traf die Gruppe Vorbereitungen für das Abendessen. Ich spürte plötzlich, dass ich ziemlich hungrig war, denn seit meinem »Transfer« hatte ich nichts gegessen. Simone zeigte mir, wie ich Nahrung aus der Säule und Wasser aus dem Sprudler zapfen konnte.

    Einige der männlichen Gruppenmitglieder sammelten Äste aus der Umgebung und entzündeten ein Lagerfeuer. Nachdem jeder sein Abendessen aus der Nahrungssäule gequetscht hatte, setzten sich alle im Kreis verteilt, holten ihr Besteck aus den Rucksäcken und schenkten sich etwas von dem abgezapften Wasser in ihre Becher.

    Alle mussten aber mit dem Essen warten, bis Pater Hieronymus sein Gebet gesprochen hatte: »Göttliches Dreigestirn, welches du am Himmel über uns wachst, wir danken dir für deine Gaben. Wir preisen dich und geloben demütig, dir immer zu folgen, auf guten wie auf schlechten Wegen. Ihr drei Sterne, ihr gebenedeites Dreigestirn, beschützt und geleitet uns gnädig bis zur Erlösung. Unser Reich komme, wie im Himmel so auch auf allen Welten.« – »Amen«, antworteten einige.

    Die Gruppe aß schweigend. Mir schmeckte weder der Brei noch die Flüssigkeit, und ich schauderte bei dem Gedanken, beides jeden Abend zu mir nehmen zu müssen.

    Ich musterte die einzelnen Mitglieder dieser merkwürdigen Gruppe und fragte mich, was das Gemeinsame war, das sie verband. Sie bestand aus etwa gleich viel männlichen wie weiblichen Personen unterschiedlichen Alters. Die Jüngsten waren zwei Kinder, die so zwischen acht und zehn Jahre alt waren, und die Älteste schien so um die siebzig zu sein. Alle waren in Klamotten gekleidet, die aus einer Altkleidersammlung zu stammen schienen, sahen aber keineswegs uniform aus. Äußerliche Gemeinsamkeiten konnte ich nicht ausmachen, außer dass einige leicht missgestaltet waren. Aber das hatte ich bereits bei meiner »Ankunft« bemerkt. Insgesamt umfasste die Gruppe über zwanzig Personen, und diese Zahl bliebe in etwa immer konstant, wie mir Simone erklärte. Abgänge würden nach kurzer Zeit durch Neutransfers ersetzt, sodass die Gruppe immer ähnlich sei.

    »Wen habe ich ersetzt?«, fragte ich.

    »Erzähle ich dir später mal«, antwortete sie ausweichend, was sie allerdings nie tat.

    Was sollte das alles hier? Warum war ich hier? Welche Merkmale hatte ich, dass ich Kriterien erfüllte, um »auserwählt« worden zu sein? Was war hier meine Rolle? Wie sollte das hier weitergehen, und wie sollte es enden? Ich hatte so viele Fragen zu dieser mysteriösen Welt, beschloss aber, sie Schritt für Schritt zu stellen, um meine Situation und die der Gruppe zu klären.

    Nach dem Abendessen wusch jeder sein Geschirr und das Besteck in einer dafür vorgesehenen Schüssel ab, trocknete es mit einem Handtuch und verstaute es in seinem Rucksack. Wie ich bemerkte, begann jetzt der gemütliche Teil des Tages, an dem die Wanderer plauderten, Erinnerungen austauschten, sich neckten, schwiegen oder in einem der wenigen vorhandenen Bücher lasen. Für mich war dieser erste Abend allerdings alles andere als gemütlich. Ich versank in düstere Grübeleien.

    Aus den Gesprächen bekam ich mit, dass einige aus der Gruppe schon viele Jahre mitwanderten. Alle sprachen Deutsch, teils im Berliner Dialekt, und alle kamen aus Berlin, wie ich auch. So war die Stadt mit ihren Vierteln, den außergewöhnlichen Ereignissen, den Skandalen und Verbrechen, den kulturellen Angeboten, den Fußballvereinen, der Lokalpolitik, der Stadtentwicklung und so weiter häufiger Gesprächsstoff, und jeder Neuankömmling wurde ausgequetscht, was es Neues zu berichten gab. Ich hielt mich zur Enttäuschung aller zurück. Ich war unsicher und schwieg lieber, weil ich die Situation nicht einschätzen konnte.

    Simone saß neben mir. Nach dem Essen rückte sie näher an mich heran, beugte sich zu mir und sagte leise: »Wenn du willst, Joe, kann ich dir heute Nacht Gesellschaft leisten«, flüsterte sie, hatte dabei den Kopf gesenkt und zu Boden geblickt.

    Ich atmete tief ein und aus und meinte: »Das ist nett von dir. Aber ich bin noch völlig durcheinander und muss erst mal zu mir kommen.«

    Simone nickte verständnisvoll.

    »Aber ich habe noch eine Frage: Wird es nachts kalt? Kann es regnen?«

    »Es wird höchstens drei Grad kühler. Ist im Schlafsack gut auszuhalten. Und Regen? Was ist das? Ich habe es fast vergessen. Hier regnet es nie.«

    Ich sah mich immer wieder im Kreis der Wanderer um und versuchte, die einzelnen Mitglieder einzuschätzen. Ich stellte fest, dass einige in Kleingruppen zusammenhockten, andere sich aber isoliert am Rande aufhielten. Wie üblich waren mir einige gleich sympathisch und andere eher nicht. Aber ich hatte gelernt, vorsichtig mit meinem ersten Eindruck von meinen Mitmenschen zu sein. Ich sah diesen ersten Eindruck eher als Hypothese an, die sich nach näherem Kennenlernen bestätigen, aber auch verworfen werden konnte.

    Big Daddy und seine beiden Kumpane streifte ich nur mit kurzen Blicken, wobei ich bemerkte, dass der mich immer wieder misstrauisch musterte. Ich wollte ihn aber keinesfalls provozieren und wich seinem Blickkontakt schnell aus.

    Weiter weg von ihm bemerkte ich einen Mann mittleren Alters, der von anderen mit Essen versorgt wurde. »Was ist mit diesem Mann dort drüben, der sehbehindert zu sein scheint?«, fragte ich Simone.

    »Die Götter haben ihn während eines Sturms geblendet«, antwortete sie.

    »Warum das?«

    »Er wurde für irgendwas bestraft. Warum, wissen wir nicht, und er selbst hat auch keine Ahnung. Wahrscheinlich war er einfach nur ein zufälliges Opfer.«

    »Zufällig? Dann kann das also jedem passieren? Dass man sein Augenlicht verliert? Dass man plötzlich blind wird?«

    »Es kommt selten vor. Sehr selten. Wir helfen den Betroffenen, soweit es geht.«

    »Gibt es noch andere Strafen

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