Leben heißt anfangen: Worauf es ankommt. Mit einem Nachwort von Rupert Neudeck
Von Ruth Pfau
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Über dieses E-Book
Ruth Pfau
Ruth Pfau, Dr. med., (1929-2017), war seit 1960 Lepraärztin in Pakistan. 1981 erstmals im Untergrund in Afghanistan, wo sie einen Gesundheitsdienst aufbaute. 2002 Magsaysay-Award (»asiatischer Nobelpreis«), 2004 Goldmedaille des Albert-Schweitzer-Preises, 2005 Dönhoffpreis.
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Buchvorschau
Leben heißt anfangen - Ruth Pfau
Ruth Pfau
Leben heißt anfangen
Worauf es ankommt
Mit einem Nachwort von Rupert Neudeck
Herausgegeben von Rudolf Walter
Ein einfach-leben-Buch
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2018
www.herder.de
© Nachwort: Dr. Rupert Neudeck
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption und Gestaltung: Designbüro/Gestaltungssaal
Umschlagfoto: © Bernd Hartung
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN Print 978-3-451-00769-9
ISBN E-Book 978-3-451-81480-8
Inhalt
Vorwort
1. So ist mein Leben
2. Die Sinnfrage
3. Warum? Das Drama des Leidens
4. Helfen – warum und wie?
5. Der Tod und die Liebe
6. Im Horizont der Liebe
7. Geheimnisvolles DU
8. Die große Freiheit
9. Trotzige Hoffnung
10. Einfach anfangen!
Nachwort von Rupert Neudeck
Quellenverzeichnis
Vorwort
Von Rudolf Walter
„Wenn mein Lepraprogramm schiefgegangen wäre wie die Welt, die Gott geschaffen hat, dann hätte ich mir einen Experten bestellt." – Dass die Welt so ist, wie sie ist, blieb für Ruth Pfau lebenslang die große Herausforderung. Experten, die mit ihrem Knowhow alles lösen könnten, gibt es nicht. Es gilt also, sich dem auszusetzen, was ist: Erdbeben und Flutkatastrophen, Seuchen und Krankheiten – auch dem von Menschen verursachten Leiden, Unrecht, Terror. Das Böse, das Menschen einander antun, die Fähigkeit zum Schrecklichen, das ist für sie die andere, dunkle Seite unserer Freiheit. Einer Freiheit, zu der freilich auch die Fähigkeit zum Lieben gehört. Und die Freiheit, etwas zu tun – und Wunder nicht nur zu sehen, sondern auch möglich zu machen. Ihre Devise: nicht irgendwann damit anfangen, wenn die Umstände vielleicht erfolgversprechender sein werden. Sondern jetzt. Sich nicht nur darauf verlassen, dass anderes es schon richten werden. Sondern sich ansprechen lassen, von dem, was einem in den konkreten Menschen begegnet. Mitfühlen – und handeln.
Als sie 1960 in einem Slum der Millionenstadt Karachi, in der McLeod Road hinter dem Hauptbahnhof, auf ein Lepracamp aussätziger Bettler trifft und Mohammed Hassan begegnet, einem 30jährigen, der auf allen Vieren in den Bretterverschlag kriecht und der sein Elend in dumpfer Resignation akzeptiert, da sind Empörung und Entschiedenheit die Konsequenz ihres Mitleids: „Ich wusste plötzlich: Hier, hier musste es geschehen. Wie? – Gleichgültig. Jetzt! … Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft: ein und für allemal."
Hinsehen, nicht gleichgültig bleiben gegenüber der offensichtlichen Not eines anderen. Helfen, Leiden verhindern, die Ursachen angehen, sich in die Pflicht nehmen lassen, Leben ermöglichen und fördern: Darum geht es Ruth Pfau. Liebe – als bedingungslose Zuwendung, als Bejahung des anderen ohne jeden Vorbehalt, eintreten aus der Zentriertheit auf das eigene Ich: das bleibt dabei freilich die entscheidende Tatsache.
Aber es gibt auch andere existentielle Erfahrungen. Es bleiben ungelöste Fragen, auch Dunkelheiten, die bis ins Gottesbild hineinreichen, die aber doch die erste Überzeugung nicht auslöschen können: Liebe ist das letzte Wort im Leben.
Der Glaube, dass Gott sich nach der Schöpfung nicht aus der Welt zurückgezogen, im Gegenteil: sich in sie hineinbegeben und sich selbst als Liebe zu erkennen gegeben hat, macht es nicht einfacher. Gott ist nicht mit den Mitteln unseres kleinen Verstandes begreifbar. Er wäre nicht Gott, wenn wir ihn verstehen würden. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen steht auf der „eschatologischen Liste". Und die Liste ist im Verlauf des Lebens länger geworden. Sie hofft, dass die Rätsel sich auflösen werden, eines Tages, nach dem Tod.
Die andere Reaktion ist: Gott suchen in allen Dingen. Eben auch im Leiden, im Meer der Hilflosigkeit, im verunstalteten Gesicht des Leprakranken. Gott ist nicht die Idee der Perfektion, nicht der unbewegte Beweger. Er ist mitten im Leben. „Gott ist der Gott des Heute. Der Lebenssinn ergibt sich, indem ich dieses Heute annehme. Das hat mir eingeleuchtet. Aber dann habe ich gedacht, das ist nicht ganz richtig, Gott ist viel konkreter, er füllt wohl das ganze Heute aus, mit besonderer Intensität aber erfüllt er den Augenblick. Er ist wirklich der Gott des Jetzt. Wer den gegenwärtigen Augenblick verpasst, verfehlt sich selbst, weil er Seinen Plan verfehlt."
Leben ist jetzt. Und jeder Tag hat Gewicht, jeder ist eine neue Herausforderung. Wo anfangen? Da wo wir sind! „Das ganze Leben ist eine Folge von Anfängen, von immer wieder neuen Anfängen und Anfängen und Anfängen." Ob in Karachi oder hierzulande. Ruth Pfaus Überzeugung: Wo wir sind, nicht wo wir sein möchten, ist der Ort, an dem wir anfangen müssen.
„Ich bin zu jung. „Ich bin zu alt.
Diese Ausreden ließ sie nie gelten. Damals nicht, als sie als junge Ärztin in Karachi vor einem unüberwindlich scheinenden Berg von Problemen stand. Und auch dann nicht, wenn ihr Menschen entgegenhielten: Was Sie tun, das ist doch alles nur ein Tropfen auf dem heißen Stein …
Wer sich als Junger nicht auf die Herausforderungen einlässt, an dem geht das Leben vorbei. Und alt werden, sagt Ruth Pfau, heißt einen neuen Weg gehen und neue Erfahrungen machen. „Gemessen an der Ewigkeit sind ja auch 80 Jahre erst der Anfang." Vielleicht ist es das, was – wenn schon nicht jung, so doch lebendig hält.
„Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht ich?" Eine Weisheit, die einem jüdischen Weisen zugeschrieben wird. Ruth Pfau würde das unterschreiben, nicht als Frage, sondern als Feststellung: Leben heißt anfangen. Jetzt. Worauf warten wir noch?
1. SO IST MEIN LEBEN
So ist mein Leben. Bisweilen schwierig
und zuzeiten leicht. Ein Weg mit vielen
Kehren. Meine Erfahrung sagt mir:
Leben ist immer vielschichtig, bunt,
widersprüchlich, unvorhersehbar
und nie eindeutig.
1, 207
Fassungslos
In der Schulzeit waren wir alle im BDM. Ich verachtete das primitiv Proletenhafte an den Nazis. „Bizeps-Kultur nannten wir das. Aber angesprochen waren wir von dem Elitebewusstsein, das in der Führergruppe gepflegt wurde. Das war verführerisch. Mit dreizehn war mein schwärmerisch verehrtes Ideal die Leiterin unserer „Führergruppe
. Ich war in dieser Kader-Gruppe und gewohnt seit meiner Kindheit, die „Nummer Eins zu spielen. (Außer im Sport. Sport habe ich immer gehasst.) Ich hatte das Gefühl, dass diese Führerin mich besonders behandelte – und dass es mir zustand. An einem der „Heimabende
redeten wir über Nietzsche. Dann kam der Satz: „Die größte Tapferkeit ist, unberührt zuzusehen, wenn ein anderer leidet." Das war das Ende. Da war es bei mir plötzlich aus. Ich rannte hinaus. Sie mir nach, sie wollte über die Sache noch einmal sprechen. Ich blieb beim Nein, ging nach Hause und heulte fassungslos.
5, 27
Nicht zuschauen
Wie ist es