Ein Mensch, den sie Schnute nannten: Bergischer Roman
Von Josef Krämer
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Über dieses E-Book
Karl, der behindert zur Welt kommt, zeigt insbesondere, was er mit liebender Hilfe aus sich herausholen kann, mit der fürsorgenden Liebe seiner Oma, der Freundschaft seines Freundes Hans und der starken Liebe von Helga. Eine spannende, ergreifende und unterhaltsame Geschichte um Liebe und Freundschaft in schlimmen Zeiten.
Josef Krämer
Josef Krämer war Lehrer und ist Verfasser einer Reihe von Mundart-Theaterstücken, Liedern und Geschichten. Ebenso hat er Romane geschrieben, die sich mit der Geschichte und den Menschen im Bergischen Land befassen.
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Buchvorschau
Ein Mensch, den sie Schnute nannten - Josef Krämer
Eine Erzählung aus dem Bergischen Land
Karl ahnte etwas von der Wahrheit, dass man in dieser Welt nur weiterleben kann, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, wie sie ist, sondern dass sie werden wird, wie sie sein soll. (Ausschnitt)
„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt." (Sokrates)
„Glück ist die Überwindung von Leid."
„Du wirst morgen sein, was Du heute denkst." (Gautama Buddha)
„Du kannst über das Wasser gehen".
„Stehe auf!"
(Jesus)
Inhalt:
Dank
„Die große Reise"
Reukaffee
Schulzeit
Das Leben auf dem „Kamp"
Die Harmonika
Der Steinkühler
Der Sonntag
Die Birnenbachs
Schätzmühle
Der Musikant
Berufswahl
Das Geschenk des Himmels
Der Meister
Der Musikverein
Der Doktor
Helga
Demenz
Betragen: sehr gut
Krieg
Umbruch
Lebensfreude
Hans
Dorothea
Die Rettung
Dank
Diesen Roman, zu dem mich meine Frau Hildegard besonders ermuntert hat, habe ich mit besonderer Freude geschrieben. Immer, wenn ich über Sachthemen brüte und daran intensiv arbeite, fragt sie mich, warum ich es mir so schwer mache, denn beim Schreiben von Erzähltexten sei ich gelöster und fröhlicher.
Es ist tatsächlich so, dass Texte und Dialoge dann aus mir heraus fließen, wie aus einer unstillbaren Quelle. Ich spüre, wie ich aus dem unausschöpfbaren Fundus greifen kann, den Gott in mir über Generationen angelegt hat. Ich höre meine verstorbene Frau Franziska und meinen Vater sprechen, mein Großvater deckt mir lachend den Tisch und lädt seine Freunde dazu ein, so dass ich nur noch aufschreiben muss, was sie tun und erzählen.
So war es auch bei diesem Roman. Und doch sind die Personen und ihre Namen fiktiv, sie sind so, wie sie hier handeln, von mir erfunden, obwohl ich denke, dass ich die Charaktere getroffen habe und man die dahinter versteckten Menschen wiedererkennen kann.
Die Orte, an denen diese Geschichte spielt, existieren tatsächlich und die Kriegsereignisse sind leider traurige Realität gewesen, jedoch nicht genau in der Form, wie ich sie im Zusammenhang mit den Ereignissen beschreibe. Schon immer faszinieren uns Menschen, die das Leben vor besondere Herausforderungen stellt. Da sind Ereignisse, die zunächst wie eine Katastrophe aussehen, in Wirklichkeit eine Chance, herauszufinden, was wirklich wichtig ist. Es gibt Menschen, die aufgrund eines Handicaps ihr Leben völlig unorthodox ordnen und aufbauen müssen, Menschen, die ein anderes Leben führen müssen, deshalb aber nicht weniger glücklich sind, als andere. Obwohl diese Menschen ihre körperliche Unversehrtheit verloren, haben sie andererseits viel gewonnen und sie können uns sehr viel geben.
Wir können von ihnen lernen, dass in uns allen sehr viel mehr steckt, als wir für möglich halten. Wir können von ihnen lernen, was es heißt, Probleme zu haben und diese zu lösen. Wir können von ihnen aber auch lernen, dankbar zu sein. Und wir können von ihnen lernen, dass Freude, Glücklichsein, Zufriedenheit und Erfolg nicht von den Äußerlichkeiten eines unversehrten und intaktem Körpers abhängen und durch Behinderungen infrage gestellt werden müssen.
Diese Menschen nutzen ihre von Gott gegebenen Tugenden und Talente in besonderer Weise. Diese Menschen zeigen, dass wir in jeder Situation die Wahl haben zwischen den Gegensätzen: Aufgeben und Weitermachen, Verzweiflung und Sich-herausgefordert-fühlen, Selbstmitleid und das Beste daraus machen, Unglücklichsein und Glücklichsein, Verbitterung und Liebe. Und mit dieser Freiheit halten wir alle den Schlüssel in der Hand, trotz aller Widrigkeiten ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen.
Uns sollte klar sein, dass, wenn wir von Behinderungen sprechen, damit nicht nur tiefgreifende körperliche Beeinträchtigungen gemeint sind, sondern jedes kleine Wehwehchen, sei es körperlich oder mental, dem wir negativen Einfluss auf unser Verhalten überlassen. Mit zunehmendem Alter verspüre ich selber die damit verbundenen Veränderungen, die über unabdingbare körperliche Beeinträchtigungen auch Einfluss auf die Psyche nehmen wollen. Doch: Dein Lächeln ist ein Bumerang! Im Grunde unseres Herzens sollten wir erkennen, dass wir zwar alle auf irgendeine Art und Weise unvollkommen sind, aber gleichzeitig auch alle über das Potential verfügen, das aus uns heraus zu überwinden. Wie sagen es die Bläck Föhß treffend: „Jedem fählt en Eck oder eben: „Nobody is perfect.
Im Buch ist viel von Tugenden die Rede und ich habe mich bemüht, einige in mir schlummernde zu aktivieren, wobei ich hoffe, dass ich das auch bei den Lesern bewirken kann.
Der Autor
Nutze den Tag!
Carpe diem (Horaz)
„Die große Reise"
„Um die Grabrede, die du heute halten musst, bist du wirklich nicht zu beneiden, Theo. Wie du die immer hinkriegst, ist mir sowieso ein Rätsel."
In der Sakristei der Lindlarer Pfarrkirche Sankt Severinus bereiteten sich Pastor und Küster auf ein Begräbnis vor. Der Küster versuchte den kunstvollen Turmdeckel auf den mit frischen Weihrauchkräutern gefüllten, goldig glänzenden Turibulum einzurasten. Er zog die Messingketten durch die seitlichen Ösen und schwenkte probierend die Weihrauchschale einige Male hin und her. Dabei schaute er lächelnd zu seinem Freund, der augenscheinlich keine Zeit hatte, ihm sofort zu antworten, denn sein Kopf steckte unter der Soutane, die er sich übergezogen hatte, ohne sie aufzuknöpfen. Wie das so ist, wollte er den einfacheren Weg gehen, doch merkte nun, dass das Gegenteil der Fall war. Er hatte sich hoffnungslos in seiner eigenen Falle verstrickt. So fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum. Der Küster griff schnell nach dem Weihwasserkännchen, um es zu bewahren, Opfer dieser Ungeschicklichkeit zu werden. Dann packte er beherzt das verhedderte Kleidungsstück seines Gegenübers am Kragen und befreite ihn aus seiner unbequemen Lage.
Der Pastor schnaufte und atmete schwer. „Danke dir, Heinrich, sagte er. „Was meintest du eben?
Er griff den Gesprächsfaden auf.
„Du hast mich schon verstanden." Der Küster fuhr fort, die Sachen für die Beerdigung bereitzustellen.
Dabei sprach er, ohne sich ablenken zu lassen. „Schließlich fällt mir bei unserer Toten heute einiges ein, was sich für eine Grabrede, sagen wir mal, nur bedingt eignet. Ein so bewegtes Leben in ein paar Sätze zu fassen, ist ein Kunststück, das nicht mal du fertig bringen kannst."
„Quatsch, Heinrich, antwortete sein Freund und Pastor, während er weiter machte, sich so zu bekleiden, wie es für ein Begräbnis üblich war. „Wenn ein Mensch gestorben ist, den man gut gekannt hat, so bündeln sich in Gedanken seine Tugenden auf wundersame Weise in unserem Gedächtnis. Das ist die Gerechtigkeit, die jedem zusteht, meine ich
.
Der Pastor legte die Stola an. „Wenn ich einen Verstorbenen in meiner Grabrede über den grünen Klee lobe, ist das nicht gelogen. Ich vergesse einfach, was ich zu Lebzeiten an ihm als nicht besonders lobenswert empfunden habe. Es ist auf einmal nicht mehr wichtig. Und bei ihr habe ich solche Klimmzüge ja nicht nötig".
Er schnäuzte sich in ein großes Taschentuch und ergänzte dann: „Glaube mir, Heinrich, vielleicht ist irgendwelche ehrliche oder versteckte Kritik in den meisten Fällen sowieso nicht so nennenswert und dient nur dazu, den eigenen Frust abzureagieren." Sinnend stand er da und dachte über seine Worte nach.
„Wie meinst du das denn?" fragte der Küster Heinrich, der mittlerweile mit seiner Kramerei nach all den Utensilien fertig geworden war.
„Ich meine, dass man oft etwas haben muss, an dem man seinen eigenen Ärger aufhängen kann; und da kommen einem andere Leute richtig."
„Da könntest du Recht haben, bestätigte Heinrich. „Wie leicht ist es doch manchmal, andern das anzuhängen, mit dem man selber nicht fertig wird.
„Genau so habe ich es gemeint. Der Pastor kniete nieder, indem er seine beiden Hände auf die Oberschenkel drückte und sich mühsam dabei bückte. Er merkte seine Jahre, aber auch seine Pfunde. Er bekreuzigte sich. Nachdem er ebenso voller Mühe wieder nach oben gekommen war, redete er weiter: „ Doch, wie gesagt, es kommt der Tag, da erkennt man, was da eigentlich alles unter den Teppich gekehrt werden könnte, von dem man sonst glaubt, man müsse es an die große Glocke hängen. Schließlich steckt ja in jedem Menschen etwas Gutes, was er aber leider nicht immer nach außen zeigt.
Der Küster lachte: „In der Beziehung könnte sich mancher mal wenden lassen. Aber es geht ja bei einem Rückblick nicht nur um den einen, da müssten auch manche andere Beteiligte ihr Fett weg kriegen.- Vielleicht stünde es auch einem Pastor gut an, vorsichtiger und demütiger zu sein, bevor er sich über andere ein Urteil erlaubt."
Der Pastor lächelte wissend, während er seinen Blick auf die Uhr richtete, die in der Sakristei über der Tür zur Kirche hing. „Lass mal gut sein! Ich urteile nicht, das mag ein anderer tun. Er schluckte. „Einen Augenblick haben wir noch Zeit, Heinrich. Lass uns nicht so hetzen.
„Soll mir Recht sein. Die Emma Schnute hält still." Er meinte die Tote, die in der Kirche im Sarg auf die Fahrt zum Friedhof wartete.
„Nun sage nicht mehr Schnute zu ihr, jetzt, wo sie tot ist, das hört sich so respektlos an", sagte der Pastor vorwurfsvoll.
„Ja, was soll ich denn sonst sagen? Ich kenne sie nur als Schnutes Oma. Und das seit meiner frühesten Jugend."
„Die Schnutes haben einen ganz normalen Namen, wie alle anderen Menschen. Sie heißen Kramm, weißt du? Die Kramms vom Kamp. Du wohnst doch auf dem „Vogelsdreck, das ist doch nicht weit weg davon.
„Spitznamen haben ja in Lindlar eine alte Tradition. Wenn Schnute einmal anzüglich gemeint war, dann hat sie daraus einen Ehrennamen gemacht, meine ich."
„Vor ein paar Tagen beim Reukaffee vom Webers Schorsch hat ihr Enkel, der Karl noch seine Witzchen gemacht. Als einer meinte, es wären wieder viele Leute bei der Leiche, war seine prompte Antwort: „Ich möchte sie nicht hinter mir haben".
Heinrich holte tief Atem: „Wer möchte das schon? Er machte eine Gedankenpause. „Und jetzt ist es seine Großmutter, die er nach so einem tragischen Ende zu Grabe tragen muss. Das wird nicht leicht für ihn sein, denn die beiden haben sich besonders nahe gestanden – und er hat ihr eine Menge zu verdanken.
„So schnell kann es gehen. Der Pastor seufzte: „Wir wissen alle nicht, wann wir die Reise antreten müssen.
„Das ist auch gut so. Weil das so ist, sollten wir jederzeit vorbereitet sein."
Der Küster zog seine Taschenuhr aus der Hosentasche und verglich die Zeit mit der Wanduhr. Die Zeit schien überein zu stimmen, denn er sagte kommentarlos: „Über so etwas denke ich gar nicht nach. Dafür sorgt meine Frau schon, dass ich nicht über die Stränge schlage."
„Ich hoffe doch, dass du auch alleine weißt, was du zu tun oder zu lassen hast", scherzte der Geistliche. Er griff nach dem Barett, setzte es auf seinen Kopf und sich selbst in Bewegung durch die Tür, vor der in der Kirche zwei Jungen im Gewand der Messdiener standen. Sie mussten hier warten, während sich der Pastor in der beengten Sakristei umzog, in der allerlei Kram herumstand, der für eine Kindermesse am Sonntag vorgesehen war. Das war gar nicht so einfach, ruhig zu stehen angesichts der Leute, die mehr und mehr die Kirche füllten. Die beiden hatten das Gefühl, aller Augen seien auf sie gerichtet. So scharrten sie mit den Füßen wie zwei ungeduldige Pferde, die man vor den Kutschwagen gespannt hatte und zurück hielt, los zu stürmen.
Doch sobald die Tür hinter ihnen knackte, warf einer einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln nach hinten, zog an dem Glockenstrang neben der Tür, die Glocke bimmelte und sogleich hörte man das Schrappen und Schürfen der Schuhe der wartenden Leute, das anzeigte, dass alle aufstanden. Dabei ging ein Raunen durch das Gotteshaus, als ob alle gleichzeitig den Atem ausströmten, und es war, als ob man einen angestauten Druck durch hundert Ventile ausließe.
Emma Kramm konnte auf ihre letzte Fahrt gehen, obwohl sie eigentlich schon längst angekommen war.
Ein Pastor ist von Berufs wegen angehalten, sich mit dem Leben der Menschen in seiner Gemeinde zu beschäftigen. Sofern sie katholisch sind und zur Beichte kommen, erhält er noch mehr als alle andern, Einblicke in ihren Alltag und ihr Seelenleben. Natürlich würde jeder Geistliche nie Gebrauch von seinem Wissen machen, doch unser Pastor war klug genug zu wissen, dass man manche Tatsachen nicht ignorieren kann, weil sie fest im Gedächtnis verankert sind. Sie drängen sich von ganz alleine nach vorne und erinnern daran, berücksichtigt zu werden.
Besonders bei seinen Überlegungen zu Ansprachen bei Familienfesten, zu denen er auch Beerdigungen zählte, kamen Theo so viele Einzelheiten aus dem Leben der beteiligten Personen in den Sinn, dass er Mühe hatte, sie so einzusortieren, dass niemand gewahr werden konnte, woher er sein Wissen um sie hatte.
Auch beim Nachdenken über ein paar Worte am Grab von Emma Schramm, genannt Schnute, kamen ihm so viele Dinge in den Sinn. Schließlich kannte er die Familie seit er nach Lindlar gekommen war. Spontan verband er ihr Leben mit dem ihres Enkels Karl, der mit schlimmen Behinderungen auf die