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eBook257 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Als sich Sofia uns gegenüber endlich offenbarte und ihrem Geheimnis ein Ende setzte, war ich zeitweise davon überzeugt, nie wieder glücklich sein zu können. Es war weniger die Hoffnung, die mir weiterhalf, sondern meine absolute Überzeugung, meiner Tochter beiseite stehen zu wollen und sie zu stützen, solange es nötig sein sollte.

Mit diesem Buch möchte ich mich an alle Mütter und Väter wenden, die mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sind. Mögen sie darin Inspiration, Mut und Trost finden!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Nov. 2020
ISBN9783347006256
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    Buchvorschau

    Oroncate - Cristina Schaaf

    Vorwort

    Heute vor genau einem Jahr, am 20. Mai, bekamen wir Sofias E-Mail. Draußen überzieht, so wie damals, das gleiche helle Grün unsere mitteleuropäische Landschaft: die saftigen Zweige voll zarter Triebe leuchten neben den alten, mattbraunen Tannenzapfen der Fichten, in der Stille des frühen Abends.

    Gerade versuche ich, mich an jenen Nachmittag zu erinnern, an jede Szene des Tages, der mein Leben so veränderte, und an dessen Morgen ich eine andere Frau war als an dessen Abend. Die dickbäuchigen Wolken, die den deutschen Frühlingshimmel immer wieder durchziehen, beobachte ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit und des Staunens: weil bisher alles gut gelaufen ist, und weil mir vorgeführt wird, wie sich alles im Laufe eines Jahres wandeln kann; eines folgt dem anderen und dann, zwölf Monate später, trägt dieser Tag wieder denselben Namen, obwohl er ein ganz anderer ist: der zwanzigste Mai.

    Seit elf Tagen habe ich Sofia nicht sprechen können. Man sagte mir, sie sei im Schweigen, eine Selbsterfahrungsübung, die sie auf Beschluss ihres Therapeuten José durchführen muss. Seit zehn Monaten ist sie nun in Therapie, in der geschlossenen Einrichtung des Proyecto Vida, über sechstausend Kilometer von uns entfernt. Seit einem Jahr habe ich eine andere Tochter als die, die ich mein Leben lang zu haben glaubte.

    Nun hadere ich nicht mehr mit mir. Es kann sogar sein, dass ich in diesen Monaten die wichtigsten Unterweisungen meines Lebens erhalten habe. Es gibt Zeiten, in denen ich ein so ruhiges Glück empfinde, wie ich es mir nur bei fortgeschrittenen, praktizierenden Buddhisten vorstellen kann. Es gibt auch Zeiten, an denen ich so verzweifelt bin, dass ich gar keinen Weg mehr sehe, keine Hoffnung kenne, und sich wieder die Idee in mir ausbreitet, im Leben gründlich versagt zu haben. Ich verstehe jetzt, was es heißt, am Leid zu wachsen. Ich verstehe jetzt, was es heißt, dass das Leben einen Sinn hat, so verborgen er auch sein mag. Ich erlebe am eigenen Leib, dass Wunden heilen können, wenn wir unsere Sicht auf die Dinge ein wenig verändern.

    Ich habe erfahren, wie einsam ich sein kann, und ich durfte gleichzeitig erleben, wie viele mitfühlende, verständnisvolle Menschen sich um mich herum befinden. Dafür bin ich dankbar, auch dafür, dass meine Tochter noch am Leben ist und ihren eigenen Weg Richtung Glück eingeschlagen hat.

    Allen Freunden und Verwandten möchte ich an dieser Stelle von Herzen danken, dafür, dass sie immer wieder aufs Neue mit ihrem Interesse und Wohlwollen meine Last erträglicher gemacht haben und mir dazu verholfen haben, an eine Zukunft zu glauben.

    Dem Leben - was es auch immer sein mag - danke ich für all diese Erkenntnisse und Geschenke und für mein Wachstum, und sei es auch so schmerzhaft wie es manchmal anscheinend nötig ist.

    Mir fehlte jene klare Freude, und sogar auch die Aufregung, die in mir das Reisen schon seit Kindesbeinen hervorrief, an jenem Sonntag eines Monats Mai, auf dem Weg zum Flughafen, kurz nach sieben Uhr morgens, im Sonnenschein des reifen Frühlings, durch die französische Landschaft, die noch ruhte und zu schlafen schien, vielleicht weil ich immer noch nicht wusste, einfach nicht verstehen konnte, weshalb und warum ich so unvorhergesehen diese Reise in aller Eile angetreten hatte, nachdem ich alle Termine abgesagt hatte, Termine, auf die ich mich seit Monaten vorbereitet, auf die ich mich außerordentlich gefreut hatte, die wichtig für mich waren. Nun gab es aber plötzlich nichts, absolut gar nichts, was wichtiger für mich war, als diese übereilte Reise, die mir keine Freude bereitete, was mich zunächst eher seltsam überraschte und ziemlich beunruhigte, wie etwas bedrohlich Fremdes, dem man nie zuvor begegnet war.

    Auf der französischen Autobahn, die wie jeden Tag unbeirrt durch das blühende Elsass führte, fuhren kaum Autos. Der Verkehr war spärlich an jenem Sonntagmorgen. Auch die Sonne war nicht anders, sie war so wie jeden Tag, und ich fragte mich plötzlich, ob es wirklich die selbe Sonne war, die jetzt auch auf der Insel scheinen, und die jetzt unsere - meine - Sofia sehen würde.

    Ein Satz drehte sich gebetsmühlenartig in meinem Gemüt, der sich in mir irgendwann während der letzten Tage eingenistet hatte und aus irgendeinem Buch stammte, ein Satz, der mich nicht mehr loslassen wollte: „Was uns bleibt ist nur das, was wir verloren haben." Er untermalte aufdringlich meine Stimmung, die Landschaften, durch die wir, ohne viel zu reden, im leicht dunstigen Morgenlicht fuhren, die traurigen Gedanken und die düsteren Befürchtungen, die mich seit einer Woche permanent begleiteten: zwei Wächter, die unbeirrt Tag und Nacht, ohne zu ermüden, ihren Beschattungsauftrag durchführten, eisern und gnadenlos.

    Wir hielten kurz an einer Raststätte an, um etwas zu trinken, und als wir wieder ins Auto steigen wollten, stand neben uns ein ausgewachsener Storch, wie eine Modigliani Figur. Er stolzierte mit seinen langen, purpurroten Beinen auf uns zu, hielt dann plötzlich inne und lief misstrauisch und in langen Schritten schwankend davon.

    Ich dachte an die Störche von Avila, damals, im Sommer 2006, die zu Hunderten auf dem Dach der Kathedrale nisteten, und die wir von unserem Hotelzimmer aus ungestört beobachten konnten. Es war August und die Steppe um Avila, diese karge, bis zum Horizont reichende, gelbschimmernde Weizenlandschaft Kastiliens, breitete sich unter der langen, im kühlen Schatten der Kathedrale verlaufenden granitgrauen Stadtmauer zu unseren Füßen aus. Durch das tiefe Blau über der Hochebene zogen die Störche jeden Abend und jeden Morgen ihre Kreise, klapperten mit ihren spitzen, scharfen Schnäbeln, und die Luft war erfüllt von einem wirren Kastagnetten-Konzert bizarrster Art.

    Eine Woche vorher war meine Mutter gestorben. Während ich ihre kleine Hand hielt, die sich auf einmal wie ein lebloser Spatz anfühlte, war sie mir entschlafen. Jeden Abend in Avila, als ich die Störche beobachtete, dachte ich mit neuem Wohlwollen und Erstaunen daran, wie man mir als Kind erzählt hatte, dass wir Menschen von dem Storch gebracht werden, über die weiten Strecken des Himmels. Jene Störche in Avila wurden mir zum Trost, sie wurden wieder zum Fabelwesen meiner Kindheit, die ich für immer und nun endgültig mit dem Tod meiner Mutter verloren hatte. Der Storch und die Mutter, der Storch und die Mutter und die Tochter.

    Nachdem wir am Flughafen meinen Koffer aufgegeben hatten, fiel es uns beinahe leicht uns zu trennen, weil diese Reise eine ganz andere Reise war als alle früheren Reisen, und weil wir uns auffallend schnell verabschiedeten und jede Art von Gefühlsregung zu vermeiden wussten, als wäre es nicht die richtige Zeit dafür. In nur einer Woche würde Peter nachkommen, um sich mit mir und meiner Tochter auf der Insel zu treffen.

    Ich wartete in der Nähe des Gates. Die Halle füllte sich nach und nach mit Reisenden, Familien mit ihren Kindern, denen man die Gelassenheit und Heiterkeit des Urlaubs ansah, das Reisefieber, die freudige Erregung, die man am Anfang der gerade erst angebrochenen Ferien verspürt. Ich beobachtete sie, und ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich nicht dazu gehörte, dass meine Reise auf die Insel kein Vergnügen versprach, keine Erholung und keine freudigen Erlebnisse, sondern viel eher mit noch nie da gewesener Enttäuschung, Verzweiflung und Verdruss drohte.

    In der Maschine hatte ich einen Fensterplatz reserviert. Es würde ein langer Flug werden und ich hatte keine Lektüre dabei, da ich mich seit einigen Tagen nicht mehr auf das Lesen konzentrieren konnte. Neben mir nahmen zwei junge Männer Platz, in kurzen Strandhosen und Sandalen, die sehr aufgedreht wirkten, sich laut auf Bayrisch unterhielten und ihre Reiseeuphorie nicht bändigen wollten. Selten war ich mir so fremd vorgekommen; fremd auf Reisen, fremd in Deutschland, fremd der Insel gegenüber, fremd in meiner eigenen Haut, in meinem eigenen Kopf. So ähnlich war es mir auch im Sommer 2006 ergangen, als meine Mutter in Madrid im Sterben lag. Solange ich denken konnte, stellte mich Spanien, meine geliebte und zurückgelassene Heimat, immer wieder auf die Probe.

    Es waren die Alpen, die nach einer Weile auftauchten und bestimmt war die Spiegeloberfläche, die ganz unten auf der Landkarte so glitzerte, der Bodensee. Es war mein inzwischen vertrautes Mitteleuropa, wo ich mich seit Jahren heimisch und sicher fühlte, wo ich seit beinahe vierzig Jahren gelernt hatte, frei und glücklich zu leben, nach meiner leidvollen Vergangenheit in Spanien. Ich hatte mich dem Fenster zugewandt, und signalisierte eindeutig, dass ich in kein Gespräch verwickelt werden wollte.

    Unter mir lagen Meere von hier und da aufgerissenen, bläulichen Wolken, und es war sehr ungewohnt, alleine an diesem Sonntagnachmittag in der gleißenden Maisonne über den Wolken dahin zu ziehen. Ich hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Zwischendurch musste ich ernsthaft überlegen, ob es Frühling oder Winter, ob Ostern schon vergangen war, oder bald Weihnachten sein würde. Dafür liefen in meinem Geist auffällig viele Szenen aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit ab, Geschichten über Geschichten aus meinem Leben, die vorher nicht da gewesen zu sein schienen, als hätten sie sich in der Kiste eines vergessenen Speichers befunden, die plötzlich und wie von Geisterhand aufsprang, und all diese Episoden unvermittelt hervorquellen ließ, Episoden, die ich mir geschworen hatte, für immer zu vergessen.

    Nach nur einer Woche hatte ich plötzlich das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein. Binnen sieben Tagen war ich merkwürdigerweise schlagartig 56 Jahre alt - oder hatte ich es vorher einfach nicht bemerkt? Wie vieles war mir denn in den letzten drei oder vier Jahren dadurch entgangen, dass ich endlich das Leben führen durfte, das ich immer gewollt hatte, ein Leben, das ich in vollen Zügen genoss? Es schien mir so, als hätte mich das Glück, das sich nach langen Jahren des Wartens und Hoffens zu mir gesellt hatte, blind gemacht für alles, was an Ungereimtheiten um mich herum passierte. Aber war das wirklich so gewesen? Es schmerzte, mir immer und immer wieder dieselbe Frage stellen zu müssen. War ich nicht genug aufmerksam gewesen, wie hatte ich die Realität so übersehen können?

    Sofia hatte sich verändert, und das hatte ich ganz und gar nicht übersehen, sondern sehr früh erkannt, was mich nicht nur besorgte, sondern auch befremdete. Aber alle Menschen um mich herum hatten versucht, es mir auszureden. Ich solle mir doch keine Gedanken machen, Sofia sei schon immer sehr patent gewesen und meine Reaktion sei unangebracht, ja, eine übertriebene, mütterliche Reaktion. Das sei nicht angemessen, hatten alle gesagt. Gerade als Sofia vor einem Jahr ihre Arbeitsstelle verloren hatte, und Peter es mir erzählte, war ich alarmiert gewesen, vielleicht sogar eine Nuance zu sehr alarmiert. Für einen kurzen Augenblick hatte ich richtige Panik verspürt, und mir kam der Gedanke, ohne dass ich dafür eine Erklärung hatte: „Jetzt ist alles aus!"

    Oft hatte ich mich in den letzten Tagen an diesen Gedanken erinnern müssen und nun war mir klar, dass es eine Eingebung oder meine Intuition gewesen sein musste, die mich damals so erschrocken hatte. Peter aber beruhigte mich, und bat mich, nicht hysterisch zu werden. „Sofia hat alles im Griff, die solltest du doch kennen! Sie bekommt zwei Jahre lang Arbeitslosengeld und eine größere Summe als Abfindung. Damit will sie zunächst einmal ein halbes Jahr aussetzen und dann in Ruhe einen Arbeitsplatz suchen. Ich finde das sehr vernünftig von ihr, das wird sie auch schaffen, wie sie bisher alles geschafft hat, was sie sich in den Kopf gesetzt hat."

    So hatte ich mir dann auch gesagt, wie um mich zu besänftigen, „Sei nicht hysterisch, Beatriz! Du benimmst dich wie eine überspannte Glucke, und das wolltest du nie werden. Sofia weiß sehr genau, was sie tut und sie hat immer wieder bewiesen, dass sie eine sehr kluge und zuverlässige, erwachsene Frau ist!"

    Sofia hatte sich mir gegenüber sehr ablehnend gezeigt, als ich sie am Telefon fragte, was passiert sei. Während des Gesprächs machte sich jene Spannung bemerkbar, die Sofia seit zwei Jahren befiel, sobald über Themen aus ihrem Leben gesprochen wurde. Jeder Versuch, die aufkeimende Aggression zu besänftigen, verursachte noch weitere Spannung. Ich verstand auch nicht, was sie so sehr ärgerte, wollte ich doch einfach nur von ihr hören, wie es ihr ging und was sie für Pläne hatte. „Mir geht es wunderbar, ausgesprochen phantastisch geht es mir, beinahe so gut wie noch nie, versicherte sie euphorisch. „Mir geht es immer wunderbar, bis du ein Drama daraus machst! Komm bloß nicht auf die Idee, mich unter Druck zu setzen, denn ich werde mich ein halbes Jahr lang nirgendwo bewerben! Vielmehr werde ich mein Leben endlich genießen und nur schöne Sachen tun. Nach einem halben Jahr werde ich genau in dem Bereich arbeiten, der mir Spaß macht, ob es dir gefällt oder nicht. Sie war mir sehr fremd, wenn sie mich ohne ersichtlichen Grund so anschrie, und ich ließ sie in Ruhe, wie mir alle rieten.

    Wieder kamen mir ihre gescheiterten Beziehungen in Erinnerung. Ich war sehr betrübt, dass sie so viel Schmerz erlebt haben musste. Sie tat mir sehr leid. Nun konnte ich mir einerseits nicht verzeihen, es nicht eher bemerkt zu haben und gleichzeitig war ich wütend, weil ich es sehr wohl bemerkt hatte und trotzdem nicht weitergekommen war, weil mir von allen Seiten gesagt wurde, ich solle keine Übermutter sein und sie doch einfach in Ruhe lassen. Selbst Elena und Yalman, die mir so nahe gewesen waren, dass ich tatsächlich gedacht hatte, sie seien meine Freunde, verwandelten sich in meine Gegner und warfen mir vor, Sofia zu unterdrücken und zu bevormunden. „Sofia möchte eine Auszeit einlegen, sagte mir Yalman „und das ist völlig legitim, wo sie ihr ganzes Leben lang nur gearbeitet hat. Nun wünscht sie sich einzig und allein deinen Segen, erklärte er mir im Brustton der Überzeugung. Er glaubte nicht, dass sie schon immer meinen Segen hatte, seit ihrer Geburt, und dass ich sie nur unterstützen wollte. Er bestand darauf, dass Sofia und ich schon immer ein sehr angespanntes Verhältnis gehabt hatten. Das war mir völlig neu.

    Im Flugzeug sitzend, hoch über dem Atlantik, erinnerte ich mich mit einem bitteren Geschmack im Mund wieder daran, wie Sofia versucht hatte, unsere Freunde gegen uns aufzuwiegeln. Selbst vor meiner Ausbildungsstätte in Köln hatte sie nicht halt gemacht und dort angerufen, im Rausch der Wut, um mit meinem Studiendirektor zu sprechen und ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass ich geisteskrank sei. Als man mir dies im Institut erzählte, konnte ich es anfangs nicht glauben: das konnte nicht meine Tochter sein, da lag bestimmt ein Missverständnis vor! Diese extremen Reaktionen hatten mir zu denken gegeben, jedoch nicht so viel, dass sie mir die Augen geöffnet hätten, dass ich wirklich Alarm geschlagen hätte. Eher führte ich es auf die belastenden Ereignisse der letzten Jahre zurück und auf den schlechten Einfluss, den Axel und Dieter auf sie ausgeübt hatten.

    Irgendwann während des Fluges, im Schweben und im Zweifeln und im Hoffen, schlief ich ein. Es war weniger die Verbitterung, es war eher der Schmerz, der mich so erschöpfte und lähmte. Im Traum stand ich vor Sofia, in der Diele meiner Madrider Wohnung, vor der Tür des Aufzugs. Sie schaute mir lange regungslos in die Augen, ohne zu blinzeln. Sie wirkte wie versteinert: „Du warst immer nur unglücklich. Ich fühlte mich immer dazu verpflichtet, dich zu schonen, Mama. Ich wollte sie umarmen, aber sie sprang zurück, holte ungeschickt ihr Handy aus der Tasche und begann zu telefonieren, als sei ich nicht da. Dann drehte sie sich um und ging sicheren Schrittes in mein früheres Schlafzimmer. Meine Mutter lief ihr entgegen und fragte: „Kind, wie ist das nur möglich? Wie ist das nur möglich? Dann hörte ich den alten Madrider Aufzug losfahren und wurde davon wach. Es war jedoch der Getränkewagen, der von der Stewardess durch den Gang geschoben wurde. Das Erwachen warf mich wieder in die neue Realität zurück. Ich war unterwegs zur Insel, auf einer Reise, die ich mir nie hätte träumen lassen.

    Sofia war nicht zu der Präsentation meines Buches gekommen. „Ich bin dabei, mich überall zu bewerben. Wenn ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werde, will ich hier auf der Insel sein. Wir waren froh, dass sie endlich mit der Arbeitssuche begonnen hatte. Nachdem ich sie aber tagelang nicht erreichte, wurde ich wieder unruhig. Nach vielen Versuchen bekam ich sie endlich ans Handy. „Ich komme gerade zur Tür herein, mit dem Hund. Wir waren soeben spazieren! Ich koche mir schnell etwas. Kann ich Dich in einer halben Stunde anrufen? fragte sie außer Atem. Aber sie rief nicht an.

    Spätestens da hätte ich eindeutig merken müssen, dass etwas nicht stimmte, etwas, das wahrscheinlich so bedrohlich war, dass ich es mir gegenüber nicht eingestehen wollte oder konnte. Denn ich schrieb ihr eine SMS mit meiner Befürchtung, sie wolle nicht mit mir reden, und darauf folgte direkt eine Antwort: „Hab' doch etwas Geduld!"

    Erst zwei Tage später erhielt ich eine weitere Botschaft von ihr, sie sei bei ihren netten kubanischen Nachbarn gewesen, daher hätte es nicht geklappt. Sie schickte mir viele Küsschen, auch von den Kubanern. Ich solle sie doch nicht so bedrängen und unterdrücken. Ich kannte diese Nachbarn nicht, sie hatte sie vorher nie erwähnt. Nun tauchten sie wiederholt auf Fotografien in ihrem Blog auf: ausgelassen tanzende Farbige, mit Biergläsern in der Hand, mit großen runden Augen in die Kamera lächelnd. Ich fragte mich, ob ich ihnen bei unseren nächsten Besuch auf der Insel auch begegnen würde, und der Gedanke jagte mir große Angst ein. Inzwischen hatte Lollo die Fotografien in Sofias Blog auch gesehen und meinte: „Denen will ich nicht in einer dunklen Gasse begegnen." Aber da wussten wir schon, welche Bewandtnis es mit den Kubanern auf sich hatte, und nun wirkten sie verständlicherweise auf uns alle sehr bedrohlich.

    Nach dieser Episode nahm ich mir endgültig vor, konsequent von Sofia Abstand zu halten, damit sie mich nicht immer wieder wegstoßen und ich nicht unter dem Schmerz leiden musste, nicht mehr an sie heran zu kommen. Sie war mir gegenüber extrem aggressiv. Allerdings schien es außer mir niemandem in der Familie und in meiner Umgebung aufzufallen. Für mich wurde es wirklich Zeit, sie in Ruhe zu lassen und nicht mehr anzurufen, bis sie die Initiative ergriff. Peter jedoch fand meinen Entschluss nicht gut. Er wollte den Kontakt zu ihr aufrecht erhalten. „Distanziere dich von deiner Mutter, wenn es für dich zurzeit richtig ist. Aber ich bin für dich da, ich will mit dir in Verbindung bleiben. Was hältst du davon?", schlug er ihr vor.

    Manchmal schrieben sie sich E-Mails, und dadurch gab mir Peter das Gefühl, sie irgendwie im Blick zu behalten. Eines Tages berichtete sie, nun wolle sie noch ein großes Abenteuer erleben, bevor sie wieder die Arbeit aufnahm, und deshalb plane sie mit den Kubanern für sechs Wochen nach Kuba zu fliegen. Alle ihre Freunde würden sie dazu ermutigen und jetzt fehle ihr nur noch unser Segen. Wieder läuteten die Alarmglocken, denn wir fanden es sehr merkwürdig, dass sie nach einem Jahr Arbeitslosigkeit solche Pläne hatte.

    „Nimmt sie vielleicht Drogen?" fragte mich eines Tages meine Freundin Myriam. Aber den Gedanken fand ich so vollkommen abwegig, dass ich ihn weit von mir wies.

    Mittlerweile lag eine dichte Wolkendecke unter uns. Die zwei jungen Männer neben mir schienen sich darüber zu ärgern und befürchteten, schlechtes Wetter auf der Insel zu bekommen. Noch nie war mir die Idee eines Strandurlaubs auf der Insel absurder vorgekommen. Die Insel hatte sich für mich in eine Hölle verwandelt, in eine unberechenbare Hölle, die unserer Familie einen brutalen Schlag verpasst hatte.

    Plötzlich erblicke ich ihn von Weitem, den Guade, den Vater Guade, dessen unverkennbarer Gipfel teilnahmslos und gleichzeitig unnachgiebig aus dem Wolkenmeer herausragte. Nach Tausenden von Kilometern bläulicher und weißer Wolken, ließ er sich sehen, kolossal groß und verführerisch wie ein überdimensionaler Loreley-Felsen im Meer.

    Ich näherte mich ihm aus der Luft und war von einem lauten Vorwurf erschüttert, der in mir bei seinem Anblick entstand, einem vorsintflutlichen, verzweifelten Aufschrei: „Vater Guade, was hast du mit meiner Tochter getan, die ich dir im Paradies anvertraut habe?"

    Doch er schwieg sein jahrtausendealtes Schweigen, während sich die Maschine in der Luft drehte, als würde sie sich vor ihm verneigen, und dann Kurs auf den Süden der Insel nahm. Nur der Guade war sichtbar, ringsum war die Insel von dichten, grauweißen Wolken bedeckt, durch die man die Küstenstreifen nur erahnen konnte, als würde der unerbittliche Vulkan alles verbergen, verschleiern wollen, als hätte er kein Mitgefühl, nur ein tief verstecktes, schwarzes Lavaherz. „Ich werde dir mein Herz wieder entreißen, das du mir gestohlen hast!", schwor ich ihm und mir selber von der Luft aus, während mir lavaheiße Tränen bis zum Kinn flossen, und ich mir die Silhouette des Vulkans tief einprägte, um sie niemals, niemals wieder zu vergessen.

    Wir waren früher als erwartet gelandet, und so stand ich mit meinem Koffer in der

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