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Der vergessene König des Blues - Tampa Red: Die umfassende Biografie!
Der vergessene König des Blues - Tampa Red: Die umfassende Biografie!
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eBook332 Seiten4 Stunden

Der vergessene König des Blues - Tampa Red: Die umfassende Biografie!

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Über dieses E-Book

Tampa Red müsste im selben Atemzug mit Blueslegenden wie Robert Johnson, Muddy Waters oder B.B. King genannt werden. Während mehr als 20 Jahren war er in Chicago tonangebend - der Erste mit einer Blechgitarre, einer der Ersten mit einer E-Gitarre, pionierhafter Saitenvirtuose, Autor von über 300 Songperlen, Mentor vieler späterer Stars. Doch Hudson Whittaker, so sein bürgerlicher Name, verlor gegen Ende seines Lebens Glanz und Gesundheit, starb einsam wie ein Vergessener. Bis heute erschien kein umfassendes Buch über ihn, kein Film, nichts. Unbegreiflich!

Mit einem literarischen Trick versucht der Schweizer Autor und Musiker Richard Koechli, das Steuer herumzureissen, dem vergessenen König nachträglich ein würdiges Ende zu bereiten. Eingebettet in eine fiktive Gesprächsrunde mit der jungen Pflegehelferin Anna und ihrem musikbesessenen Freund Eric, lässt er Hudson Whittaker kurz vor dem Tod (19. März 1981) gleich selber erzählen: Über das Leben in Chicago, über die Liebe, natürlich über seine Musik und seine Songs, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über Trauer, Verzweiflung, über die Angst vor dem Ende - und schliesslich über das Glück des Vertrauens, der Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Spannend wie ein Krimi, berührend und humorvoll wie ein Drama, klärend wie ein Geschichtsbuch. Koechli zeichnet Tampa Reds Leben einfühlend und historisch präzise nach, vermittelt dabei entscheidende Ereignisse und Wesenszüge des Blues - und ruft nebenbei auch in Erinnerung, wie Rock'n'Roll und Rockmusik auf dem Rücken dieser Musik entstanden sind.

Im Nachwort: Renommierte Musiker und Medienleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erzählen ihre persönliche Tampa Red-Story - Hank Shizzoe, Peter 'Crow C.', Al Cook, Martin Schäfer, Gerd Vogel, Erik Trauner, Herby Dunkel, Klaus 'Mojo' Kilian, Tanja Wirz, Rainer Wöffler, 'Ro Lee' Sommer, Rolf Winter, Wale Liniger
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. März 2017
ISBN9783743906181
Der vergessene König des Blues - Tampa Red: Die umfassende Biografie!
Autor

Richard Koechli

Der Schweizer Musiker und Buchautor Richard Koechli ist ein grosser Kenner der amerikanischen Rootsmusik und ihrer Geschichte. Seine im AMA- und tredition-Verlag erschienenen Fachbücher und Musikromane sind renommierte Standardwerke (Deutscher Musikeditionspreis 2011); als Gitarrist und Singer/Songwriter wurde er mit dem Swiss Blues Award, dem Schweizer Filmmusikpreis sowie mit der Prix Walo-Nominierung ausgezeichnet. Mehr Informationen: www.richardkoechli.ch

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    Buchvorschau

    Der vergessene König des Blues - Tampa Red - Richard Koechli

    Kapitel 1

    Der Seltsame auf Zimmer 24

    Anna fühlte sich seltsam unsicher, als sie an einem kühlen Montagmorgen im März durchs nördliche Stadtviertel von Chicago fuhr. Es war, als ob eine geheimnisvolle und unkontrollierbare Zeitmaschine sie genau in diesem Augenblick ruckartig zurückschleudern würde. An einen geistigen Ort, den sie sich nicht aussuchen konnte. Alles von damals war plötzlich wieder da, ungefragt. Genau dieselben Ängste und Fragen wie vor Jahren, aber ebenso die stimulierende Mischung aus kindlicher Unschuld und fein dosierter Abenteuerlust. Hier hatte sie ihre Jugend verbracht. Anna drosselte das Tempo, damit die Bilder im rechten Seitenfenster nicht zu schnell vorbeiflitzten.

    Der Park, etwas weiter weg das Stadium; Anna konnte keine Veränderung erkennen. Es war nicht sehr lange her. Vor vier Jahren, rechnete sie sich vor, war sie mit ihren Schulkolleginnen hier zum letzten Mal auf diesen Plätzen herumgerannt. Das Hanson Stadion wurde schon immer rege benutzt für allerlei Schulsportanlässe. Auch heute schien eine farbenfrohe Gruppe warm gekleideter Kids sich gutmütig von ihrem Lehrer zur Leibesübung überreden zu lassen. Soccer, Lacrosse und Football hatten sie damals gespielt, ebenso Leichtathletik. «Leichtathletik spielt man nicht», widersprach sich Anna. Sie fühlte sich nie wie eine Mannschaftssportlerin. Der einsame Kampf des Mittelund Langstreckenlaufs, das war für sie the real thing. Hier im Stadion hatte sie prächtige Meetings dieses königlichen Sports erlebt, sogar mit internationaler Besetzung. Auch sie selber war bei Junior Championships dabei gewesen, als 800-m- und 1500-m-Läuferin. Auf dieser Kunststoffbahn hier. Ein fantastisches Gefühl!

    Doch während der letzten Jahre blieb ihr keine Zeit zum Trainieren. Sie hätte ohnehin für eine Karriere als Sportlerin nicht genügend Talent gehabt; Anna hatte sich deshalb für den Pflegehelferinnen-Beruf entschieden. Noch zwei Monate bis zur staatlichen Abschlussprüfung. Das gab ihr zu denken. Sie hatte gut gearbeitet, doch ihre Zukunft hing am Faden dieses verflixten Diploms, und Anna hasste unerbittliche Momente der Entscheidung. Ungewissheit machte ihr Angst, auch jetzt. Ein einmonatiges Praktikum war der Schluss ihrer Ausbildung. Sie war auf dem Weg dorthin. Der allererste Tag in diesem Altersheim. Was würde auf sie zukommen? Alles fremde Menschen, vielleicht gehässige Kranke, vielleicht senile und lüsterne alte Männer. Natürlich waren solche Herausforderungen Teil ihres künftigen Berufes. Sie versuchte, positiv zu bleiben. Der Angst kann man nicht ausweichen; es gilt, ihr erhobenen Hauptes zu begegnen. Es gilt, diese Krücke des Egos zu verscheuchen, mit dem aufrichtigen Plan, Gutes tun zu wollen. Wer seine Mitmenschen nach bestem Wissen und Gewissen pflegen möchte, braucht sich vor nichts zu fürchten. Anna wusste es, doch die Erkenntnis war vorerst im Kopf gefangen, konnte zu ihrem ganzen Wesen nicht vordringen. Die Angst hingegen sehr wohl. Und ausgerechnet heute schlug auch die Zeitmaschine wieder zu. All die kleinen Fortschritte der letzten Jahre, einfach weggefegt. Es kam ihr vor, als würde sie heute, 1981, einer Situation gegenüberstehen – als ein ins Jahr 1977 zurückgeworfener Mensch. Keine blosse Erinnerung, nein. Der Geist war bei 1977 eingerastet, und sie hatte im Augenblick keine Chance, das Rad wieder vorwärts zu drehen. Gott war stärker, er konnte nach Belieben an dieser Maschine hantieren. Sie musste es aushalten.

    Anna verlangsamte das Tempo weiter. Noch einige Hundert Fuss bis zum Ziel, 2450 NORTH CENTRAL AVENUE. Die Gegend schien ihr zu gehören; all die gemauerten Bungalows und Holzhäuser hier, mit ihren kleinen Vorgärten und Laubbäumen. Da vorne, links am Strassenrand, lag das Altersheim; im selben Stil jener typischen roten Backsteinhäuser. Vor ungefähr sieben Jahren wurde das Gebäude fertiggebaut. Anna hatte es immer nur von aussen gesehen – und im Laufe der Zeit ein paar Gerüchte über dessen Innenleben vernommen. Der Ruf war nicht sonderlich gut. Egal, das zählte jetzt nicht mehr. Anna parkte den Wagen, atmete tief durch – und nahm den Schein des weissen Schildes vor der Eingangstür in sich auf: CENTRAL NURSING HOME.

    Wenig Licht, ein düsterer und von muffigem Geruch durchtränkter Raum wartete hinter der Tür. Zwei Greise schleppten sich im Zeitlupenschritt an Anna vorbei, wortlos und mit leerem Blick. Ihre Kleider glichen eher einem schmutzigen Pyjama, und dass diese zerbrechlichen Männer allein hinaus auf die Strasse schlenderten, schien hier niemanden zu kümmern. Am Ende des Ganges musste wohl der Empfang sein. Anna eilte zur Theke; es galt, keine Zeit zu verlieren.

    «Zwei betagte Männer haben soeben das Haus verlassen», schlug sie mit hastig schüchterner Stimme Alarm. «Wollen Sie Hilfe holen oder soll ich hinaus zu ihnen?»

    Der Mann hinter der Theke liess sich demonstrativ Zeit, um schliesslich gelangweilt sein misstrauisches Augenpaar auf die Fremde zu richten: «Was willst du hier?»

    «Entschuldigen Sie bitte …», wich Anna dem Prüfblick aus, «ich werde mich gleich vorstellen, doch da draussen sind zwei betagte Bewohner allein.»

    «Na und …? Die laufen uns nicht davon», entgegnete der Mann spöttisch lächelnd. «Unsere ’Bewohner’, wie du sie nennst, können hier ein und aus. Solange sie uns in Ruhe lassen …»

    Anna spürte, dass ihr erster Auftritt drauf und dran war, zu misslingen. Genau das hätte nicht passieren dürfen! Warum nur musste sie immer die eigene Angst aufs Gegenüber projizieren wollen? «Ähm, sorry, ich möchte Sie nicht stressen. Mein Name ist Anna, ich bin die Praktikantin.»

    «Ich weiss nichts von einer Praktikantin.»

    «Oh, sorry, Sie sind nur Aushilfe hier …?» Anna versuchte, sich die Beleidigung nicht anmerken zu lassen.

    «Jetzt machen Sie Halt, junge Lady. Ich bin hier der Administrator, seit es die Bude gibt!» erwiderte der Mann. «Anna ist ein schöner Name, deine Augen ebenso. Aber von einer Praktikantin weiss ich trotzdem nichts.»

    Gegen ihr Erröten war Anna machtlos: «Okay, dann läuft offenbar was schief. Ich bin von der Schule hierher geschickt worden, um Erfahrungen zu sammeln. Das gehört zum Lehrplan. Ein gewisser Mister Auvray soll sich um mich kümmern.»

    «Robby …, schon wieder so ne bescheuerte Idee von ihm», murmelte der Mann, «und wir müssen die Scheisse ausbaden.»

    «Bitte, wie …?» Jetzt sollte der Unfreundliche ruhig merken, dass Anna sich betupft fühlte. «Ich möchte Pflegehelferin werden, aus Berufung, und ich kann gerne anpacken, wo immer Sie Hilfe brauchen.»

    «Schon gut, schon gut. Ich bin David Allman. Willkommen in unserer Bude. Am besten werden wir miteinander klarkommen, wenn Sie uns in Ruhe lassen. Der Staff schafft das gut allein. Also, versuchen Sie, sich zu beschäftigen, aber machen Sie’s nicht kompliziert.»

    Anna hatte sich vieles ausgemalt – wie gewöhnlich mit einer Trefferquote Null. «Ich will Ihnen nicht zur Last fallen, Mister Allman. Aber was meinen Sie mit ’sich beschäftigen’? Wir haben eine Menge geübt an der Schule, ich kann hier nützlich sein und dazulernen.»

    «Das glaube ich Ihnen gerne, Anna.» Jetzt wollte der Mann offenbar doch auch seine freundliche Seite hervorkehren. «Nennen Sie mich David. Leute wie Sie brauchen wir. Doch der Alltag in unserem Beruf sieht oft anders aus als in diesen Büchern. Die Alten hier im Haus können manchmal richtig böse sein, und undankbar.»

    «Ich weiss, David», blühte Anna auf, im Gefühl, so was wie eine Eingeweihte zu sein. «Das sind psychologisch erklärbare Aggressionen und Schutzreflexe. Man muss diesen Menschen mit Liebe begegnen, und wir haben an der Schule ein paar der neuesten Strategien kennengelernt.»

    «Alles okay, Anna. Ich muss jetzt hier weiterarbeiten, diese verdammten Listen.» David wühlte in einem Papierbündel. «Am besten, Sie schauen sich hier einfach mal um und gehen auf Entdeckungsreise. Irgendwo muss auch der Chef sein; reden Sie mit ihm über diese Strategien.»

    Davids freundliche Seite schien sich bereits wieder verkriechen zu wollen. Kein weiterer Augenkontakt. Anna machte sich davon und suchte nach Türen oder Treppen.

    Der Tisch war gedeckt, das Nachtessen so weit vorbereitet. In wenigen Minuten musste ihr Freund da sein. Montags blieb ihm nie viel Zeit, weil er abends immer diese Radiosendung zu moderieren hatte. Anna und Eric waren seit zwei Jahren ein Paar, vor einigen Monaten zogen sie gemeinsam nach Andersonville, einem kleinen Vorort nördlich von Chicago. Er war einige Jahre älter als sie; dank seinem Job als Automechaniker konnten sie sich diese Zweizimmerwohnung hier leisten. Anna wartete ungeduldig. Es gab einiges zu erzählen von diesem seltsamen ersten Tag im Altersheim, und Eric war stets ein wunderbarer Zuhörer. Da, endlich, die Klingel. Anna eilte zur Tür.

    «Heal me with a smile, Darling», waren wie immer seine ersten Worte. Anna liebte den vertrauten Geruch seiner Lippen. «Na, wie war dein Tag?» fragte er neugierig.

    «Komm, setz dich, Honey», strahlte Anna, «das Essen ist bereit, sehr viel Zeit bleibt dir nicht.»

    «Wow, du hast dir Mühe gegeben», bemerkte Eric zärtlich, «du musst doch sicher müde sein, nach diesem Challenge?»

    «No problem, für dich koche ich immer gerne. Es gibt sowieso keinen Grund, müde zu sein.»

    «Wie denn das …?» fragte er erstaunt. «Du hast heute nicht gearbeitet?»

    «Oh doch, natürlich, ich war dort. Aber es kam alles anders. Niemand gab mir irgendwas zu tun. Ich solle mich einfach nur umsehen.»

    «Pass auf, Anna, das kann ein Trick sein. Die wollen dich beobachten oder in eine Falle locken. Morgen schon werden sie vielleicht ihr wahres Gesicht zeigen, dir Faulheit vorwerfen und dich zum Schuften antreiben.»

    «Also, ich weiss nicht – ich glaube eher, dass ich denen egal bin. Die Pflegerinnen und Pfleger sind recht nett, doch niemand nimmt sich Zeit für mich.»

    «Und, wie war der Chef? Wie sind die Bewohner?» hakte Eric nach. «Wie ist der Laden sonst so?»

    Anna atmete etwas tiefer, ihre Augen schimmerten ratlos. «Grösser als ich dachte; über 200 Betten, in einigen Zimmern schlafen drei oder vier Bewohner, andere sind allein. Aber irgendwie wirkt das Haus auf mich depressiv.»

    «Wieso denn, Darling?»

    «Dieser Geruch; im ganzen Haus riecht es ziemlich übel. In einem Zimmer war es kaum auszuhalten. Als ich die Pflegerin nach dem Grund fragte, meinte sie nur, der Patient hier im Bett wolle nicht geduscht werden, und er habe manchmal während Tagen die Hosen voll – man solle ihn einfach in Ruhe lassen.»

    «Das ist krass», staunte Eric.

    «Ja, und auch sonst wirkt das ganze Haus auf mich wie ein Ort für arme Leute. Schlechte Beleuchtung, lieblose Dekoration, und Betagte gehen oft ganz allein vors Haus, um zu rauchen.» Annas Miene hellte sich eine Spur auf. «Dennoch, die meisten Bewohner sind nett und freundlich, auch wenn einige ziemlich gebrechlich und abwesend wirken.»

    «Und der Chef?»

    Anna schmunzelte: «Das war peinlich. Ich hatte ihn für einen Heimbewohner gehalten; ungepflegt, ungekämmt, er wirkte wirklich nicht professionell.»

    «Und, wie hat er reagiert?»

    «Er scheint ziemlich beschäftigt zu sein, oder wenigstens tat er so. Genau gleich übrigens der Administrator. Etwas mürrisch, die beiden. Ich solle sie möglichst in Ruhe lassen, nicht um Rat fragen, dem Personal bei der Arbeit zusehen und dabei etwas lernen.»

    «Ist doch cool», meinte Eric grinsend, «sieht nach einem easy Job aus.»

    «Ja, schon, aber das macht mir keine Freude; du weisst doch, dass ich diese Arbeit als Berufung sehe. Ich möchte nützlich sein, helfen, Sinn stiften.»

    «Natürlich, Darling.» Eric blickte entschuldigend. «Du hast ein riesengrosses Herz, bist ein Juwel. Aber du solltest es entspannter angehen.» Er berührte zärtlich ihre Hand. «Sieh das Ganze positiv; sie lassen dich in Ruhe, schauen dir nicht ewig auf die Finger. Vielleicht kannst du sogar von dir aus irgendwas anschieben – ein therapeutisches Projekt oder so. Etwas, was den Bewohnern Freude macht.»

    «Du hast recht.» Annas Augen begannen zu leuchten. «Mir kommt da eben eine Idee. Weisst du noch? Ich hatte dir davon erzählt – die beiden Europäer, welche unser Schulleiter bei einem Kongress kennenlernte.»

    Eric nickte zustimmend. «Die Wiener Psychiater?»

    Anna staunte wieder einmal, wie sehr sich ihr Freund für solche intellektuellen Dinge zu interessieren vermochte. «Genau, Stephan Rudas und Erwin Böhm, mit ihrem neuen Pflegemodell.»

    «Die Biografiearbeit!» Eric schluckte den letzten Bissen hinunter, wischte sich geduldig über den Mund und faltete die Tischserviette wieder fein säuberlich zusammen. Er war alles, nur kein typischer Mechaniker.

    «Du sagst es. Die Erinnerungstherapie, mich fasziniert dieses Projekt.» Annas Augen wurden noch grösser. «Vielleicht gibt es die Möglichkeit, diese Therapie im Heim auszuprobieren. Ich möchte wetten, dass die Bewohner eine Menge zu erzählen haben.»

    «Versuchskaninchen, warum nicht …?»

    «Es gibt nichts zu verlieren dabei. Zuhören ist das beste Medikament, ganz ohne Nebenwirkungen. Diese Menschen warten doch nur darauf!»

    «Eine fantastische Idee, Darling.» Eric schien sich fast entschuldigen zu wollen, als er aufstand und möglichst geräuschlos den Stuhl zur Tischkante hinschob. «Ich bin stolz auf dich, morgen wirst du die Leute im Heim aufblühen lassen.»

    «Erst mal werde ich versuchen, den Boss zu überzeugen. Du weisst, ich bin nicht die Mutigste. Gerade gestern spürte ich wieder diese alten Ängste.»

    «Du schaffst das, Darling. Mit deinem Charme wirst du ihm die Idee verkaufen.» Er strich sanft über ihr Haar. «Sei mir nicht böse – ich muss los. Meine Bluesfreaks warten auf die Sendung.»

    Der innige Abschiedskuss tröstete Anna darüber hinweg, dass sie den Abend alleine würde verbringen müssen. «Viel Erfolg, Honey. Die Hörer lieben dich.»

    Anna verstand nicht viel von Musik. Sie hatte keine speziellen Vorlieben, entweder ein Stück gefiel ihr oder nicht. Blues war für sie ein Stil wie jeder andere. Doch für Eric war diese Musik wie ein Lebenselixier, das wusste sie.

    «Jetzt habe ich einen kurzen Moment Zeit für Sie», kam der Heimleiter auf Anna zu, «kommen Sie bitte in mein Büro.»

    Mister Auvray wirkte gepflegter als gestern. «Oh, wunderbar, vielen Dank», entgegnete Anna aufgeregt, als sie ihm hinterherlief.

    Das Büro hingegen sah ziemlich unordentlich aus. «Setzen Sie sich, bitte. Wie gefällt es Ihnen bei uns, Anna?» fragte der Chef bemüht freundlich.

    Die langen Sekunden, welche Anna zum Antworten benötigte, entlarvten sie als schlechte Lügnerin. «Es ist schön hier. Die Leute sind nett zu mir.» Sie senkte ihren Blick. «Doch ich weiss nicht, ob ich wirklich etwas Nützliches tun kann. Verzeihen Sie, Mister Auvray, ich hatte gestern den Eindruck, eher zu stören.»

    «Der Eindruck täuscht. Wir waren wohl etwas ruppig zu Ihnen; meine Leute haben alle Hände voll zu tun, das müssen Sie verstehen.»

    «Selbstverständlich, Mister Auvray.» Anna merkte, wie unterwürfig ihre Stimme klang. Sie hasste das an sich selbst. «Ich bewundere Ihr Personal. Sagen Sie mir einfach nur, wo ich anpacken soll – es können auch schmutzige Arbeiten sein.»

    «Keine Angst, Sie werden sich die Hände noch genug schmutzig machen können. Unsere Leute sind einfach nur misstrauisch. Die letzte Praktikantin war verdammt kompliziert, die hatte ständig allerlei Fragen. Am Schluss wusste sie alles besser und wollte uns erklären, wie wir unsere Arbeit zu tun hätten.» Auvray wischte sich den Schweiss von der Stirn. «So was brauchen wir hier nicht – am Ende kommen dann alle zu mir, um sich zu beschweren.»

    «So was würde ich mir nie erlauben, Mister Auvray.»

    «Schon gut, schon gut», triumphierte der stattliche Mann. «Sie sind ein kluges Kind mit Manieren, unaufdringlich und hilfsbereit. So was merke ich sehr schnell. Aber sagen Sie jetzt bitte, was Sie von mir eigentlich wissen wollten.»

    Anna spürte den herausfordernden Blick ihres Gegenübers und wurde unsicher, wie immer. Sie dachte an Eric, seine ermutigenden Worte gaben ihr gerade noch rechtzeitig die Fassung zurück. «Ach so ja, ich hätte da eine Idee. Die Heimbewohner haben sicher viel aus ihrem Leben zu erzählen.»

    «Ja, und …?» warf Auvray misstrauisch ein.

    «Ihre Leute haben dafür natürlich keine Zeit – aber ich könnte diese Rolle übernehmen.» Annas Augen begannen zu leuchten. «Wir hatten an der Schule von einem neuen, psychobiografischen Pflegemodell gehört; es sei sehr vielversprechend. Mir würde so was Freude machen, ich bin eine geduldige Zuhörerin.»

    Auvray bremste mit einem trockenen Seufzer. «Ihre Vorgängerin hatte auch solche Ideen; Musik wollte sie mit den alten Leuten machen. Klingt cool, aber wir sind kein Ferienheim – für Entertainment bleibt hier kaum Zeit. Ausser an Weihnachten vielleicht, oder bei Geburtstagen.»

    «Nein, keine billige Unterhaltung, Mister Auvray.» Anna spürte den hochkommenden Ehrgeiz, die Idee mit starken Argumenten zu verkaufen. Darin war sie manchmal richtig gut; wenn die Angst sie in Ruhe liess, konnte sie an rhetorischen Fights sogar Spass haben. «Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen das Konzept gerne kurz erläutern. Es dauert nicht lange. Bitte, Mister Auvray.» Anna schaute ihrem neuen Chef in die Augen.

    «Na gut, schiessen Sie los. Beweisen Sie mir, dass auch eine Frau sich kurzfassen kann.» Zu grenzenlosem Selbstbewusstsein wollte er die Praktikantin dann doch nicht auflaufen lassen.

    Anna atmete durch und versuchte, sich zu konzentrieren: «Unser Schulleiter war kürzlich an einem internationalen Kongress in New York. Zwei Europäer, der Pflegedienstleiter Erwin Böhm und der Psychiater Stephan Rudas aus Wien sprachen dort von einem neuen Pflegemodell. Ein wesentliches Element dieses Modells ist die ’biografieorientierte Erinnerungstherapie’. Vor allem bei der Pflege dementer Patienten ist Biografiearbeit äusserst wichtig. Erstens schafft sie Vertrauen und ermöglicht, Bedürfnissignale des Heimbewohners besser zu verstehen. Zweitens erhofft man sich durch diese Arbeit einen Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten, welche dann bewusst gefördert und möglichst lange erhalten werden können. Älteren Patienten hilft diese Therapie zudem, ihre schwindende Identität länger zu bewahren. Das gemeinsame Erinnern stärkt ihre Würde und Selbstwahrnehmung; sie können so besser ihre Ganzheit und Einzigartigkeit erkennen und sich mit ihrem Schicksal versöhnen. In einer Gesellschaft, in welcher Senioren kaum mehr Platz finden, ist eine solche Therapie …»

    «Stooooop …!» Auvray versuchte, sein abruptes Dazwischenfahren nicht allzu unfreundlich erscheinen zu lassen. Satire ist in dieser Hinsicht stets hilfreich: «Sie wollen Politikerin werden? Wenn Sie hier so intelligent formulieren, was soll ich Ihnen dann noch entgegnen können?»

    In ihrem Lächeln war eine Spur Stolz unübersehbar. «Nein, Mister Auvray, ich wollte Sie nicht beeindrucken. Aber ich bin wirklich überzeugt von dieser Idee.»

    «Das glaube ich Ihnen, Anna. Sieht ganz danach aus, als hätten Sie diesen Job aus Berufung gewählt, und dass Sie ein kluges Kind sind, habe ich Ihnen bereits gesagt. Beides gefällt mir. Ich fürchte nur, dass der Alltag Sie schon bald einholen wird.» Auvray räusperte salopp, als gälte es, seine langjährige Erfahrung akustisch zu untermauern. «Wir müssen hier leider abbrechen, ich muss weg. Sagen Sie mir noch gaaaaanz kurz, wie Sie sich das in der Realität vorstellen.»

    Auf Ungeduld reagierte Anna nie besonders selbstbewusst. «Tut mir leid, Mister Auvray. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger beanspruchen. So genau überlegt habe ich mir das noch nicht. Vielleicht könnte ich mit den Bewohnern einfach gewisse Sitzungen machen; ihnen Fragen stellen zur Lebensgeschichte, und vor allem aufmerksam zuhören.»

    «Plauderstündchen mit Anna …! Unsere Leute hören sehr oft zu, wenn die Alten erzählen. Sollen die Europäer dem jetzt einen neuen Namen geben, ist mir egal. Legen Sie los mit Ihrer ’Erinnerungstherapie’ – mein Okay haben Sie.»

    «Oh, das ist wunderbar; tausend Dank, Mister Auvray.»

    «Aber bitte nicht übertreiben. Wählen Sie sich einen Heimbewohner aus, dann können Sie konzentriert mit ihm arbeiten. Vielleicht eine Stunde pro Tag oder so.» Auvray erhob sich und öffnete demonstrativ die Tür. «Es gibt daneben noch genug anderes zu tun. Heute zum Beispiel beim Servieren des Mittagessens – zwei von meinen Frauen sind gerade krank. Melden Sie sich in der Küche, Anna. Ich muss jetzt gehen.»

    «Na siehst du, Darling, ich hab’s dir doch gesagt, du schaffst das», freute sich Eric.

    Anna schien glücklich zu sein. Es war nicht bloss dieses Gespräch mit dem Heimleiter; der Tag brachte auch sonst mehrmals ihre Bedenken zu Fall. «Ich fühlte mich nützlich heute. Einige Male durfte ich anpacken, in der Küche, aber auch bei kleinen Pflegejobs. Ein Bewohner sagte sogar ’thanks, you‘re a sunshine’ zu mir.»

    «Natürlich, was kann einem Besseres passieren als von Anna umsorgt zu werden?» lächelte Eric. «Erzähl, wie hat der Boss reagiert? Wann beginnst du mit der Therapie?»

    «Du bist wunderbar, Honey. Dass du dich immer so für mich interessierst.» Anna schaute verliebt. «Du hättest doch sicher auch eine Menge zu erzählen.»

    «Ach komm schon – ich fummle den ganzen Tag an kaputten Karossen herum und versuche, aufgebrachte Autobesitzer zu beruhigen. Da gibt’s nichts zu erzählen, Darling.»

    «Und wie lief die Sendung gestern Abend? Entschuldige bitte, ich war zu müde, um mitzuhören.»

    Erics Augen verwandelten sich in die eines staunenden Kindes. «Es war fantastisch! Ich spielte vor allem pre-war Blues; eine Menge alter Sachen von Blind Willie Johnson, Charley Patton, Son House, Skip James und wie sie alle heissen. Einige Hörer riefen begeistert an.»

    «Das ist cool. Was würdest du bloss machen ohne Musik?»

    «Ich hätte noch immer dich.» Eric strich ihr sanft über die Wange. «Aber sag jetzt, Darling, wie war die erste Erinnerungstherapie-Sitzung? Oder wann beginnst du damit?»

    «Ach weisst du, so grenzenlos begeistert war der Chef nun auch wieder nicht.» Anna wurde etwas kühler. «Zeitweise hatte ich eher den Eindruck, dass er sich über die Idee lustig machen würde. Nicht auf gemeine Art, aber dennoch. Wie ein kleiner Macho eben.»

    «Du darfst dich nicht provozieren lassen. So sind die Männer nun mal.»

    «Ausser mein Eric natürlich – der ist ein Ausserirdischer.» Anna gab ihm einen sanften Kuss. «Also der Boss meinte, ich solle mir einen Heimbewohner aussuchen und mit ihm dann täglich eine Stunde arbeiten.»

    «Klingt doch gut. Hast du dich schon entschieden?»

    «Oh nein, Honey – so schnell geht das bei mir nicht. Ich bin noch nicht mal allen Heimbewohnern begegnet. Werde mir ein paar Tage Zeit lassen, solche Dinge entscheide ich intuitiv, das weisst du.»

    «Weiss ich, Darling. Aber eine kleine Idee hast du bereits im Hinterkopf, das weiss ich ebenfalls.» Eric schmunzelte genüsslich.

    «Eigentlich schon, ja. Ein Mann im zweiten Stock, Zimmer 24. Zu dritt sind sie dort, die beiden andern scheinen ihn zu belächeln; er sei ein Säufer, ein Grossmaul. Auf mich wirkt er eher verschlossen, völlig verunsichert. Er redet kaum, in seinen Augen sehe ich eine traurige Sehnsucht. Und als ich mich ihm vorstellte, passierte etwas Seltsames.»

    «Was denn, Darling?»

    «Sein Blick war plötzlich völlig verwandelt – und stell dir vor, er begann zu singen. Jawohl, zu singen. Weisst du, was er sang …?» Anna blickte ratlos, gleichzeitig bewundernd.

    Eric schüttelte wortlos den Kopf.

    «Annie Lou, I want you for my own, Annie Lou. You got to be mine, no matter what you say or do.» Anna versank in ihren Gedanken. «Woher wusste der Kerl meinen zweiten Namen? Ich hatte mich nur als Anna vorgestellt. Doch weisst du, es klang nicht nach billiger Anmache; als er das sang, schien er irgendwie gar nicht bei mir zu sein. Er war weit weg, doch er lächelte.»

    Eric grinste anerkennend und rief: «Der Alte hat’s drauf. So was nenne ich ’spontan’; der Typ ist ein Kenner!»

    «Wie meinst du das?»

    «Da muss man zuerst drauf kommen; jemand nennt dir seinen Namen – und du ziehst sofort den passenden Song aus dem Ärmel. Meisterhaft, Chapeau!»

    «Was für ein Song, Honey?»

    Eric blühte auf, jetzt war sein Background als Musik-Kenner gefragt. «’Anna Lou Blues’ ist ein Klassiker; ein Stück von Tampa Red. Coole Versionen gibt’s auch von Robert Nighthawk oder Earl Hooker.»

    «Aha», munkelte Anna mit unschuldigem Blick, «es gibt einen Song über mich? Davon hast du mir noch gar nie was erzählt. Doch woher kennt der Bewohner meinen zweiten Namen?»

    «Es gibt viele Blues-Songs mit weiblichen Namen, Darling. Ich denke, der Mann hat einfach tonnenweise Glück gehabt, dass bei dir gleich auch ’Lou’ passt. Ist doch ein wunderbarer Zufall, eine fantastische Geschichte!» Eric holte seine Gitarre hervor.

    «Ja, wirklich.» Anna wirkte für einen Moment abwesend. «Ich versteh ja nichts von Musik, doch irgendwie hatte der alte Mann eine wunderbare Stimme, als er diese Zeilen sang. Er wirkte wie verzaubert – fast so, als wäre das Lied ein Teil von ihm. Er schien glücklich zu sein.»

    Eric zupfte ein paar Töne auf seinem Instrument und sang dazu die Textzeile aus Anna Lou.

    «Genau», rief Anna begeistert, «das ist die Melodie!»

    «Es schien mir zu klischiert, deshalb habe ich dir das Lied bisher nie vorgesungen.» Er senkte den Blick. «Und du weisst ja – ich bin Automechaniker, kein Sänger, ebenso wenig ein Gitarrenvirtuose.»

    «Aber nein, Honey. Ich liebe es, wenn du spielst!»

    «I love you.» Eric lächelte zufrieden. «Auf jeden Fall ist dieser Typ im zweiten

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