Musik und Transzendenz - Geschichte eines Dreamteams: Das Geheimnis der Töne, von der Antike bis zum Psychedelic Rock
Von Richard Koechli
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Über dieses E-Book
Hartnäckig, verspielt und zuweilen ironisch sucht der Schweizer Musiker und Buchautor Richard Koechli nach Antworten, wie und warum Musik uns berührt und im Sinne der «Transzendenz» sogar über uns hinausführt. Was laufen da für Prozesse ab, im Gehirn und in der Seele? Wie hat das alles in die Menschheitsgeschichte hineingewirkt? Akribisch untersucht Koechli Erklärungen aus der Musikwissenschaft, Naturwissenschaft, Psychologie, Musiktherapie, Soziologie, Literatur, Philosophie, Mystik, Spiritualität und Metaphysik. Leidenschaftlich zitiert er legendäre Stars, wie sie den Zauber erleben. Besorgt stellt er sich auch die Frage, warum uns seit jeher die «Droge» Musik oft nicht reicht, weshalb wir glauben, den Höhenflug mit irgendwelchen Substanzen oder okkulten Praktiken noch toppen zu können. Zu guter Letzt beendet Koechli das 220-seitige Abenteuer mit einem faszinierenden Streifzug durch die Geschichte des «Psychedelic Rock», weil jene Musik aus der Hippie-Zeit damals auch ihm das Abheben beibrachte. In der Rolle als mehrfach preisgekrönter Bluesmusiker und Singer-Songwriter ergänzt er das Ganze zudem mit einem sehr persönlichen Album: «Transcendental Blues» (Download-Link im Buch), ein komplexer Musiktrip durch die Höhen und Tiefen des Menschseins
Für alle, die auf irgendeine Weise mit Musik zu tun haben. Ein relevantes Buch, weil es den Respekt vor dem Geheimnis der Töne multipliziert. Ein aufwühlendes, weil es die Liebe zur Musik ins Unendliche überführt
Richard Koechli
Der Schweizer Musiker und Buchautor Richard Koechli ist ein grosser Kenner der amerikanischen Rootsmusik und ihrer Geschichte. Seine im AMA- und tredition-Verlag erschienenen Fachbücher und Musikromane sind renommierte Standardwerke (Deutscher Musikeditionspreis 2011); als Gitarrist und Singer/Songwriter wurde er mit dem Swiss Blues Award, dem Schweizer Filmmusikpreis sowie mit der Prix Walo-Nominierung ausgezeichnet. Mehr Informationen: www.richardkoechli.ch
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Buchvorschau
Musik und Transzendenz - Geschichte eines Dreamteams - Richard Koechli
Der Plot
Bei einem Buchprojekt muss ich mein einfach gestricktes Gehirn jeweils überlisten; wenn ich dem nämlich ein präzises Drehbuch aufbrumme, wird es schnell bockig. Deshalb habe ich mir angewöhnt, den Plan für ein Buch auf das denkbar Einfachste zu reduzieren, auf ein paar simple, hemdsärmelige Stichwörter. Das muss reichen – der Rest ist Improvisation, gepaart mit der Hoffnung, dass die Leidenschaft was Inspirierendes in Bewegung bringt. Fragen Sie mich nicht, wie das funktioniert. Wenn es nur funktioniert! Bei der Musik ist es dasselbe – die Reise eines Gitarrensolos beginnt mit dem ersten Ton. Lassen wir uns überraschen …
Nun, die Stichwörter:
• Musik «berauscht» (ich verwende diesen Begriff pauschal auch als Synonym für berühren, verzaubern, beglücken, erheben, trösten, heilen usw.)
• Wie hat Musik früher berauscht, wie haben diese Räusche in den verschiedenen Epochen Geschichte geschrieben?
• Warum berauscht sie? Was geht da im Detail genau ab?
• Wie erleben berühmte Künstler: innen diesen Rausch, wie beschreiben sie ihn?
• Gibt‘s Tricks, diesen Rausch zu erzeugen oder zu verstärken? Wie kann ich als Musiker den Mojo in Gang bringen, wie kann ich Menschen berühren?
• Wie funktionieren oder wirken solche Tricks?
• Was ist der Preis für solche Tricks (nicht in Geldwährung)?
• Wie findet der Mensch wieder heraus, wenn der Preis zu hoch war?
• Was ging da alles ab in der Zeit des Psychedelic Rock, jener Musik der Hippies, die damals auch mich sozialisierte?
Das ist mein ungefährer Plot. Mit der Betonung darauf, dass ich diese Fragen jeweils möglichst interdisziplinär betrachten möchte; mich interessieren Antworten aus den verschiedensten Bereichen: Musikgeschichte, Musikwissenschaft, Naturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Literatur, Philosophie, Mystik, Spiritualität, Metaphysik. Alles Pole also, die sich teilweise hart kontrastieren oder gar widersprechen – und genau das macht es spannend. Eine Sauce mit all diesen Zutaten hat vielleicht am ehesten noch die Chance, uns dem grossen Geheimnis der Töne ein Stück näher zu bringen.
Okay, das waren nun sozusagen die letzten Begrüssungsworte Ihres Reiseleiters direkt vor der Startlinie zu einem aufregenden Trip. Schön, dass Sie dabei sind! Wenn der Startschuss erfolgt, und das passiert im nächsten Augenblick, gibt‘s kein Zurück mehr – im allerletzten Moment deshalb noch schnell der obligatorische Hinweis aufs Kleingedruckte in der Packungsbeilage:
Allfällige Risiken und Nebenwirkungen gehen in die Richtung, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches womöglich nicht mehr auf dieselbe Weise Musik hören – oder dass Sie vielleicht sogar nicht mehr exakt derselbe Mensch sein werden …
Musik berauscht! Tatsächlich?
Tatsächlich? Für mich als Musiker ist die Frage zwar hinfällig, aber wenn sie unbedingt gestellt werden muss, dann würde ich sie verlagern auf die berühmte 2-Buchstaben-Frage: «Wo?»
Lassen Sie mich das erklären: Wenn wir beim Musikhören oder -machen nicht den geringsten Kontrollverlust erfahren, wenn wir haargenau wissen, wo wir sind, in unserem Körper und im Hier und Jetzt, gesteuert von einer neurologischen Software und von durchschaubarer Biochemie – dann würde ich diese Frage nämlich mit Nein beantworten. Musik würde uns dann kaum berauschen, sie würde uns nicht entführen, und das ganze jahrtausendealte Tamtam um die geheimnisvolle Wirkung der Musik wäre nichts als Einbildung.
In seinem Buch «Weltfremdheit» fragt der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist Peter Sloterdijk: «Wo sind wir, wenn wir Musik hören?» Seine Antwort darauf: «Im Hinweg und im Rückweg.» Das klingt geheimnisvoll, und gemeint ist damit wohl der Weg zu genau jener Welt jenseits von Zeit und Raum, von welcher Burkhard Reinartz spricht (Sloterdijk war in der Tat Reinartz‘s eigentliche Inspiration zu diesem Satz).
Nun, im Grunde genügt es allein schon, wenn nur ein einziger Mensch auf Erden sich diese Frage stellt. Wäre jener Ort der Musik nämlich fassbar, wäre er ohne jeden Zweifel im Diesseits, so käme kein einziger Mensch auf die verrückte Idee, «wo sind wir?» zu rufen. Oder niemand würde zumindest die Frage für unnötig halten (womit Naturwissenschaftler: innen vielleicht tatsächlich liebäugeln, wo Schallwellen doch messbar, räumlich begrenzt und darstellbar sind). Doch die Frage wird nun mal immer und immer wieder gestellt, seit Beginn der Menschheit, bis heute. Das muss nach allen Gesetzen der Anthropologie ein Beweis dafür sein, dass Musik mehr ist als blosse Schallwellen, unendlich viel mehr. Und dass sie uns dadurch eben berauscht.
Nebenbei bemerkt ist «Rausch» ein heikler Begriff, er ist missverständlich. Ich rede hier nicht von einem benebelten oder verwirrten Zustand, in welchem der Mensch seiner Sinne nicht mehr mächtig ist – sondern vielmehr davon, wie Musik uns ergreift, verzaubert und entführt, während wir im Kopf in der Regel vollkommen klar bleiben. Der Kontrollverlust besteht darin, dass wir nicht wissen, wohin wir entführt werden, und nicht wissen, was da genau passiert. Es ist ein Zauber, und vielleicht sollten wir tatsächlich eher von «Verzaubern» sprechen als von «Berauschen».
Okay, Musik verzaubert; eine Binsenweisheit sozusagen, das können wir abhaken. Wenn Sie das der Musik nicht zutrauen würden, hätten Sie dieses Buch hier nicht gekauft. Bevor wir nun also auf interdisziplinäre Weise untersuchen, woher der Zauber stammen könnte und was sich dabei genau abspielt, würde mich erst mal interessieren, wie das Ganze denn früher erlebt und wahrgenommen wurde. Der Blick zurück scheint mir das Natürlichste der Welt zu sein – weil wir bei aller Einzigartigkeit und Fortschrittlichkeit nämlich stets nur das eine verkörpern können: die Kontinuität der vergangenen Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende …
Wie hat Musik früher berauscht? Wie erlebten das die Stars der verschiedenen Epochen?
Allein darüber liesse sich natürlich ein dicker Wälzer schreiben, denn die Geschichte ist voll von entsprechenden Musikbeispielen, und von Berichten berühmter Komponist: innen, Musiker: innen, Musikkritiker: innen, Schriftsteller: innen,
Philosoph: innen und Mystiker: innen darüber, wie sie den Musikzauber empfinden. Der Zauber selber lässt sich ja nicht beschreiben – nur das persönliche Erleben, es wird durch Worte greifbar. Musik an sich spielt im Grunde ausserhalb der Ebene des Wortes, doch wenn der Mensch dann nach dem Rückweg eben wieder hier ankommt, will er immerhin beschreiben, wie der Hinweg war, was dort drüben so alles abging in dieser andern Welt – und das gelingt oft sehr gut mit Worten und Bildern.
Ich habe mich in der Literatur etwas schlau gemacht und faszinierende, inspirierende Statements aus allen möglichen Epochen gefunden – darüber, wie Musik seit Urzeiten verzaubert. Die kann ich jetzt hier am besten einfach lose und ohne chronologische Ordnung zitieren; im Grunde sprechen sie alle für sich und sind scharf genug gewürzt, so dass ich noch nicht mal meinen Senf dazugeben müsste. Dennoch ist es natürlich höchst interessant, sie jeweils kommentierend in unseren Kontext zu bringen und zudem mit dem Erzählen einiger Anekdoten die Urheber etwas «greifbarer» zu machen.
Beginnen wir am besten mit einem modernen Mystiker. Musik ist unfassbar; unfassbare Dinge irgendwie in Worte zu verpacken, gehört für Mystiker: innen zum Tagesgeschäft. Die Rede ist von Emil M. Cioran (1911–1995), ein legendärer rumänischer Philosoph und Essayist, der vor allem in Frankreich lebte. Obwohl seine Arbeit im Allgemeinen von einem starken Pessimismus und Nihilismus gekennzeichnet war, wurde er von Musik ganz offensichtlich in einer göttlichen Weise ergriffen:
«Wenn man bedenkt, dass so viele Philosophen und Theologen Tage und Nächte damit verloren haben, nach Gottesbeweisen zu suchen – und den eigentlichen verloren haben. Nach einem Oratorium, einer Kantate oder einer Passion muss er existieren. Sonst wäre das ganze Werk des Kantors nur eine herzzerreissende Illusion.»
«Wenn wir mit Bach die Sehnsucht nach dem Paradies fühlen, so sind wir mit Mozart darin. Diese Musik ist paradiesisch. Ihre Harmonien sind Lichttanz im Ewigen.»
«Musik ist die endgültige Emanation des Universums wie Gott die äusserste Emanation der Musik ist.»
Grossartig, wie Cioran dies mehrmals beschrieb. Der Mann war ein ewiger Sinnsucher, konnte seine religiöse Sehnsucht nie wirklich stillen, blieb für immer ein Zweifler, ein Provokateur – doch sobald Musik ins Spiel kam, gelang es ihm auf wunderbare Weise, zu glauben. Und dann, sobald sie verklungen war, wurde er wieder zum Provokateur. Als die Académie Française ihn als einen der bedeutendsten Kulturkritiker des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem höchstdotierten Prix Morand auszeichnen wollte, lehnte er den Award ab.
Dickschädel! Nur Musik schaffte es, ihn für Momente zu beruhigen. «Paradiesisch. Lichttanz im Ewigen. Gottesbeweis. Endgültige Emanation (Ausstrahlung) des Universums.» Was für Worte! Im Grunde ist damit fast alles gesagt, wir könnten geradezu zum Schlusswort übergehen. Doch Dickschädel, wie auch ich nun mal einer bin, will ich auf dieser Autorenreise noch mehr erleben. Fahren wir fort …
Musik ist nicht von dieser Welt. Oder sie ist von dieser Welt und führt in die andere Welt, wie es Reinartz eben beschreibt. In seiner Radiosendung («Die Welt ist Klang») formuliert er noch weiter:
«Vielleicht zeigt Musik immer dann eine überirdische Qualität, wenn sie ein Ringen um die letzten Geheimnisse des Daseins widerspiegelt oder die Schönheit der Welt feiert. Besonders dann, wenn es um die grossen Themen geht wie Schicksal, Liebe, Tod oder Lebenssinn. Für all diese Fragen gibt es letztlich keine sprachlichen Antworten. Es sind die in Töne und Melodien eingewobenen musikalischen Botschaften, die Antworten ahnen lassen.»
Die letzten Geheimnisse des Daseins, die Sprache, die darauf keine Antworten findet, die musikalischen Botschaften, eingewoben in Töne und Melodien, die uns hingegen Antworten erahnen lassen – Sie merken, liebe Leser: innen, wieder landen wir ohne Umschweif bei diesem Erahnen, von welchem ich im Vorwort sprach.
Nun, ganz so überirdisch geht‘s natürlich nicht immer zu und her; es gibt durchaus grosse Persönlichkeiten der Weltgeschichte, die sich ein Leben ohne Musik zwar nicht vorstellen können, dabei aber dennoch nicht gleich ins Jenseits abdriften. Es ist wohl tatsächlich auch eine Frage der Weltanschauung; von einem wie Friedrich Nietzsche (1844–1900), der «Gott ist tot» rief und sich für die Dekonstruktion der christlichen Kultur ins Zeug legte, können wir nun mal keine religiösen Bilder erwarten. Dennoch, auch er liebte Musik über alles, wurde von ihr verzaubert, und sein bekannter Satz «ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum» ist eine Verkürzung, die dieser Leidenschaft nur ungenügend gerecht wird. Nietzsches Statement über Musik war länger und vielsagender:
«Musik drückt nicht diese bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis aus, sondern die Trauer, die Freude, die Gemütsruhe. Keine Kunst wirkt auf den Menschen so unmittelbar, so tief wie die Musik, eben weil keine uns das Wesen der Welt so tief und unmittelbar erkennen lässt. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.»
Mit diesen Worten gibt sich einer ganz offensichtlich alle Mühe, die Tür nicht aufzustossen, das Reich jenseits von Zeit und Raum nicht zu betreten – doch seine schreibenden Finger jucken, er kann es fast nicht verklemmen. Wenn Nietzsche vom «Wesen der Welt» spricht, verlässt sein Geist die Welt nämlich im selben Moment, weil jenes Wesen ja eben nicht erklärbar ist, schon gar nicht mit Worten. Nietzsche deutet auf diese Weise zwar vorsichtig an, dass Musik diese Welt verlässt (oder gar von einer andern Welt kommt) – und dennoch bringt er sein eigenes Weltbild nicht in Gefahr. Raffiniert; so wie wir es von einem Philosophen seines Kalibers schliesslich auch erwarten dürfen.
Ungefähr aus derselben Epoche und mindestens in derselben Liga war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler, ein gewisser Hermann Hesse (1877–1962). Die Etikette spielt bei ihm eigentlich keine grosse Rolle; dank seiner legendären und an Tiefe kaum zu überbietenden Erzählkunst spielte er auch im Genre der Philosophen und Mystiker in der Champions League. Auf jeden Fall zählt Hesse zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern aller Zeiten; seine Trophäensammlung (mehr als 10 hochkarätige Auszeichnungen, darunter der Literatur-Nobelpreis 1946) kann sich genauso sehen lassen wie sein Umsatz (weltweit mehr als 150 Millionen verkaufte Bücher). Der langen Rede kurzer Sinn: Wenn Hermann Hesse etwas sagt, hat es Gewicht – und über Musik sagte er immerhin diese Worte hier:
«Das ist ja das Geheimnis der Musik, dass sie unsere Seele fordert, die aber ganz. Sie fordert nicht Intelligenz und Bildung, sie stellt über alle Wissenschaften und Sprachen hinweg in vieldeutigen, aber im letzten Sinne immer selbstverständlichen Gestaltungen stets nur die Seele des Menschen dar.»
«Der Musik ist eine Urkraft und ein tiefer Heilzauber eigen, mehr noch als die anderen Künste vermag sie die Natur zu ersetzen.»
Hesse gibt den Tarif durch. Allein schon, dass er Musik als ein «Geheimnis» sieht, spricht Bände; im Diesseits gibt‘s keine wirklichen Geheimnisse. Und dann natürlich dieser Verweis auf die «Seele des Menschen», der macht alles klar. Wer von Seelen spricht, denkt in der Kategorie der Ewigkeit – und lässt die Wissenschaft (die noch immer oder gar mehr denn je die Existenz einer Seele verneint) auf der Erde zurück.
Tja, und mit «Urkraft» und «Heilzauber» landet er schon beinahe im psychedelischen Bereich. Kein Wunder übrigens, wurde Hermann Hesse in den 1960er-Jahren zu einer regelrechten Leitfigur der Hippiebewegung. Das ist höchst bemerkenswert, denn es ist sehr gut möglich, dass die Weltgeschichte ohne Hesse anders verlaufen wäre – dass die Hippiebewegung, welche damals die Dekonstruktion unserer westlichen Kultur in Bewegung brachte, auf diese Weise und in dieser Intensität nie entstanden wäre. Übertrieben, diese Analyse?
Hermann Hesse wurde in den USA tatsächlich zum Guru der Flowerpower-Bewegung. Sein legendäres Meisterwerk «Siddharta» hatte während 30 Jahren in den USA kaum Erfolg, und dann entstanden die jugendlichen Gegenbewegungen in den 1950er-Jahren, die Beat-Generation, die Nature Boys, und etwas später die Hippies. Hesses mystische Bücher wurden nun plötzlich entdeckt und erreichten unglaubliche Auflagezahlen. Hesse löste die Hippiebewegung nicht aus, doch er gab ihr unbeabsichtigt sehr viel Schub, wurde sozusagen zu ihrem geistigen Treibstoff. Sein 1927 veröffentlichtes Buch «Der Steppenwolf» (ein Roman vergleichbar mit Goethes Faust) wurde 1969 in den USA zu einem riesigen Boom und löste auch in der Musik- und Kunstwelt einen Kult aus. Eine Popgruppe nannte sich Steppenwolf und lancierte den Welthit «Born to Be Wild» – der Rest ist Musikgeschichte. Carlos Santana brachte das Album «Abraxas» heraus, inspiriert von Hesses «Demian». Andy Warhol schuf ein Poster, mit dem Hesse zu einer Ikone der Popkultur wurde. In Kathmandu, einer Stadt am Hippie Trail, wurde eine «Hermann Hesse Gesellschaft» gegründet. Der amerikanische Psychologe Timothy Leary, bekannt durch seine Drogen-Experimente, war verrückt nach Hesses Büchern und verkündete, «Der Steppenwolf» sei das perfekte Lehrbuch für einen LSDTrip. Es gab in den USA zwar Protest, das Buch kam teilweise auf die schwarze Liste, weil dem Roman vorgeworfen wurde, er propagiere Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen – doch letztlich liess sich die Bewegung nicht mehr stoppen.
Nun, der weltweite Drogenmissbrauch gewann bis heute stetig an Terrain, die sexuelle Perversion im Grunde ebenso. Es ist nicht Hesses Schuld, und mit Sicherheit auch nicht die Schuld der wunderbaren Musik, die in jener Hippie-Zeit entstand.
Natürlich, wir schweifen ab; über Drogen werden wir später noch reden. Für den Moment freuen wir uns einfach nur über Hesses Leidenschaft für die Musik, und in dieser Liste hier von Statements über den Zauber der Klänge gehört er auf jeden Fall in die Gruppe jener, die nicht nur glauben, was sie sehen oder anfassen können. An einer Stelle schreibt Hermann Hesse, dass er ohne «den Glauben an den Atem Gottes» nicht leben könnte. Sein Glaubensleben war aussergewöhnlich. Der in einem protestantischen Milieu aufgewachsene Mystiker ging schon in seiner Jugend zum konventionellen Christentum auf Distanz und suchte vor allem in den fernöstlichen Religionen, bei Buddha, bei Laotse und im chinesischen Denken nach Erleuchtung. Sein Buch «Siddhartha» (1922) war der perfekte Ausdruck seiner Hinwendung zum Osten; Hesse fand sich darin allerdings nicht mit dem «Mittleren Weg» der buddhistischen Lehre ab, obwohl er im Buddhismus viel Inspirierendes entdeckte. Er strebte vielmehr nach einer Synthese; das Beste aus Buddhismus und Christentum vereint, ein christlich-östliches Ideal der verzeihenden Liebe.
Der grosse Traum einer universalen Weltreligion sozusagen, und es ist mehr als verständlich, dass die Hippies für dieses Ideal Feuer und Flamme waren. Es hätte funktionieren können, vielleicht funktioniert es irgendwann in der Zukunft – bisher ist der Effekt allerdings vor allem der, dass die östlichen Religionen unsere christliche Kultur schrittweise verdrängen, dass Buddha-Statuen jetzt unsere Wohnzimmer dekorieren und der Konsum fernöstlicher Meditation mehr Wellness als spirituelle Tiefe verspricht. Die Widersprüche beider Kulturen liessen sich entgegen Hesses Hoffnungen nicht auflösen, zu essenziell sind gewisse Unterschiede. Vor allem die sogenannte «Theodizee-Frage»; Hesse reisst diese Frage in seinen Gedichten immer wieder auf. Konkret geht es um die Frage, wie ein Gott (oder Christus, Erlöser) das Leiden auf dieser Welt zulässt, wo er doch angeblich die Allmacht besitzen würde, dieses Leiden zu verhindern. An diesem Paradoxon beissen sich die Christen seit 2‘000 Jahren die Zähne aus, doch in der asiatischen Religiosität scheint eine Theodizee-Antwort gar noch in weiterer Ferne zu sein – das wurde Hermann Hesse schmerzlich bewusst. «Wir wissen nicht, wie Gott es meint», heisst es in seinem Gedicht «Klage». Der Mensch benötigt ein Gegenüber, um zu klagen – das «Karma» kann nicht dieses Gegenüber sein. Hesse litt unter der Gottesferne, als er in «Gang bei Nacht»