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50 einfache Dinge, die Sie über Musik wissen sollten
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50 einfache Dinge, die Sie über Musik wissen sollten
eBook275 Seiten4 Stunden

50 einfache Dinge, die Sie über Musik wissen sollten

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Über dieses E-Book

Achtung, Klassik!

Sie hören gerne klassische Musik? Sie sind Liebhaber von Wagner, Bach und Co.? Von Streichquartetten, Opern und Sonaten? Dann wird Sie das neue Buch von Justus Frantz begeistern. Einer der bekanntesten deutschen Dirigenten und Pianisten erklärt alles Wichtige rund um die klassische Musik. Denn mehr Wissen bringt mehr Hörgenuss!

Viele Menschen haben Berührungsängste mit klassischer Musik, obwohl sie zuweilen bestimmte Werke gerne hören. Und auch Kenner und Liebhaber erleben Konzerte und Sinfonien anders, wenn sie mehr über deren Aufbau und Funktionsweise wissen. Genau darauf kommt es Justus Frantz an: auf ein wissendes und verstehendes Hören. Er erklärt neben vielem anderen, was eine gute Stimme ausmacht, was es mit dem hohen C auf sich hat, wie ein Orchester aufgebaut ist, warum die Sonatensatzform so wichtig ist und woran man gelungene Interpretationen erkennt. All dies und noch vieles mehr, was Lust auf klassische Musik macht, finden Liebhaber und Anfänger im neuen Buch von Justus Frantz. - für ein aktives, informiertes Hören.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Nov. 2015
ISBN9783864896149
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    Buchvorschau

    50 einfache Dinge, die Sie über Musik wissen sollten - Justus Frantz

    Ouvertüre

    Im Januar 2003 hatte ich die Ehre, im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie zu dirigieren. Anlass des Konzerts war die Aufnahme der handschriftlichen Partitur Beethovens in das UNESCO-Weltkulturerbe.

    Dank ihres Schluss-Chores »Freude, schöner Götterfunken«, der zur Hymne der Europäischen Union wurde, ist diese Beethoven-Sinfonie eines der bekanntesten Werke der klassischen Musik, ein Sinnbild des Humanismus, der Hoffnung. Und obwohl ich diese Sinfonie schon häufig dirigiert habe, gehe ich auch jetzt, Minuten vor der Aufführung, im Geiste einige Passagen durch, schlage in der Partitur bestimmte Takte nach, probe noch einmal still für mich, wie ich hier welche Akzente setzen kann.

    Direkt vor dem Auftritt brauche ich dann absolute Stille. »Die Musik, die ich bevorzuge, meine eigene oder die Musik anderer, ist das, was wir hören, wenn wir einfach still sind«, hat der Komponist John Cage einmal geschrieben. Direkt vor einem Konzert, das ich spiele oder dirigiere, kann ich die Wahrheit dieses scheinbar trivialen Satzes besonders deutlich nachempfinden.

    Still betrete ich die Bühne. Aus der Stille scheinen die ersten Akkorde der 9. Sinfonie Beethovens herauf. Und so vertraut und bekannt mir diese Klänge sind, so sehr erschüttern, bewegen sie mich – so, als hörte ich sie zum ersten Mal.

    Im ersten Satz formt und strukturiert Beethoven Zeit und Raum, als entstünden sie aus dem Nichts. Aus der fahlen, abstrakten Dämmerung der einleitenden Akkorde heraus entlädt sich ein Gewitter; Dunkelheit und verhalten aufscheinendes Licht widerstreiten in diesem Satz.

    Trotzig-energisch explodiert der zweite Satz in die Stille hinein. Zwischen Gestaltungswillen und Getriebensein rast dieser Satz dahin, kontrastiert von einem schwerelos schwebenden Idyll im Mittelteil.

    In die Stille nach dem abrupten Schlussakkord des zweiten Satzes leuchtet sanft das überirdisch schöne Thema des trostreichen dritten Satzes hinein. Nach dem philosophisch-dramatischen Widerstreit von Verzweiflung und Hoffnung des ersten Satzes und dem Psychogramm der modernen Existenz im zweiten Satz ist dieser dritte Satz in seiner himmlischen Klangschönheit mehr als eine Ruhepause – er versetzt das Universum der Beethovenschen Musik in eine andere Dimension.

    Das Finale ist uns allen so vertraut, dass es uns wieder überwältigt. Eine apokalyptische Fanfare zu Beginn, Erinnerungen an die ersten drei Sätze flackern auf, dann das Freudenthema, das sich in ekstatische Heilsgewissheit steigert – so oft habe ich diese Musik interpretierend zu würdigen versucht, so oft haben Instrumentalisten und Sänger sie nachempfunden, so oft haben die Zuhörerinnen und Zuhörer sie erlebt: Es ist dennoch für jeden Beteiligten immer wieder eine andere, neue Erfahrung. Diese Musik, diese eigene Dimension von Raum, Zeit, Erleben, hören wir jedes Mal neu – in jedem einzelnen Detail, jeder Schwankung von Tempo, Dynamik, also der unterschiedlichen Lautstärke, aber auch in der gesamten Konzeption, der Philosophie, des Tonfalls birgt jede Aufführung ein eigenes Erlebnis.

    Ein anderes Konzert. Auf dem Programm steht ein Werk des 20. Jahrhunderts, ein Werk Alfred Schnittkes (1934 – 1998), des russischen Komponisten, mit dem ich befreundet war. Alfred Schnittkes »Moz-Art à la Haydn«, ein subtil-humorvolles Spiel zwischen Schnittkes collageartigem Stil und den klassischen Vorbildern Mozart und Haydn, ist keine epochale, monumentale Komposition wie Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie. Es geht darin auch nicht um Leben, Hoffnung, Erlösung – es geht um eine sehr persönliche, liebevolle und zugleich ironische Auseinandersetzung eines modernen Musikers mit der klassischen Tradition.

    Und doch – die Stille vor der Musik, die dichten, intensiven, bisweilen kollidierenden Klänge: Alfred Schnittkes Musik versetzt uns in ihre eigene Dimension, eine Welt der ungeahnten Harmonien und Disharmonien, in der Instrumente, Melodien und Akkorde über ihre bisherigen Konventionen hinaus Ausdrucksmöglichkeiten entdecken und erschließen.

    Auch Alfred Schnittkes Komposition »Moz-Art à la Haydn« gehört, wie Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, zu den Werken, die wir häufig aufführen. Auch in dieser Musik entdecke ich, entdecken wir bei jeder Aufführung neue Details, neue Deutungen.

    Ist das die Definition von klassischer Musik? Eine verbindlich notierte Abfolge von Melodien, Harmonien, Rhythmen, die dennoch immer wieder neu entsteht, wenn sie neu interpretiert wird? Für diese Definition spräche, dass sie von Leonard Bernstein stammt. In seinen »Young People’s Concerts«, seiner legendären Gesprächskonzertreihe für junge Menschen, hat Bernstein diese Definition klassischer Musik vorgeschlagen.

    »Beschriebene Musik ist wie a erzählt’s Mittagessen«. Diese Einsicht stammt von dem Wiener Tenor Leo Slezak, einem in der Kunst der Musik wie in der Kunst des Essens gleichermaßen umfangreich gebildeten Experten. Bevor wir uns auf die vergleichsweise willkürliche Zahl von 50 einfachen Dingen einlassen, die es wert sind, über klassische Musik gewusst zu werden, gestatten Sie mir einige Vorbemerkungen zum Verständnis und zur Methodik dieses »erzählten Mittagessens«.

    Dieses Buch kann und will kein systematisches musikwissenschaftliches Kompendium sein. Gewiss sind alle seine Aussagen musikwissenschaftlich beleg- und überprüfbar. Aber mir als Musiker kommt es vor allem darauf an, dass das Interesse, die Begeisterung der Leser dieser theoretischen Überlegungen in einen Dialog mit meiner musikalischen Passion geraten. Für mich ist jedes Konzert ein Trialog zwischen Zuhörern, Musikern und Werk.

    Als klassische Musik verstehen wir vor jedem Versuch einer Definition die musikalische Tradition der europäisch geprägten Welt, des Abendlandes. Die großen Traditionen arabischer, asiatischer, afrikanischer Musikgeschichte werden möglicherweise gestreift, nicht aber systematisch aufgearbeitet. Bitte verstehen Sie diese thematische Festlegung nicht als hegemonialen Eurozentrismus. Für mich ist die europäisch geprägte Musik ein Geschenk unseres Kulturkreises an die Welt – ein Geschenk ohne Vorbedingungen, ohne Ausschluss oder Abwertung anderer Traditionen, ein Geschenk, das weder Offenheit noch Neugier für die Gaben anderer Kulturkreise einschränkt. Doch in dieser Abhandlung geht es nun einmal vorwiegend um die abendländische Musik.

    Als Musiker und Interpret habe ich einen emotionalen, subjektiven Zugang zu Werken und Komponisten gewonnen. Möglicherweise sind mir Begeisterung, Empathie und Subjektivität gelegentlich wichtiger als ausgewogene Objektivität; möglicherweise formuliere ich gelegentlich Ansichten, die Sie als Leser und Hörer nicht teilen. Dazu möchte ich Sie ausdrücklich ermuntern, denn auch die Musik ist vielstimmig.

    Wenn es eine Motivation, ein Anliegen dieses Buches gibt, dann ist es jedenfalls nicht mein Wunsch, gültige und unumstößliche Thesen zur klassischen Musik zu statuieren. Ich halte die Musik, insbesondere die klassische Musik, für eine bedeutende menschliche Errungenschaft. Als Künstler und Kulturschaffender versuche ich über meine subjektive Liebe zur Musik hinaus, diese hoch entwickelte Stätte der kreativen Kommunikation heutigen und künftigen Generationen zu erschließen, sie leben dig zu erhalten. Klassische Musik gilt gelegentlich als verstaubt, elitär, uninteressant; ohne diese Barrieren ist sie inspirierend, unerhört, kontrovers. Erwarten Sie deshalb bitte keinen klassischen Kanon – in des Wortes lebensfernster Bedeutung –, sondern den Versuch eines diskursiven Beitrags zu einem lebendigen Vorgang, der immer noch in Bewegung ist – und es hoffentlich auch bleiben wird.

    Thema

    In den ersten Kapiteln dieser Sammlung von 50 einfachen und wissenswerten Dingen zur klassischen Musik begegnen wir den Phänomenen Musik und klassische Musik und versuchen, uns ihnen begrifflich zu nähern.

    IWas ist Musik?

    Als ich begann, mir über Fragestellungen und Argumentationen dieses Buches Gedanken zu machen, stellte ich einigen Menschen die Frage, welche »50 einfachen Dinge« sie über klassische Musik wissen möchten – es waren Menschen, die der klassischen Musik distanziert, mehrheitlich sogar ablehnend gegenüberstanden. Nahezu jede der befragten Personen antwortete, für sie sei die Frage interessant: Was ist überhaupt klassische Musik?

    Damit sind wir bereits bei einer höchst abstrakten, theoretischen Fragestellung. Gehen wir also noch einen Schritt weiter zurück und fragen: Was ist Musik?

    Bitte erwarten Sie auf diese Frage keine allgemein gültige Antwort. Wir werden stattdessen herauszufinden versuchen, welche Antworten und Erklärungen gefunden wurden, seit Menschen musizieren und über Musik nachdenken.

    Das Wort Musik: Von der Muse geküsstes Gesamtkunstwerk

    Das Wort »Musik« leitet sich vom griechischen »Mousa« ab. In der griechischen Mythologie waren die Musen Schutzgöttinnen der Künste. Als »Musik« wurden in der griechischen Antike zunächst alle Künste bezeichnet – Dichtung, Tanz, Tonkunst. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Musik als Anordnung von Tonhöhen und Rhythmen den Ursprung aller schöpferisch-künstlerischen Bemühungen der Menschen bildet.

    Vor- und Frühgeschichte: Musik als kultisches Gemeinschaftserlebnis

    Über die Entstehung der Musik zu Beginn der menschlichen Kultur gibt es, außer archäologischen Instrumentenfunden, keine gesicherten Erkenntnisse, dafür aber mythologisch-religiöse Erklärungen. In nahezu allen Kulturen wurde die Musik als Gabe der Götter angesehen; die ältesten uns erhaltenen Lieder berichten von der Entstehung der Musik als göttlichem Geschenk. Als sicher darf gelten, dass Musik in der Vor- und Frühgeschichte bis in die Antike hinein vor allem kultisch-religiöse Bedeutung besaß. Wo sie soziale und kommunikative Funktionen erfüllte, waren es ebenfalls hoch emotionale Bedeutungsfelder wie die amouröse Werbung oder die Feier der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit einer Gruppe.

    Diese Anschauung von Musik als kultischem Ereignis und als Mittel der Ekstase wirkt bis in die Gegenwart fort und ist ein wichtiger Teil unserer Auffassung von Musik.

    Antike: Musik als Ebenbild kosmischer Harmonie

    Mit dem griechischen Philosophen Pythagoras änderte sich im sechsten vorchristlichen Jahrhundert das Verständnis von Musik. Pythagoras galt seinen Schülern und Apologeten bis ins Mittelalter hinein als der erste Denker, der die Musik als Teil seiner Philosophie begriff und erklärte.

    In einer Schmiede, so die Legende, habe Pythagoras begonnen, unterschiedliche Tonhöhen als physikalische Erscheinungen zu begreifen und zu analysieren. Pythagoras entwickelte daraus eine erste theoretische Harmonielehre. Musik, so seine Überzeugung, sei ein Abbild der astronomischen Harmonie, der Vielfalt und Ordnung des Kosmos.

    Musik als geistige Übung, als Mittel der Welterkenntnis – auch dieses Wesen der Musik wirkt bis in die Gegenwart, in der Moderne erweitert um Werke, die nicht die Harmonie, sondern die Disharmonie der Welt offenbaren.

    Mittelalter: Musik als Offenbarung Gottes

    Mit Pythagoras wurde die Musik zum Objekt menschlicher Erkenntnis – er sah sie gar als mathematische Disziplin. Dem christlichen Mittelalter galt Pythagoras daher als einer der Väter der Musik. In ihren Bemühungen, griechisch-antike und biblische Quellen zu verbinden, erklärten die Denker des frühen Mittelalters die biblische Gestalt Jubal zu einem anderen Urvater der Musik. Im Buch Genesis wird Jubal als »Meister der Geiger und Pfeifer« bezeichnet und galt daher als Erfinder der Saiten- und Blasinstrumente. Die Bemühungen um eine Harmonie von antiker und biblischer Tradition gingen sogar so weit, dass versucht wurde, das Wort »Musik« auch vom ägyptisch-hebräischen Wort »moys« abzuleiten. Das Wort »moys«, von dem sich auch der Name Moses ableitet, steht für Wasser. Ganze Musikphilosophien wurden entwickelt, in denen Musik als fließend und bewegt wie das Wasser beschrieben wird – etymologisch unhaltbar, aber ästhetisch-philosophisch sehr anregend.

    Trotz der fundamentalen Umwälzungen, die in der Musik der Renaissance und des Barock stattfanden, blieb die mittelalterliche Musikdefinition in diesen Epochen grundsätzlich gültig.

    Musik als mythisch-religiöse Deutung: In abgewandelter Form ist auch diese Musikanschauung bis heute lebendig. Nur ihr Gegenstand hat sich verändert – die Musik wird nicht mehr als Verweis auf göttliche Offenbarung gehört, sondern selbst als transzendente Wahrheit erfahren und verehrt.

    Aufklärung: Musik als Ausdruck menschlicher Vernunft

    Bis in die frühe Neuzeit hinein blieb die Musik für Philosophen und Theologen ein Abbild der kosmischen, der gottgegebenen Ordnung, die es zu erkennen galt. Erst im Zeitalter des Rationalismus und der beginnenden Aufklärung geriet der Mensch als Subjekt in den Blickwinkel der Philosophen – eine eigenständige theoretische Musikwissenschaft gibt es erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Gottfried Wilhelm Leibniz schrieb: »Musik ist eine verborgene Rechenkunst des seines Zählens unbewussten Geistes.« Bemerkenswert an diesem Satz ist nicht die Gleichsetzung von Musik und Mathematik – sie war seit Pythagoras ein gängiges Denkmodell. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der Mensch, als Musiker oder Zuhörer, seine eigene Würdigung erhält. Musik ist nicht mehr etwas Unbedingtes, Vorgegebenes, sondern Gegenstand eigenständiger menschlicher Kreativität und Rezeption. Im späten 17. Jahrhundert, der Zeit, in der Leibniz wirkte, entstanden auch die ersten Kompositionen, die explizit mit dem Namen ihres Komponisten verbunden sind.

    Das mathematisch-wissenschaftliche Musikverständnis blieb im Zeitalter des Rationalismus und der Klassik wirksam. Der Mathematiker Leonhard Euler bezeichnete Musik als »die Wissenschaft, unterschiedliche Töne so zusammenzustellen, dass sie dem Zuhörer angenehmen Wohlklang bereiten«; der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau sah es ganz ähnlich: »Musik ist die Kunst, Klänge in einer Art zusammenzufügen, die dem Gehör behaglich ist.«

    Diese Musikanschauung gehört bis heute zum Verständnis musikalischer Werke.

    Romantik: Musik als autonome Wahrheit und Ausdruck menschlicher Emotion

    Erst in der Romantik emanzipierte sich die Musik vom wissenschaftlichen Rationalismus. Ausgehend von Johann Gottfried Herders Diktum, Musik sei »Offenbarung des Unsichtbaren«, und Friedrich Joseph Wilhelm Schellings Definition der Musik als »Ausdruck des Unendlichen«, entstand ein Verständnis, das die Musik nicht mehr als Paradigma der Mathematik, sondern als gänzlich eigenständige Ausdrucksform begreift. Der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer schrieb: »Musik ist eine Folge von Tönen, die aus leidenschaftlicher Empfindung entstehen und sie folglich schildern.« Arthur Schopenhauer ging in seinem philosophischen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung noch darüber hinaus: »Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektivität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.«

    Sowohl die metaphysisch-transzendentalen als auch die radikal-individualistischen Musikanschauungen der Romantik verbindet der Gedanke, Musik als etwas Autonomes zu begreifen – fundiert entweder in ihrer Fähigkeit, eine tiefere Wahrheit über die Welt zu enthalten, oder im subjektiven Ausdruckswillen des schöpferischen Menschen.

    Im Gefolge dieser Musikanschauung entstand das Konzept der »absoluten Musik« als Gegenentwurf zur darstellenden, funktionalen Programm-Musik. Absolute Musik ist frei von außermusikalischen Einflüssen wie Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Natur und Technik; sie ist ganz ihrem eigenen Ideal der Kunst verpflichtet und wird in der Regel als reine Instrumentalmusik verwirklicht. Aus dem Dilemma zwischen zweckfreier und funktionaler Musik entwickelte sich die Musikphilosophie der frühen Moderne. Sie sucht in einer empirischen, bisweilen auch materialistischen Betrachtungsweise, der mystisch-genialen Überfrachtung des romantischen Musikbegriffs zu entkommen. Ich denke aber, dass die Musikphilosophie der Romantik auch heute noch den bedeutendsten Teil unseres Verstehens und Erlebens von Musik bestimmt.

    Moderne: Musik als anthropologisch-psychologisches Merkmal

    Die jeweils vorherrschenden philosophischen und wissenschaftlichen Erklärungsmuster prägten das Denken und Reden über Musik auch im 20. Jahrhundert. In den dreißiger Jahren etablierte sich die Musikpsychologie; in den fünfziger Jahren entstand ein informationstheoretisch begründeter Deutungs- und Erklärungsansatz, verwandt mit der Sprachwissenschaft – interessant vor allem wegen der zum Scheitern verurteilten Versuche, Form und Bedeutung im musikalischen Werk voneinander zu unterscheiden.

    Immer wieder gab es soziologisch und politisch motivierte Sichtweisen auf die Musik. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es die Neurobiologie, die Lehre von den evolutionär und genetisch gewachsenen Voraussetzungen für Wahrnehmung und Handlung, die sich um eine Definition von Musik bemüht. Der Psychologe Steven Pinker, Professor an der Harvard-Universität, provozierte mit der These, Musik sei aus evolutionspsychologischer Sicht sinnlos. Sie habe dem Menschen bei der optimalen Anpassung an die Umgebung, dem Ziel der Evolution, keinerlei Nutzen verschafft. Oliver Sacks, Psychologe und Schriftsteller aus New York, eine Art Romantiker der Wissenschaft, antwortete Pinker mit dem Hinweis, es gebe physiologische Strukturen im menschlichen Gehirn, die unmittelbar mit der Wahrnehmung von Musik korrespondierten. »Es ist wirklich ein sehr seltsam Ding, wir alle haben Musik in unseren Köpfen«, schreibt er in seinem Buch Der einarmige Pianist. Oliver Sacks ist überzeugt, dass die Musik eine zutiefst menschliche Ausdrucks- und Kulturform ist.

    Musik als autonome Welt

    Was also ist Musik? Heute, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit jedes musikalischen Kunstwerks (Walter Benjamin), sind wir fast ständig von Musik umgeben – vom Radio über die Berieselung in Kaufhäusern und Einkaufspassagen bis hin zu Warteschleifen am Telefon und frei konfigurierbaren Handy-Klingeltönen. Arthur Schopenhauers Forderung, Musik solle »das innere Wesen, das Ansich der Welt« enthalten, wird unter diesen Voraussetzungen, um es vorsichtig zu formulieren, nicht immer erfüllt.

    Ist Musik unter den gegenwärtigen Produktions- und Rezeptionsbedingungen nur noch Ritual, Funktion, Geschäft? Ich kann diese gleichgültig materialistische Sichtweise nicht teilen.

    Der Philosoph Nicolai Hartmann, ein Vertreter des kritischen Realismus, schrieb in seinem 1953 veröffentlichten Werk Ästhetik: »Zu der wirklich künstlerischen Einstellung gehört die Loslösung von der ganzen Aktualität des Lebens.« Hartmann schrieb seine bemerkenswerten Einsichten zum Wesen von Kunst und Musik tatsächlich losgelöst von der ganzen Aktualität des Lebens in den letzten Kriegstagen.

    Die Forderung an die Kunst, sich gänzlich von den

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