Im Sog der Klänge: Gespräche mit dem Komponisten Jörg Widmann
Von Markus Fein und Christopher Peter
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Über dieses E-Book
Widmann zählt zu den Grenzgängern unter den zeitgenössischen Komponisten. Er bewegt sich in seinen Werken in Randbezirken und versucht dabei oftmals den dialektischen Brückenschlag zwischen den Extremen. Von entscheidender Bedeutung sind deshalb die "Bruchlinien", entlang derer seine kompositorische Suche stattfindet.
Die hier dokumentierten Gespräche mit Jörg Widmann fanden innerhalb eines sechsmonatigen Zeitraums statt. Widmann setzt sich darin als Komponist bewusst den Risiken der Selbstentäußerung aus - und ist dadurch als intensiver und authentischer Gesprächspartner zu erleben .
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Buchvorschau
Im Sog der Klänge - Markus Fein
Das Ich im Spiegel der anderen
Zunächst die Frage nach dem Beginn: Erinnern Sie sich, wann und weshalb Sie zu komponieren begannen?
Das Komponieren entstand bei mir aus dem Improvisieren auf der Klarinette. Ich habe mit sieben Jahren mit der Klarinette angefangen, vier Jahre später kam dann das Komponieren hinzu, denn irgendwann spürte ich das Bedürfnis, das Improvisierte zu fixieren. Ich war beim Blockflöten-, später beim Klarinettenspiel von einzelnen Stellen fasziniert und habe aus diesen Stellen heraus beim Improvisieren Dinge weiterentwickelt. Mit diesen improvisierenden Erfindungen fing das Komponieren bei mir an. Das erste Stück, an das ich mich bewusst erinnern kann, ist ein Walzer in F-Dur für Klavier. Vor allem an den Anfangsgestus aus diesem Stück kann ich mich gut erinnern.
Entstand dieser Wunsch nach dem Spielen und Komponieren von Musik aus Ihnen selbst heraus?
Alles wäre ohne meine Eltern nicht möglich gewesen. Meine Eltern sind zwar beide keine Berufsmusiker, aber sie hatten ein Hobbystreichquartett. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als kleines Kind unter dem Klavier gelegen bin und zuhören durfte, wenn sie im Quartett musizierten, etwa das «Lerchenquartett» von Haydn – ziemlich hoch für die erste Geige und auch schwierig … Ich durfte noch ein bisschen zuhören, ehe ich ins Bett gehen musste. Diese sehr frühe Erfahrung eines Streicherklangs hat mich fasziniert und sie wurde noch durch meine Schwester Carolin verstärkt, die Geigerin ist und die ich meine ganze Jugend hindurch befragen durfte.
Sie sagen, vieles ist in diesen ersten Jahren aus dem Fixieren von Improvisation entstanden. Da ist das Komponieren sehr nah dran am physisch erlebten Klang. Wann hat sich bei Ihnen eine eher abstrakte kompositorische Klangvorstellung herausgebildet?
Ich würde sagen, dass ich oft durch äußere Anlässe ins kalte Wasser geworfen wurde. Das war eine ganz wichtige Erfahrung. Als der Walzer in F-Dur passé war, gab es eine Anfrage von den Münchner Philharmonikern, die Kinderkonzerte veranstalteten und die damals in einer kleinen Besetzung und mit einigen Kindern als Solisten mit einem Mozartprogramm auf eine Japan-Tournee gehen wollten. Die haben sich zu diesem reinen Mozartprogramm ein Stück von mir, Variationen über Mozart, gewünscht. Das war das erste Mal, dass ich eine größere Dramaturgie bauen musste und ich mich nicht mehr auf das verlassen konnte, was ich über das eigene Instrument wusste. Plötzlich durfte ich für ein Horn schreiben! Dieses Stück hat sich noch in Dur-Moll abgespielt, aber schon das nächste hat die Tonalität verlassen, war ein Stück in Bitonalität und mit übermäßigen Akkorden. Dieses zweite Stück – ich war damals vielleicht elf, zwölf Jahre alt – war eine Art Theatermusik zu Geraldine und die Mauseflöte von Leo Lionni, eine Kindergeschichte, in der es um das Wesen der Musik geht. Zum ersten Mal musste ich mich gegenüber einer Textvorlage verhalten.
Wer war Ihr erster Lehrer, der Sie in Komposition unterrichtet hat?
Das war Kay Westermann, den mir Siglind Bruhn, die Leiterin der Musikschule, an der ich Klarinettenunterricht bekam, vermittelte. Ich war damals elf Jahre alt. An die Stücke, die wir uns gemeinsam im Unterricht angehört haben, kann ich mich noch gut erinnern: das war das Klarinettenquintett von Brahms – das hatte ich mir gewünscht – und Strawinskys Sacre du printemps – und zwar ohne Partitur. Kay Westermann fragte mich: «Was sind das für Instrumente?» Im Sacre gibt es so viele Dämpfertechniken und Mixturklänge, dass es nicht einfach war, die einzelnen Instrumentenstimmen herauszuhören. Das war eine faszinierende Welt für mich; aber ich habe sie nicht wirklich verstanden. Ich wusste bloß: Ich möchte mehr darüber wissen.
Wie sah der Unterricht bei Westermann aus? Haben Sie sich in dieser Zeit das klassische Rüstzeug angeeignet: Formenlehre, Satzlehre?
Ob ich mir das zu der Zeit schon wirklich angeeignet habe, wage ich zu bezweifeln. Aber der Unterricht war streng und es ging um handwerkliche Dinge. Ich bin Westermann heute sehr dankbar dafür, dass er damals dieses Fundament legen wollte, nur war das für mich ein sehr, sehr trockenes Brot … Ich habe mich wohl auch geärgert: Warum musste ich das wissen? Ich will doch nur lernen, Musik aufzuschreiben! Schon in der Schule hieß es: «Beethoven ringt mir der Form.» Da habe ich mir gedacht, gut, dann höre ich mir eben Mozart an! [lacht] Wie auch immer – dieser auf Handwerk bedachte Unterricht hat mir nicht sehr geschmeckt. Ich kann mich erinnern, als ich dann zu Henze ging und er sagte: «Ich freue mich sehr auf unsere gemeinsame Arbeit. Was sehr wichtig und Voraussetzung ist, das ist der Fux’sche Kontrapunkt.» Da habe ich mir gedacht: «Oh Gott, schon wieder!» Die sinnliche Lust am Kontrapunkt ist viel, viel später bei mir gekommen, das fing mit meiner Passacaglia für Klaviertrio (2000) an und ist für mich heute von großer Bedeutung. Alle meine jüngeren Stücke, vor allem das vierte und das fünfte Streichquartett, beschäftigen sich fast ausschließlich und intensiv mit Kontrapunkt. Als Jugendlicher hatte ich wenig Sinn für derlei, ich habe die für einen Komponisten so wichtigen Bereiche des Metiers erst durch die Praxis gelernt. Instrumentation etwa nicht durch das wunderbare Buch von Berlioz und Strauss – das habe ich erst mit Mitte zwanzig gelesen –, sondern durch Stücke, in die ich wie ins kalte Wasser geworfen wurde und an denen ich erst einmal scheiterte. In solchen Momenten fängt man an, über handwerkliche Dinge nachzudenken.
Mit ihrem Vorbehalt gegenüber Kontrapunkt und Satzlehre dürften Sie als Jugendlicher nicht alleine dagestanden haben – viele Menschen haben vom Musikunterricht bleibende Schäden davon getragen … Also auch bei Ihnen: mehr Interesse am Fleisch und weniger am Skelett und Knochenbau?
Zusammen mit Schulfreunden habe ich in den Pausen oft Musik gehört, zum Beispiel das Klarinettenquintett von Brahms. Immer und immer wieder, in ziemlicher Lautstärke. Wir waren besoffen von der Musik, so sehr hat uns Brahms narkotisiert! Von Kontrapunkt wollten wir nichts wissen.
Wer waren die ersten Interpreten Ihrer Stücke?
Ich glaube, ich selbst war der erste – und lange Zeit auch der einzige. [lacht] Bald musste meine Schwester dran glauben, später kamen Freunde in der Schule hinzu – ich habe das Pestalozzi-Gymnasium in München, ein musisches Gymnasium, besucht. David Adorján, der heute im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin Cello spielt, seine Schwester, die Klavier gespielt hat, sein Bruder Gabriel, ein Geiger, der heute Konzertmeister an der Komischen Oper Berlin ist – wir haben das ganze klassisch-romantische Repertoire gespielt, einfach für uns. Später, zur Hochschulzeit, habe ich mit Anna Gourari und Gabriel Adorján gespielt. Für Bartóks Kontraste haben wir 18 Proben gemacht! So etwas vergisst man nicht. Auch beim Musizieren kommt das Handwerk natürlich nur durch das Machen. Wenn wir so darüber sprechen: Ich habe schon den Eindruck, dass es damals ein Defizit an Theorie bei mir gab. Wenn ich heute unterrichte, dann spreche ich – ich hätte das nie gedacht – sehr viel über technische Aspekte. Ich bin heute fast pingelig, was handwerkliche und architektonische Fragen anbelangt. Als ich 17, 18 Jahre alt war, zielte die primäre Kraft in eine andere Richtung. Sie zielte auf Praxis und auf direkten emotionalen Ausdruck.
Dass dem emotionalen Ausdruck auch Form entgegengehalten werden muss, haben Sie dann in Ihrer Klaviersonate explizit zum Thema gemacht …
… Es ist vielleicht überhaupt mein Thema. Diese Erfahrung einer dialektischen Grundspannung von Musik war ungemein wichtig und intensiv.
Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie als Jugendlicher noch gar nicht so klar war, dass Sie den Weg hin zur Klassik und Neuen Musik gehen würden.
Auch für Pop und Hip-Hop und vor allem für Jazz und Funk habe ich mich interessiert. Das meiste ist für mich heute weit weg gerückt, aber die Faszination für Miles Davis ist bis heute geblieben. Ich habe mit meiner Schwester alle seine Konzerte in München besucht, da ging das ganze Taschengeld drauf. Das erste Miles Davis-Konzert beim Münchener Klaviersommer in der Philharmonie am Gasteig war ein Schock für mich! Ich hatte keine Ahnung, in was ich da reingehe. Und dann Miles Davis! Wie er und was er spielte, vor allem, was er wann nicht spielte, hat mich damals unheimlich fasziniert – die Pausen zwischen zwei Tönen! Miles Davis ist jemand, der bewusst solche Irritationen gesetzt hat. Er hatte auf der Bühne einen Synthesizer und hat bei Breaks haarscharf danebengehauen. Normalerweise hätte er sich aus seiner eigenen Band rausschmeißen müssen, aber er hat dieses Irritationsmoment gebraucht. Das ist etwas, das mich heute als Musiker immer noch interessiert: Ich bin wirklich ein akribischer Prober – aber am Konzertabend muss es eine spontane Lebendigkeit geben. Das waren also die zwei musikalischen Welten, in denen ich lebte.
Findet sich dieser doppelte musikalische Kosmos in Ihren frühen Werken wieder?
In meinem ersten Musiktheaterversuch Absences, einem Schulprojekt aus dem Jahr 1990 für die Münchener Biennale, habe ich genau das zum Thema gemacht: die Spannung zwischen «Klassischer Musik», die ich leidenschaftlich gerne gespielt und komponiert habe, und der Pop- und Jazz-Musik, die ich damals viel hörte. Ich habe damals Stunden und Nächte mit dem Synthesizer zugebracht; dieser Synthesizer, ein Yamaha DX-7, hat mich vollkommen okkupiert. In Absences gibt es eine Band und ein groß besetztes Ensemble, die regelrecht gegeneinander spielen. Das war das eigentliche Thema des Stücks – und zwar fernab von dem, was Plattenfirmen oft gerne als «Fusion» bezeichnen; es war ein hartes Aufeinandertreffen, auch ein Nicht-Funktionieren. Der letzte Akkord symbolisiert dieses Unentschieden – wie ich zu der Zeit selber auch unentschieden war. Auch in Stücken, die später folgten, kann man Reflexe auf diese Musikerfahrung entdecken, etwa in den Tränen der Musen aus dem Jahr 1996. In der Klarinettenfantasie gibt es Reste von Jazz, die Lust am Rhythmus und an der Synkope.
Die andere Welt: das waren Boulez, Messiaen und Bartók. Die karge Zweistimmigkeit in Tränen der Musen bezieht sich auf den sehr unspektakulären zweiten Satz aus den Kontrasten von Bartók, der vom Publikum nicht wirklich geliebt, sondern nur akzeptiert wird, weil es die rauschhaften Ecksätze gibt. Das Duo von Klarinette und Geige in Tränen der Musen bezieht sich ganz explizit auf diesen kargen langsamen Satz bei Bartók; neben Bartók bezieht sich das Stück auf Messiaens Quatour pour la fin du temps, vor allem auf den Unisono-Satz. Tränen der Musen ist ein schwankender, unsicherer Versuch, zwischen all diesen Welten einen eigenen Platz zu finden.
Ging das Interesse für Miles Davis in jener Zeit mit einer Skepsis gegenüber einer allzu akademischen, nüchternen Neuen Musik einher?
Nein, Miles Davis und Pierre Boulez waren Idole, die gleichberechtigt über meinem Bett hingen! Für mich war nicht das eine das Verkopfte und das andere das Gegenmodell. Ich habe die Structures von Pierre Boulez keineswegs als akademische Musik empfunden. Boulez – das war für mich eine aufregende Musik, auch seine Darmstädter Schriften Musikdenken heute, darunter sein Aufsatz über Form: Das wenigste habe ich damals wohl wirklich verstanden, fasziniert hat es mich gleichwohl. Mit 15 Jahren bin ich mit meinem Vater zum Festival Musica nach Straßburg gefahren. Dort habe ich mein erstes Boulez-Konzert gehört. Das war ein Schlüsselerlebnis und hat meine Entscheidung zu komponieren ganz wesentlich beeinflusst. Wir sind mit dem Auto hingefahren, kamen ein bisschen zu spät. Als ich in den Saal kam, habe ich nur