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Wir Hawaiianer vom Bahnhof Sülmertor: Meine Geschichte
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eBook749 Seiten10 Stunden

Wir Hawaiianer vom Bahnhof Sülmertor: Meine Geschichte

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Über dieses E-Book

Sülmertor. Ein kleiner Vorstadtbahnhof im schäbigen Industriegebiet einer mittelgroßen Stadt in Süddeutschland. Die kleine Bahnstation war nicht nur der Dreh- und Angelpunkt für die vielen Fabrikarbeiter, die hier jeden Morgen ein- aus- oder umstiegen, sondern sie trennte auch den ärmlichen Stadtteil, den man im Volksmund "Hawaii" nannte, von den übrigen bürgerlichen Wohnvierteln der eigentlich recht wohlhabenden Stadt. Auf meinem Schulweg überquerte ich den Bahnübergang, der sich direkt neben dem kleinen Bahnhof befand. An einem winzigen Kiosk bewunderte ich jeden Morgen die unzähligen bunten Illustrierten, die dort um das Häuschen ausgehängt waren. Vor einer kleinen Gaststätte saßen am Abend unter einem behaglich wirkenden Efeudach die trinkfreudigen, den Feierabend genießenden Fabrikarbeiter. Wenige Jahre nach meiner Einschulung wurde der Bahnübergang durch eine weißgekachelte Unterführung ersetzt, die von einer kleinen parkähnlichen Anlage umgeben war. Hier trafen wir uns, um unsere ersten heimlichen Zigaretten zu rauchen und zerknitterte Aktfotos auszutauschen. Wiederum einige Zeit später rauchten wir hier unsere ersten Joints oder knutschten mit unseren ersten Verehrerinnen. Die 60er Jahre waren gerade zu Ende gegangen und wir hatten unsere erste Band gegründet. Unser Proberaum war am Industrieplatz rund 300 Meter vom Sülmertor entfernt im Gemeindesaal der Aukirche, in der wir fast alle getauft, den dazugehörenden Kindergarten besucht und konfirmiert worden waren. Wir waren uns sicher, die Welt zu erobern. Genauso sicher wie unsere uns anhimmelnden Fans. Wir würden an unserem kleinen Bahnhof in den Zug steigen und die große, weite Welt erobern. Wer konnte uns schon aufhalten?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Sept. 2021
ISBN9783347234291
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    Buchvorschau

    Wir Hawaiianer vom Bahnhof Sülmertor - Klaus Keilbach

    LEGOGITARRE

    Es gibt Farben und Gerüche, die uns auch nach Jahrzehnten in die Vergangenheit katapultieren können. Ebenso wie das Anhören eines alten Liedes. Meine Erinnerungen reichen zurück bis zum Ende der fünfziger Jahre. Sugar Baby von Peter Kraus, „Ein Schiff wird kommen, oder „Marina sind die Lieder, die mich an meine Kindergartenzeit erinnern. Harry Belafonte löst noch immer dieses eigentümliche Gefühl aus, in einer ganz besonderen Farbe zu leuchten, weil er irgendetwas in mir zum Schwingen bringt. Der erste Song, der in mir den Wunsch auslöste ein Musiker zu werden, war die auf deutsch gesungene Fassung des Schlagers „Lucky Lips von Cliff Richard. Auf die Idee, bei meinen gespielten Auftritten ein Instrument in der Hand zu halten, brachte mich mein erster Lehrer der Grundschule: Wollenkamp. Um bei einer Faschingsfeier in unserem Klassenzimmer für Stimmung zu sorgen, hatte er sich eine Gitarre um den Hals gehängt um Lieder wie „Wir lagen vor Madagaskar zum Besten zu geben. Bisher hatten mich immer die schmetternden Trompeten oder das ohrenbetäubende Getrommel bei den regelmäßigen Umzügen der „Salzberg-Kapelle" oder eines Fanfarenzuges begeistert. Der Klang der Gitarre unseres Lehrers aber, war etwas ganz Besonderes und haute mich um. Von diesem Tag an war mir klar, dass ich diesen Klang selbst erzeugen wollte.

    Das erste Instrument baute ich mir aus den Elementen eines Spielzeug-Holzbaukastens. Damit stellte ich mich vor den großen Spiegel in unserem Flur und beobachtete mich bei meinem „Auftritt. Bald darauf stieg ich auf Lego Steine um und es brachte mich fast an den Rand des Wahnsinns, wenn die Gitarre „mitten im Konzert auseinanderfiel, obwohl ich die Bauklötzchen irgendwann mit Unmengen von „UHU aneinandergeklebt hatte. Langwierige Reparaturarbeiten zwangen mich so immer wieder dazu, meine Karriere zu unterbrechen. Immerhin hatte dieses Instrument schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Gitarre. Vor allem auch, weil ich damit begonnen hatte, Gummis als Gitarrensaiten aufzuziehen. Da ich immer wieder Nachschub brauchte, meldete ich mich freiwillig zum „Zeitung kaufen, da der Kioskbesitzer die Illustrierte zusammenrollte und einen Gummiring über die Rolle streifte. Der ständige Kampf mit meiner Lego - Gitarre endete erst, als mein griechischer Freund Dimitri eine Spielzeug Gitarre aus Plastik mit Nylon Saiten darauf anschleppte. Er lieh mir das Instrument großzügiger weise für einige Wochen aus, und nun gab es endgültig kein Zurück mehr. Es verging kein Tag, an dem ich meinen armen Eltern nicht in den Ohren lag und mir eine Gitarre von ihnen wünschte. Natürlich war es mir damals nicht bewusst, was für eine unsichere finanzielle Ausgabe ich von ihnen einforderte. Mein Vater arbeitete in einer Firma die Kolben für Kraftfahrzeuge herstellte. Meine Mutter schuftete in einer Konservenfabrik, nur wenige Minuten von unserem Zuhause entfernt. In den Sommer- und Herbstmonaten während der Erntezeit war es nicht ungewöhnlich, dass meine Mutter erst nach Einbruch der Dunkelheit von der Arbeit nach Hause kam. Die Anschaffung einer Gitarre mit dem Risiko, dass sie vielleicht schnell wieder mein Interesse verliert, war unter diesen Voraussetzungen doch eher ein Luxus. Außerdem befürchteten meine Eltern, dass ich wegen meiner Flausen im Kopf die Schule vernachlässigen könnte. Dies versuchte ich durch die Tatsache zu entkräften, dass mein Nebensitzer und Klassenbester Uli Szabo (Zapf) gerade selbst Besitzer einer Gitarre geworden war.

    ZAPF

    Mit Zapf hatte ich den Kindergarten der Aukirche besucht und wir waren uns in dieser Zeit bei unseren Banden – Kriegen immer wieder in die Quere gekommen und uns an die Kehle gegangen.1963 waren wir eingeschult und in die selbe Klasse gesteckt worden. Zapf wohnte mit seinem Bruder Emmerich zwei Häuserblocks entfernt und schien mir immer einen Schritt voraus zu sein. Er war der erste, der eines Tages mit einer Schlaghose im Unterricht erschien. Ich wurde blass vor Neid, da es mein größter Wunsch war, selbst ein „Halbstarker" zu sein. Im Freibad registrierte ich, dass er eine Taucherbrille mit Schnorchel besaß. Und er schrieb mit grüner Tinte, die mir aus unerfindlichen Gründen streng verboten war, schönere und gleichmäßigere Buchstaben als ich. Nun hatte er auch noch eine Gitarre bekommen und besuchte einmal wöchentlich den Gitarrenunterricht. Zapf glich verblüffend seiner Mutter. Er hatte strohblondes, glattes Haar, wasserblaue Glubschaugen und auf seiner ungewöhnlich blassen Gesichtshaut waren unendlich viele Sommersprossen. Seine Mutter gab sich die größte Mühe einen guten Draht zu unserem Lehrer zu pflegen. Es gab keinen Schulausflug, bei dem sie nicht an seiner Seite als helfende Hand den Ablauf eines solchen Unternehmens organisierte und überwachte. Oft erschien sie auch in der Funktion als Elternbeirat in unserem Klassenzimmer, um mit wichtiger Mine, in der letzten Reihe sitzend, den Unterricht zu verfolgen. So blieb es nicht aus, dass Zapf bei Wollenkamp einen Stein im Brett hatte und fast eine Art Sonderrolle genoss, was wohl auch das Ziel von Zapfs Mutter war.

    UNSER ERSTER GEMEINSAMER AUFTRITT

    Am Ende des ersten Schuljahres stand ich mit Zapf zum ersten Mal auf einer Bühne. Wir hatten für die neuen Schulanfänger ein Theaterstück vorbereitet, in dem Zapf die Hauptrolle als Lehrer ergattert hatte. Mir blieb immerhin noch die Rolle des „Tafellappens. Am Ende des kleinen Sketches sollte der „Lehrer einige Worte auf die Tafel schreiben, wobei sich Zapf prompt einen Schreibfehler leistete, was einige unverbesserliche Lacher im Publikum provozierte. Was folgte, war eine Tragödie. Es dauerte eine Ewigkeit Zapf nach dem kleinen Missgeschick wieder zu beruhigen. Noch eine Stunde später heulte er wie ein Schlosshund. Der ehrgeizige Klassenprimus hatte es vergeigt. An diesem Tag ahnten wir nicht, dass dies nicht das einzige Mal sein sollte, dass wir zusammen auf der Bühne gestanden waren.

    Der Kampf um eine Gitarre zog sich noch einige Zeit hin. Mittlerweile zählte ich mit Zapf zu den Klassenbesten. Die einzige musikalische Förderung genoss ich in Form einer einmal pro Woche stattfindenden Singstunde jeden Mittwochnachmittag. Ein alter, grauhaariger Chorleiter namens Mauer peinigte uns im Musikzimmer mit noch älteren deutschen Volksliedern. Der einzige Grund diese freiwillige Tortur auf mich zu nehmen, war die Tatsache, dass Mauer seine bizarre Liedauswahl auf einer Akustikgitarre begleitete, die stets griffbereit auf dem riesigen Flügel lag. Auf diesem unterstützte ihn ab und zu seine ebenso alte Assistentin. Zapf zupfte derweil schon seine ersten einfachen Melodien auf seiner Wandergitarre, von denen er mir ein kurzes Übungsstück beigebracht hatte. Nach einer Chorstunde nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und bat Mauer, dieses Liedchen auf seiner Gitarre spielen zu dürfen. Eigentlich war dies nur ein Vorwand um seine Gitarre in die Hand nehmen zu dürfen. Erstaunt rief er nach meiner musikalischen Darbietung seine Assistentin ins Klassenzimmer zurück und ließ mich die Prozedur wiederholen. Bis heute weiß ich nicht, was ihn an meinem Geklimper so erstaunte. Zu Hause schilderte ich dieses Erfolgserlebnis, nicht ohne die Geschichte kräftig auszuschmücken. Auf jeden Fall gab es nun ein Angebot Mauers, meine Eltern beim eventuellen Kauf eines Instruments zu beraten. Dies brachte zum ersten Mal Bewegung in die Sache. Dass sich mein Musiklehrer für mich stark machte und Talent in mir entdeckt hatte, schmeichelte ihnen und ließ sie endlich ernsthaft über meinen Wunsch nachdenken. Dass ich für das Gezupfe lediglich den Daumen meiner rechten Hand einsetzen musste, erwähnte ich bei der Schilderung meines „Auftritts vorsichtshalber nicht. Für die wenigen Noten des Liedes brauchte man nicht unbedingt eine Saite zu greifen. Meine arbeitslose" Hand hatte ich bei meiner Vorführung lässig in der Hosentasche versenkt.

    MEINE ERSTE GITARRE

    Als ich die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden hatte war es soweit. Zu Weihnachten stand, versteckt hinterm Weihnachtsbaum, eine Framus-Wandergitarre an die Wand gelehnt. Es gelang mir vor Aufregung kaum die Schnürsenkel der braunen Tasche zu öffnen. Dann hielt ich endlich meine Sunburst Gitarre in den Händen. Meine Eltern hatten es allerdings zur Bedingung gemacht, dass ich ab jetzt den Gitarrenunterricht der Volkshochschule in der Heilbronner City besuche. Leider war das Timing denkbar ungünstig. Die Wege von Zapf und mir trennten sich. Da auch er in eine höhere Schule wechselte verloren wir uns erst mal aus den Augen.

    GYMNASIUM

    Das Gymnasium setzte mich die nächsten zwei Jahre schwer unter Druck. Es bewahrheiteten sich die Befürchtungen meiner Eltern. Mathematik oder Englisch hatten gegen meine Gitarre so gut wie keine Chance. Zudem fand ich auch vieles andere um einiges aufregender als die Schule. Fußballspielen oder „Lager bauen" am Neckarufer - oder in den noch immer existierenden Nachkriegsruinen des Heilbronner Industriegebietes - waren verlockender als Hausaufgaben oder die Vorbereitungen auf Klassenarbeiten. Es gab unendlich viele Möglichkeiten meine Huckleberry Finn Träume zu leben und die trostlose Schulrealität zu verdrängen. Trostlos gestalteten sich auch die Freundschaften in der neuen Schule. Als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Industriegebiet hatte ich einen schweren Stand unter den Ärzte- oder Fabrikantensöhnen, deren Väter diese Firmen - in der Salz- und Austraße in der ich aufwuchs - betrieben.

    1965

    BEAT CLUB

    Zaghaft gab es nun die ersten Versuche im öffentlichen Rundfunk, die neue Musik die sich „Beat nannte zu präsentieren. Einmal pro Woche sendete ein regionaler Radiosender die Livesendung „MITTWOCHSPARTY. Studio Gäste - meist Abiturienten oder Studenten - waren zu Gast im Studio und wünschten sich ihre Lieblingslieder. Vorwiegend englisch gesungene, aktuelle Popmusik, die man „Beat Musik nannte. Am 25.September gab es im Fernsehen den ersten „BEAT-CLUB aus Bremen. Und nun bekamen meine bisher noch recht unkonkreten Vorstellungen von dem, was ich mit der Gitarre überhaupt einmal machen wollte eine ungewöhnliche Klarheit. Schlaghosen, lange Haare und laute Gitarrenmusik war genau das, was ich gesucht hatte. Plötzlich machte alles Sinn. Von meinen Eltern wurde diese Sendung gefürchtet, da sie wohl ahnten, was diese Musik in mir auslösen könnte. Tatsächlich begann die Situation Ende der zweiten Gymnasialklasse zu eskalieren. Als ich dabei ertappt wurde, wie ich die Unterschrift meines Vaters nach einer wiederholt in den Sand gesetzten Klassenarbeit eigenhändig gefälscht hatte, empfahl man meinen Eltern mich von der Schule zu nehmen. Im Gegensatz zu einigen anderen Leuchten unter meinen Klassenkameraden, deren Eltern ihr Geld oder ihren Einfluss ins Rennen warfen um ihre Brut durch den Parcours zu lotsen, gab es diese Möglichkeit für mich nicht. Wobei ich zugeben muss, dass ich sowieso keinerlei Interesse mehr hatte diese Karriere fortzusetzen.

    1968

    WIEDERSEHEN IN DER WARTBERGSCHULE

    Das Gymnasium hatte sich somit erledigt und ab dem September 1968 besuchte ich die Wartbergschule, keine zwei Kilometer vom Industriegebiet entfernt. Glücklicherweise war ich nicht der einzige, ausgestoßene Geächtete. Mit einer ganzen Handvoll meiner früheren Klassenkameraden gab es ein fröhliches Wiedersehen. Darunter auch Zapf, der in meiner Parallelklasse landete. Und ich traf einige meiner Kindergartenkumpels wieder und fand mich so im verwegensten Sauhaufen der ganzen Schule wieder. Mit Bernhard E (Elle)., Rolf N. (Nonne) und Rüdiger (Hankes) H. war Langeweile ausgeschlossen. Bernhard (Webse) W., der aus der Realschule geflogen war wurde mein Nebensitzer. Webse war schon im Kindergarten ein unverbesserlicher Spaßvogel gewesen, sodass es mir in dieser neuen Situation schwerfiel, die Lage so ernst zu nehmen wie es vielleicht nötig gewesen wäre. Alles erinnerte eher an den Beginn einer fidelen Party. Unser Lehrer hieß Laichert und war noch aus altem Holz geschnitzt. Er war schon weit über fünfundsechzig Jahre alt und bei allen Schülern gefürchtet, die ihn schon kennengelernt hatten. Laichert hatte nur aus Gründen des damals herrschenden Lehrermangels noch einige Jahre drangehängt. Gleich am ersten Tag hielt er eine eindrucksvolle und furchterregende Antrittsrede und da der Anteil an „Hawaiianern in unserer Klasse ziemlich hoch war, versah er uns zur besseren Unterscheidung vom Rest der Klasse gleich mit dem Begriff: „fünfte Kolonne. Da er genug Erfahrung mit Jugendlichen „rechts vom Sülmertor" hatte, versicherte er uns, sich auf keine unnützen Diskussionen einzulassen und drohte uns, dass er auch notfalls vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschrecken werde. Dabei klatschte er unaufhörlich mit einem fingerdicken achtzig Zentimeter langen Bambusstock gegen seine Wade, um seine Drohung zu unterstreichen. Er versicherte zudem, den Damen unserer gemischten Klasse dieselbe Behandlung zukommen zu lassen, falls sie Ärger machen sollten. Diese zogen bei diesem Versprechen reflexartig das Genick ein und starrten angsterfüllt auf den Schlagstock. Die meisten Schüler litten plötzlich an einem kollektiven schlechten Gewissen. Außer einigen meiner früheren Kindergarten Freunde, denen diese Hasspredigt wohl am ehesten galt. Elle hatte sogar ein höhnisches Grinsen im Gesicht, was mir signalisierte, dass wohl mächtig spannende Zeiten bevorstanden. Nach der frustrierend langweiligen Gymnasialzeit also genau die richtige Abwechslung.

    Auch wenn sich meine neue Schule nicht unbedingt in einem Nobelviertel befand, ließ man uns Hawaiianer doch spüren, dass wir von „jenseits der Bahngleise stammten. Diese trennten das Wohngebiet unterhalb des Wartbergs vom Heilbronner Industriegebiet, das im Volksmund „Hawaii genannt wurde. Woher dieser Begriff kommt weiß niemand mehr so genau. Es kursieren eine Menge Gerüchte um diese Gegend. So sollte hier im Mittelalter der Pestfriedhof gewesen sein. Aber den Namen gab man dem Stadtviertel sicher erst nach dem Krieg, als sich hier am Stadtrand, in den noch einigermaßen heil gebliebenen Wohnblocks, die hier stationierten amerikanischen Soldaten mit den, an Männermangel leidenden Frauen vergnügten. Normale Bürger zogen es vor, um dieses Viertel einen großen Bogen zu machen. Vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Die berüchtigste Straße lag direkt an der Bahnlinie zwischen Heilbronn und Neckarsulm. Hier in der „Christophstraße" wohnten Zapf, Elle, Hankes, Webse und Rolf. Die Wohnungen in den kasernenartigen Blocks waren ohne Bad oder Dusche und hatten in der Regel zwei Zimmer. Geheizt wurde noch mit Holz und Kohle. In der Küche gab es über dem Herd eine Gasuhr, in die man bei Bedarf - wie in einen Zigarettenautomaten - eine Münze einwarf. Erst dann ließ sich der Herd in Betrieb nehmen. So versuchte man zu vermeiden, säumigen Kunden auf die Pelle rücken zu müssen.

    Dagegen wohnte ich zwei Straßenzüge entfernt, geradezu in Saus und Braus. In drei Zimmern, mit Bad und einem Balkon, mit Blick auf die Gleise der hier verkehrenden Industriebahn, einer stark befahrenen Kreuzung auf der es regelmäßig krachte, einem Kiosk und einer stillgelegten Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg. Von unserem Balkon aus genoss ich eine grandiose Aussicht auf den Gehweg vor der Kneipe im Erdgeschoss unseres Hauses. Hier gab es immer wieder ein riesen Spektakel, wenn gegen Ende des Monats die frustrierten Fabrikarbeiter ihren Lohn auf den Kopf hauten und sich im Suff an die Gurgel gingen. Vor allem in den Sommermonaten, wenn sich das Leben meist im Freien abspielte, ging hier mächtig die Post ab.

    ELKE

    In dem Haus in der Salzstraße, wo ich geboren wurde und aufwuchs, wohnte auf derselben Etage, Tür an Tür, meine Freundin Elke. Ich war etwa fünf Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und ihrer drei Jahre älteren Schwester Margit einzog. Zuerst war ich regelrecht empört über die Tatsache, dass ich ausgerechnet mit zwei Mädchen das Stockwerk teilen sollte, aber wir wurden schnell Freunde. Nur wenig später wurde Elke in meine Kindergartengruppe gesteckt. Da sie ein Jahr jünger war als ich verteidigte ich unseren „Neuling gegen sämtliche Angriffe – auch gegen solche, die ich mir nur einbildete, um ihr „Held sein zu dürfen. Wir hatten beide dieselben blauen Augen, die gleiche Haarfarbe und waren unzertrennlich, sodass man uns bald für Geschwister hielt. Als ich eingeschult wurde, ließ ich es mir nicht nehmen, Elke regelmäßig vom Kindergarten abzuholen. Schließlich war ich schon „erwachsen und hatte bei der gefährlichen Verkehrslage den besseren Überblick. Es war so gut wie sicher, dass wir später auch heiraten würden, was nur ihre Schwester Margit verhindern konnte, die ab und zu Besitzansprüche an mich stellte. Dann ergriff sie urplötzlich die Initiative, zerrte mich in eine Ecke und presste mich gegen die Wand, um mir einen Kuss zu verpassen, was Elke im Gegensatz zu mir, erstaunlich gelassen ertrug. Außerdem offenbarte mir Margit als erstes Mädchen ihre sprießenden Brüste, während wir auf einem Apfelbaum in ihrem Garten saßen. Mit fünfzehn verliebte sich Margit in den Commander Cliff Allister Mc Lane (Dietmar Schönherr) vom Raumschiff Orion. Um ihm aufzulauern, riss sie von zu Hause aus und verursachte so ein unglaubliches Theater, bis die Polizei sie wieder eingefangen hatte. Seitdem war ich aus dem Spiel und konnte mich mit Elke ungestört unseren kleinen harmlosen sexuellen „Mutproben widmen. Als Elke die Realschule besuchte ging ihre Liebe sogar soweit, dass sie mich mit ihren Klassenkameradinnen verkuppelte.

    Die Rückfallquote von uns Hawaiianern von der höheren Schule zurück in die Hauptschule lag bei annähernd 100%. Schnell hatte uns das Establishment wieder auf die für uns vorgesehenen Plätze verwiesen. Mit Müh und Not hatten wir es geschafft uns zwei, drei Jahre lang im Haifischbecken über Wasser zu halten. Nun spielten solche Klassenunterschiede keine Rolle mehr. Immerhin genossen wir, dank Laicherts Titulierung, als „fünfte Kolonne" eine Menge Respekt in unserer Schule. Das große Maul von Elle sorgte von vornherein für zusätzliche Unruhe, da er mit Drohungen und mit den Fäusten ausgetragenen Auseinandersetzungen nicht hinterm Berg hielt. Es dauerte nicht lange bis an unserer Schule die Polizei aufkreuzte, weil Elle unter Verdacht stand, einige Zigarettenautomaten geknackt zu haben. Der erste, der es schaffte sogar von dieser Schule zu fliegen, war Uli Scheler. Er hatte unsere jüngste Lehrerin Frau Kögel in der Pause auf dem Schulhof sexuell belästigt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir noch keine sechs Wochen auf dieser Schule und wir waren gerade mal zwölfjährige Siebtklässler.

    1969

    Obwohl ich Elle für einen elenden Aufschneider hielt, wurde er zu einem meiner engsten Freunde. Er prahlte damit, eine Gitarre zu besitzen und schon in einer „Beat Band gespielt zu haben. Ich bezweifelte seine Worte, trotzdem war ich neugierig geworden. Um selbst eine Band zu gründen brauchte ich jemanden der ein Instrument spielt. Mit Zapf hatte ich noch keinen Kontakt aufgenommen, da er die Parallelklasse besuchte. Ob er noch Gitarre spielte wusste ich nicht. Zu Weihnachten bekam ich von meinen Eltern einen Plattenspieler geschenkt. Ich kaufte mir ein Album von Esther und Abi Ofarim das mit „Morning Of My Live eines meiner Lieblingslieder enthielt. In einem heruntergekommenen Supermarkt in unserer Nachbarschaft kaufte ich mir einige verbilligte Singles für eine Mark pro Stück von „Petulla Clark und dem deutschen Schlagerstar „Alexandra. Elle prahlte stattdessen von seiner eigenen Plattensammlung, die er sich angeblich im größten Heilbronner Kaufhaus zusammengeklaut hatte. Diese Behauptung glaubte ich ihm sofort. Tatsächlich brachte er am nächsten Tag, wie versprochen, eine ganze Ladung Singles mit in die Schule und verlangte pro Stück fünfzig Pfennig. Ein unschlagbarer Preis für „Dave Dee, „Manfred Man und „Bee Gees Schallplatten. Einer meiner Lieblingssongs war „Yummy, Yummy, Yummy vom „Ohio Express", den ich versuchte, mir selbst auf der Gitarre beizubringen. Nicht sofort erfolgreich, aber mit mehr Spaß als mir die Klimperei im Gitarrenunterricht bereitete. Mein Gitarrenlehrer war so alt wie die Pyramiden, und die Übungsstücke, die er mir von Woche zu Woche aufgab, hatten mindestens genauso viele Jahre auf dem Buckel. Immer öfter ließ ich den Unterricht ausfallen, bis meine Eltern von der Musikschule über meine Fehlzeiten informiert wurden. Um weitere unnötige Überweisungen zu vermeiden, kündigten sie zu meiner Freude den Unterricht. Mein neuer Lehrer war der Plattenspieler.

    THE SKYSCRAPERS

    Durch die gestohlenen Schallplatten waren sich Elle und ich schnell nähergekommen. Auf meinen zaghaften Vorschlag, ob er sich vorstellen könne eine Band zu gründen, reagierte er mit seiner typischen Hochnäsigkeit. Er bot mir „großzügig an, ihn zu Hause zu besuchen, wo er mir bei dieser Gelegenheit gleich einige Tricks beibringen werde. Ich ging auf sein Angebot ein und wenige Tage später stand ich nervös, mit meiner Gitarre unterm Arm bei Elle, im Zentrum vom Hawaii, nahe des Christophplatzes. Zu meiner Überraschung saß das ganze Wohnzimmer voll, mit einigen unserer Klassenkameraden und anderen Nachbarjungs. Webse war da, Zapf und Hankes. Die ganze Bude war total verqualmt und ich fragte mich, ob hier gerade die Beute von Elles Automaten-Raubzügen verpafft wird. Elle besaß ebenfalls eine Sunburst Wandergitarre, die er einfachheitshalber auf einen offenen E-Dur Akkord gestimmt hatte. Um gleich mal ordentlich Eindruck zu schinden, zeigte er mir und den anderen Neugierigen siegessicher, mit einer lässig im Mundwinkel hängenden Zigarette und daher tränenden Augen seinen einzigen Trick, den er auf Lager hatte. Dazu legte er seinen Zeigefinger über alle sechs Saiten und rutschte damit, je nach vermuteter Tonhöhe, auf dem Gitarrenhals rauf und runter. Das Lied, das er uns vorspielte hieß „Meine Puppe von Michel Polnareff, einem französischen Popsänger. Mit dem Original hatte die „Einfinger-Version" von Elle wenig zu tun. Dies hörte ich sofort als er mir die Single vorspielte. Jetzt schlug meine große Stunde. Ich hatte den riesigen Dusel, dass dieser Song aus lediglich drei Akkorden bestand, die ich ziemlich schnell gefunden hatte. Ohne ihn vor der ganzen Mannschaft bloßzustellen, schlug ich ihm meine Spielweise vor und registrierte zufrieden die erstaunten Gesichter der paffenden Meute. Selbst Elle musste anerkennen, dass ich auf Anhieb die richtige Version des Liedes gefunden hatte. Erstaunlich kleinlaut gab er sich geschlagen. Auf dem Heimweg wurde mir bewusst, dass es mir, als schüchternem Ex-Oberschüler, in der Höhle des Löwen, ohne große Anstrengung gelungen war, Elle den Rang abzulaufen. In der Hierarchie, in der er sicher der Leitwolf war, hatte ich mit ihm gleichgezogen. An diesem Nachmittag gründete ich mit Elle meine erste Band. Als zusätzlichen Sänger engagierten wir Webse, weil er uns versicherte, selbst bald eine Gitarre zu kaufen.

    Wir trafen uns jetzt so oft wir konnten im Wohnzimmer von Elle. Auch Zapf tauchte immer wieder auf, da er gerade mal um die Ecke wohnte. Ich befürchtete, dass es sicher irgendwann Ärger mit der Mutter von Elle geben würde, die regelmäßig am frühen Nachmittag von der Frühschicht in einer Briefhüllen-Fabrik nach Hause kam. Doch statt uns wegen der verrauchten Bude die Hölle heiß zu machen, schien sie eher froh zu sein, ab und zu eine Zigarette bei uns abstauben zu können. Meist verzog sie sich dann in die Küche, bis wir wieder verschwanden. Bei unseren Proben stellten wir uns im Wohnzimmer auf, als wären wir auf einer Bühne bei einem Auftritt, genauso wie wir es im Beat-Club schon unzählige Male beobachtet hatten. Webse bearbeitete mit Kochlöffeln die Sofakissen und schlug den Takt zu „Gloryland von den Lords oder „Yummy, Yummy. Elle schmetterte dazu skrupellos und mit größter Selbstverständlichkeit absolut sinnfreie englisch klingende Textbrocken, die höchstens im Refrain eine gewisse Ähnlichkeit mit den originalen Versen hatten.

    Wochenlang ging alles gut und wir hatten schon eine ganze Handvoll Songs beieinander, bis eines nachmittags überraschend der Vater von Elle auftauchte. Laut Elle arbeitete sein Vater als „Scheißhausleerer und hatte wohl an diesem Tag ein wenig zu früh den Wasserschlauch beiseitegelegt. Er drohte uns damit, uns auf der Stelle den Kragen umzudrehen, falls wir nicht sofort aus seiner Wohnung verschwinden würden. Es war ihm anzusehen, dass er seine Drohung wahrmachen würde. Wir machten, dass wir Land gewannen. Elle kassierte eine ordentliche Tracht Prügel und sah am nächsten Tag aus, als hätte er einen Zahnarztbesuch mit einem ernsthaften Eingriff hinter sich. Er kommentierte diese offensichtliche Schmach mit der grimmigen Bemerkung, „es seinem Alten diesmal ordentlich besorgt zu haben!

    KONFIRMATION

    Webse schlug vor, in der Gartenhütte seiner Eltern in einer Kleingartenanlage im Hawaii weiter zu üben. Vermutlich auch, um sich seinen Platz in der Band zu sichern. Nach zwei Proben gab es Ärger mit dem Garten-Nachbarn, der steif und fest behauptete seine Hühner würden wegen unserem „Gejaule keine Eier mehr legen. Nach einer Übergangszeit als „Schlagzeuger war Webse dann tatsächlich Besitzer einer Framus-Schlaggitarre geworden. Solange hatte er auf Waschmittel-Trommeln aus Pappe - die wir mit Bravo-Postern beklebt hatten - den Rhythmus geschlagen. Erstaunlich schnell hatte er sich auf der Gitarre die wichtigsten Griffe beigebracht und ersetzte Elle immer wieder dann, wenn dieser während der Probe mit seiner „Flamme herumknutschte, die er vor kurzem im Konfirmanden-Unterricht kennen gelernt hatte. Durch diesen Unterricht, der einmal wöchentlich mittwochs stattfand, hatten wir schließlich eine neue Probemöglichkeit gefunden. Die Gemeindehelferin Fräulein Minke gestattete uns, jeweils nach dem Konfirmanden-Unterricht den Gemeindesaal für unsere musikalischen Aktivitäten zu nutzen. Dies garantierte uns regelmäßig ein gutes Dutzend an Zuhörern und somit auch die ersten weiblichen Verehrerinnen. Ich hatte das unverschämte Glück, dass sich die mit Abstand Hübscheste der Mädels für mich interessierte und bald war Claudia „meine Freundin. Elle wechselte von Ulrike zu Angela und Webse machte sich ausgerechnet an das körperlich reifste und größte der Mädchen heran. Brigitte war fast einen Kopf größer als ich, während Webse, der Kleinste von uns, ihr gerade mal bis zur stattlichen Brust reichte. Sein Erfolg war daher eher bescheiden. Jetzt hatte ich meinen Traum verwirklicht – ich hatte mit meinen Freunden eine Band gegründet und hatte ein wirklich bezauberndes Mädchen erobert. Die Schule hatte sich somit endgültig erledigt. Meine Noten schossen in schwindelerregende Höhen und mein Gewissen betäubte ich mit Tagträumereien über Claudia und der Tatsache, dass ich sowieso ein berühmter und gefeierter Rockmusiker werden würde.

    Außer der Schule hielt uns jetzt auch noch der lästige Konfirmanden-Unterricht in Atem. Pfarrer Herrenkind sorgte an zwei Tagen in der Woche dafür, höchste Vorsicht walten zu lassen. Herrenkind hatte mich getauft und sollte uns in wenigen Monaten konfirmieren. Jeden Mittwoch gab es den von ihm zelebrierten Konfirmanden-Unterricht und sonntags zwang uns ein Stempelkärtchen in den Gottesdienst, was uns am frühen Morgen aus dem Bett riss. Es hielt sich das hartnäckige Gerücht, dass es mit der Konfirmation Essig sei, sollte man zu wenige Stempel auf seiner Karte haben. Außer der Blamage bedeutete dies, auf den erwarteten Geldsegen und die Geschenke verzichten zu müssen.

    Der Pfarrer war ein Mann wie ein Orkan. Vor ihm kapitulierte sogar Elle. Vor allem war Herrenkind unberechenbar. Entweder erschien er ordentlich besoffen zum Unterricht, war bestens gelaunt und ließ uns in Ruhe - oder er war nüchtern und ungenießbar. Dann gab es nichts zu lachen. Er ließ uns Verse aus der Bibel zitieren und machte jeden fertig, der die Strophen nicht fehlerfrei herunterrasselte. Man wollte lieber tot sein, als von ihm aufgerufen zu werden. Hatte er sich besinnungslos gesoffen, übernahm die Gemeindehelferin Fräulein Minke den Unterricht. Fräulein Minke sah genauso aus, wie sie hieß. Sie war eine Frau in mittlerem Alter und wir waren uns sicher, dass sie noch Jungfrau war, obwohl sie uns immer wieder einen Einblick in ihr tiefgeschnittenes Dekolletee gewährte. Minke organisierte den Kindergottesdienst, leitete die Jungschar und war Herrenkinds rechte Hand. Bei unseren ersten Partys im Tischtennisraum des Gemeindehauses achtete sie peinlichst darauf, dass das Licht nicht zu dunkel und die Musik nicht zu langsam war. Stattdessen versuchte sie mühsam, uns mit Spielen wie „Faul-Ei oder „Sitz-Fußball von unserer Pubertät abzulenken. Misstrauisch beäugte sie selbst harmloseste Annäherungsversuche, um bei geringstem Verdacht sofort „deeskalierend einzugreifen. Eines Tages beobachteten wir vor dem Unterricht wie Herrenkind ziemlich angeschlagen auf das Gemeindehaus zutorkelte. Jetzt hatten wir das Gefühl, ihm endlich mal - ohne großes Risiko - eins auswischen zu können. Bevor er den Saal betrat, deponierten wir eine Handvoll Reißnägel auf seinem Stuhl. Fast gleichzeitig verließ uns der Mut, allerdings zu spät um die Sache rückgängig zu machen. Wir waren ziemlich sicher, dass wir einen riesigen Fehler begangen hatten. Als Herrenkind den Raum betrat, hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu kriegen und musste plötzlich fürchterlich aufs Klo. Elle versuchte vergeblich den Ahnungslosen zu spielen und einen unbeteiligten Gesichtsausdruck vorzutäuschen. Dabei sah er aus, als hätte er gerade einen Schlaganfall bekommen. Einige der Mädels hatten Tränen in den Augen und wünschten uns sicher die Pest an den Hals. Zum Glück blieben die Reißnägel von Herrenkind (warum auch immer) unbemerkt, aber wir bekamen so im „Religionsunterricht nun doch eine ungefähre Vorstellung davon, wie es in der Hölle sein musste.

    Eindrucksvoll und berüchtigt waren auch die legendären Sonntagvormittag Auftritte in der nur spärlich besetzten Kirche. Bei genügend Pegel redete sich Herrenkind in Rage und ließ ein dramatisches Schauspiel vom Stapel. Selbst wenn er mit der riesigen Bibel in den Armen noch so bedenklich schwankte, gelang es ihm immer, auf den Beinen zu bleiben. Ich erstarrte entweder vor Ehrfurcht oder ich versuchte krampfhaft einen Lachanfall zu unterdrücken.

    AUFTRITT

    Genau eine Woche vor unserer Konfirmation spielten wir unseren ersten Auftritt. Webse, der vor kurzem mit seiner Mutter aus dem Hawaii weggezogen war, hatte den Gig an Land gezogen. In seiner neuen Clique gab es eine Party und er hatte uns als Band vorgeschlagen. Beim Bandnamen hatten wir uns schon einige Wochen zuvor auf SKYSCRAPERS geeinigt. Die Party fand in einem stinkenden Heizraum im Keller, unter genau der Gaststätte statt, in der am nächsten Sonntag meine Konfirmation gefeiert werden sollte. Es gab lediglich einige Stühle und einen Plattenspieler, auf dem ohne Unterbrechung der Song von Jane Birkins und Serge Gainsbourgs aktuellem Hit „Je t`aime…moi non plus lief. Das stahl uns mächtig die Show. Da nützten auch unsere, für den Auftritt extra übergestreiften, dunkelblauen Rollkragen Pullis nichts. Unsere Vorstellung schien niemanden sonderlich zu interessieren. Die Gäste waren einzig und allein scharf darauf, zu der Musik aus der Konserve Blues zu tanzen und nachdem mich Elle schon einige mal ungeduldig aufgefordert hatte, den gehörigen „Frauenüberschuss zu nutzen, tanzte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Blues im Stehen. Mit einem blonden Mädchen, das gut einen Kopf größer war als ich. Wegen Claudia brauchte ich keine Gewissensbisse zu haben. Unsere Beziehung war ins Leere gelaufen. Wir waren beide zu jung und zu unerfahren um die Vorzüge unserer Freundschaft auszukosten. Die intimste Situation die uns vergönnt war, war im Freibad auf einem Teppich zu liegen und zusammen Mickey Maus Hefte zu lesen.

    Relativ gering war der Erfolg der kirchlich religiösen Gehirnwäsche, die uns zu gläubigen Christen machen sollte. Wir pickten uns nur die „Rosinen aus der Prozedur. Es gab eine Menge (auch unnützer) Geschenke zur Konfirmation und einen nicht zu verachtenden Betrag an Bargeld. Und einige Tage nach dem Fest einen Ausflug der uns nach Speyer führte. Mit an Bord des Omnibusses war das stets wachsame Fräulein Minke und ein ungewöhnlich gut gelaunter Pfarrer Herrenkind. Etwas unangenehm war allerdings die kurvenreiche Busfahrt, bei der ich vergeblich gegen die Übelkeit ankämpfte und kurzerhand in das Schallloch meiner Framus Wandergitarre kotzte. Wir gönnten uns nach der Ankunft in der Stadt eine Besichtigung des Doms während der ich mit Elle, Webse und drei Mädels das Weite suchte. Verborgen vor Fräulein Minkes misstrauischen Blicken orderten wir in einem Supermarkt Zigaretten und ein stimmungsförderndes Getränk. Es dauerte nicht lange bis Webse so gute Laune hatte, dass er sich in Folge eines Lachkrampfes die Hosen verpinkelte. Der ungewöhnlich kalte Märztag sorgte für den interessanten physikalischen Effekt, bei dem sich Wasser in Dampf verwandelt. Webses Jeans rauchte als hätte seine Hose Feuer gefangen. Immerhin ermöglichte mir der Geldsegen der Verwandtschaft den Kauf einer qualitativ besseren Akustikgitarre, der ich erst mal einen Satz Stahlsaiten verpasste. Die eigentlich vorgesehenen Nylon-Strings waren mir viel zu leise. Dass ich dadurch die Gitarre ruinieren könnte wusste ich damals nicht. Das neue Instrument kam gerade zur richtigen Zeit, da meine Framus nicht mehr lange zu leben hatte. Meine ständige Klimperei, auf einem von den beiden Instrumenten, brachte meinen Vater beinahe um den Verstand und eines Abends brannten ihm sämtliche Sicherungen durch. Er verpasste meiner Framus-Gitarre, die neben mir auf dem Boden lag, einen herzhaften Fußtritt, der ihr das Kreuz brach. Natürlich bereute er seinen Ausraster schon im selben Moment, aber tief verletzt lehnte ich den angebotenen Hundert-Mark-Schein grimmig ab und kostete mein Selbstmitleid voll aus. Trotz der schlimmen Beschädigung versuchte ich das ramponierte Instrument zusammen zu flicken. Es gelang mir somit immerhin noch das eierige Riff von „Satisfaction darauf zu spielen. Auf dieser Gitarre klang dies genau so schief und gemein, wie in dem „Stones Konzertfilm vom Hyde Park, den ich kurz zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Zum ersten Mal „sah ich meine Idole, von denen ich bisher nur das „Theire Santanic… und „Beggars Banquet Album kannte. Der Auftritt der Stones war miserabel. Und trotzdem zogen mich die archaischen Klänge in ihren Bann. Die bluesig, wimmernden, aber zuckersüßen Töne von Mick Taylors Gitarre und die bellende, wohlig röchelnde Mundharmonika Jaggers im Vorspann des Films lösten ein eigenartiges Gefühl in mir aus. Die Tatsache, dass hier eine Band, ohne mit der Wimper zu zucken, mehr schlecht als recht und mit verstimmten Gitarren einen Gig vor 250.000 Leuten abzog, imponierte mir ungemein. Dies war ein erreichbares, realistisches Ziel. Drei Akkorde, schlampig gespielt, reichten also aus, um ganz schön auf den Putz zu hauen.

    Wir hatten Dusel, dass ausgerechnet jetzt gerade ein Nachbar von Elle und Webse, namens „Gagge sein gebrauchtes Schlagzeug loswerden wollte. Er wollte für das sperrmüllreife Set 80 Mark. Wir kratzten unser restliches „Konfisgeld zusammen und schlugen zu, obwohl wir noch keine Ahnung hatten, wer den Job des Drummers übernehmen sollte. Das Schlagzeug bestand aus einer Bass drum, einer Snare, einem Hänge Tom und Stand Tom, Hi-Hatt und zwei Becken, deren Durchmesser nicht größer war als eine Langspielplatte. Wir trugen sämtliche Einzelteile durchs Hawaii bis zur Aukirche, wo wir Fräulein Minke, die dem Nervenzusammenbruch nahe war, vor vollendete Tatsachen stellten. In ihrer Not verlegte sie unseren bisherigen „Proberaum vom Gemeindesaal im ersten Stock, wegen des zu erwartenden Lärms in den Keller. Hier gab es, angrenzend an den Tischtennisraum einen Flur, in dem jede Menge Gerümpel, wie z.B. alte Schränke, Regale und Stühle gelagert wurden. Wir schaufelten uns eine Ecke frei und bauten mitten in diesem Durcheinander das Schlagzeug auf. Außerdem verlegte Minke die Übungszeiten auf den späten Nachmittag. Damit konnten wir leben. In einer Blitzaktion ermittelten wir in Form eines Wettbewerbs unseren zukünftigen Trommler. In Frage kamen eh nur Elle oder Webse. Als Testlied einigten wir uns auf den „Gin House Blues. Ein Song, den ich von einer „Animals" Platte kannte. Noch bevor Webse sich überhaupt hinters Schlagzeug gesetzt hatte war klar, wer das Rennen machen würde. Elle war der erste Kandidat und zeigte ungefähr so viel Taktgefühl für den simplen Blues, wie er Tricks auf der Gitarre für mich parat gehabt hatte. Webse setzte den Snareschlag schon mal an die richtige Stelle. Damit war schnell entschieden, dass er den Job sicher hatte.

    Schon bei der ersten Probe realisierten wir, dass unsere Akustikgitarren keine Chance gegen das Drum hatten. Obwohl es nur ein kleines Set war, prügelten wir mächtig auf unsere Instrumente ein, ohne eine Chance gegen das Schlagzeug zu haben. Immer wieder gab es Krach zwischen Elle und Webse. Es machte Elle rasend, dass er kaum noch zu hören war. Sicher haderte er auch noch mit der blamablen „Niederlage" bei unserem Schlagzeug - Casting.

    MEINE ERSTE E-GITARRE

    Und wieder war es Zapf, der neue Fakten schuf. Er lud mich, ohne einen Grund zu nennen, zu sich nach Hause ein, um mir dort seine neue elektrische Gitarre unter die Nase zu halten. Es war eine wunderschöne, weinrote Framus mit zwei Tonabnehmern. Er stöpselte sie mit einem modifizierten Kabel in ein Kofferradio ein und zeigte mir stolz das Intro von Jimi Hendrix „Burning Down The Midnight Lamp. Laut Zapf „nur auf einer Elektrischen" spielbar. Dass die exotischen Klänge des Intros von einer Sitar gespielt wurden, erfuhren wir erst Jahre später. Es dauerte nicht mehr lange und Elle schlug ebenfalls zu. Er bestellte sich eine Kaufhaus Gitarre aus dem Katalog. Diese hatte drei Tonabnehmer und einen Tremolo Arm. In Sunburst. Dazu organisierte er sich ein altes Saba Röhrenradio und konnte jetzt doch immerhin auch schon eine Menge Lärm machen.

    Es wurde Zeit, dass ich meinem Vater nun endlich die Gelegenheit bot, unsere noch offene Rechnung zu begleichen. Dazu nutzte ich die entspannte Atmosphäre einer warmen Julinacht. Es gab das jährlich stattfindende Sommernachtsfest der „Hasenfarm. Hier traf sich das ganze Hawaii, um ordentlich einen drauf zu machen. Im Vorgarten vor der Gaststätte, in der der Vater meines Klassenkameraden Lallefatz Regie führte, waren auf der Wiese unter riesigen Apfelbäumen Tische und Bänke aufgebaut. Auf der kleinen Bühne musizierte eine Tanzkapelle, die technisch auf dem neuesten Stand war. Ich wusste um die Vorliebe meines Vaters für gepflegte Tanzmusik, wartete bis er einige „Halbe intus hatte und machte ihn immer wieder auf den Gitarristen der Band aufmerksam, der ihm ganz offensichtlich mit jedem weiteren Bier besser gefiel. In regelmäßigen Abständen versuchte ich ihn dabei von der Notwendigkeit einer E-Gitarre zu überzeugen und klärte ihn mit wehmütigem Blick darüber auf, dass ich der Einzige in unserer Band war, der noch mit der Akustikgitarre vergeblich gegen den Lärm der anderen ankämpfen musste. Je später es wurde umso größer wurde die Aussicht auf einen Erfolg meiner Mission. Sicherlich sah mein Vater auch endlich eine Chance seinen „Ausraster" wieder gut zu machen. Und irgendwann in dieser lauen Sommernacht versicherte er mir, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.

    Zwei Tage später machten sich Elle, Zapf, Webse, meine Eltern und ich auf den Weg in die HNer City. Dort gab es in einer schmalen Seitenstraße ein kleines, unscheinbares Musikgeschäft. Der winzige Laden war sofort brechend voll als wir dort alle einliefen. Im Schaufenster bewunderte ich schon seit Wochen eine Elektrogitarre für 220 Mark. Der Korpus des Instruments war mit rotem Kunstleder überzogen und nun durfte ich das Objekt meiner Begierde in der Hand halten und testen. Außer dieser „Ledergitarre gab es noch eine Framus-Gitarre in Sunburst, die der Verkäufer als qualitativ hochwertiger anpries. Sie kostete allerdings einige Mark mehr und als ich meinen Vater fragend anschaute, nickte er mir großzügig zu. Nun waren wir wieder quitt und ich verließ das Musikgeschäft mit der elektrischen Framus Gitarre. Sie besaß zwei Tonabnehmer und einen Tremolo Arm. Außerdem bekam ich vom Verkäufer ein Kabel, an das er einen dreipoligen Stecker lötete, sodass ich die Gitarre in ein Radio einstöpseln konnte. Schon am nächsten Tag stand Zapf mit seiner Gitarre und dem gerade erschienenen Stones Album „Let it Bleed im Gepäck vor der Tür und wir versuchten das Riff von „Gimmie Shelter" herauszufinden. Das gelang uns nur, nachdem wir unsere Instrumente drei Halbtöne höher gestimmt hatten. Die Folge war ein immenser Verbrauch an Saiten und die erstaunten Blicke des Verkäufers in dem kleinen Musikgeschäft, den wir jetzt gezwungenermaßen täglich aufsuchten.

    Mit der Schule ging es indessen weiter bergab, während gleichzeitig die Zensuren in schwindelerregende Höhen kletterten. Es war schon mal ein Wunder, wenn wir es überhaupt schafften in der Schule aufzukreuzen. Der kleine Bäckerladen, wenige Meter von der Schule entfernt, nahm uns nicht selten den Wind aus den Segeln. Hier trafen wir uns jeden Morgen, um anhand unserer finanziellen Lage erst mal zu prüfen, ob es überhaupt Sinn machte, sich von Laichert schikanieren zu lassen. Unsere sicherste Geldquelle war Karlheinz M., den wir alle „Lallefatz nannten. Seine Eltern waren die Pächter der Gaststätte des Kleintierzüchter-Vereins im Hawaii, im Volksmund „Hasenfarm genannt. Lallefatz plünderte regelmäßig die Kasse der Hasenfreunde und wir hauten das Geld beim Schulbäcker auf den Kopf. Meist sorgten wir für ein ausgiebiges Frühstück in Form eines riesigen Baguettes, das mit einer zentimeterdicken Schicht aus Leberwurst und Senf belegt war. Danach gab es für jeden einige Zigaretten zur besseren Verdauung. Frisch gestärkt machten wir uns nach dieser Mahlzeit auf den Weg zum Bolzplatz, nicht ohne vorher noch einen Ball in einem Spielwarenladen zu kaufen, den wir nach dem Spiel entweder anderen Kindern schenkten oder ihn einfach ins nächste Gebüsch kickten. Der Bolzplatz war nur einen Steinwurf von unserer Schule entfernt. Allerdings verhinderte ein Bahndamm zwischen Spielplatz und Schule, dass Laichert uns vom Klassenzimmer aus sehen konnte. Bei offenen Fenstern konnte er unser Geschrei aber sicher hören. Auf die erforderlichen Unterschriften der Eltern unter einer schriftlichen Entschuldigung wegen Fernbleiben vom Unterricht, hatten sich Elle und ich spezialisiert. Schnell hatten wir eine traumhafte Routine und Fingerfertigkeit entwickelt. Ich hatte schließlich noch Übung aus meiner Gymnasialzeit. So sicherten wir uns einen lukrativen Nebenverdienst, indem wir unseren Klassenkameraden zwei Mark pro Attest abknöpften. Dafür gab es ein täuschend echt kopiertes Autogramm eines Elternteils. Unsere Einnahmen setzten wir in Schallplatten um. Als wir Hankes ein dreitägiges Fehlen mit einem „akuten Nierenversagen" attestierten, wurde Laichert zum ersten Mal stutzig und drohte uns damit, dass er sich unsere Eltern vorknöpfen würde. Es war ratsamer den Bogen nicht weiter zu überspannen und wieder auf realistischere Befunde zurück zu greifen.

    Zum engsten Kreis unserer Truppe gehörte außer Webse, Elle, Hankes, Lallefatz und Rolf N. noch Hans-Dieter (Zyml) Z. und Roland G. Die Beiden waren die einzigen von den Jungs, die nicht aus dem Hawaii stammten. Zyml verdiente schon deshalb unseren Respekt, weil er so dreist war, acht Wochen am Stück die Schule zu schwänzen und in dieser Zeit hatte er sogar die Polizei an der Nase herumgeführt, die man ihm auf den Hals gehetzt hatte. Zyml wohnte fast fünf Kilometer entfernt in einem anderen, höher gelegenen Stadtteil und schaffte es, von seinem Fenster aus mit einem Fernrohr direkt in unser Klassenzimmer sehen zu können. Bei einem Blick durch seinen Sternengucker konnte ich sogar die auf die Tafel geschriebenen Zahlen erkennen. Lauer war der Frauenheld unserer Klasse und sorgte dafür, einige der Mädels in unseren Dunstkreis zu locken. Karin, Sabine, Andrea, Doris und Sonja sorgten so für die angemessene Frauenquote in der „Fünften Kolonne". Andrea war die unangefochtene Chefin der Mädchen. Sie verliebte sich fast wöchentlich in einen anderen von uns, machte aber ein Höllenspektakel, wenn man sich an ihr vergriff. Sonja hatte Beine wie Gerd Müller und trug mit Vorliebe die damals angesagten super kurzen Miniröcke. Ihr Hintern war so hart und kantig, dass man Angst hatte, sich an ihm zu stoßen. Doris hingegen bestand aus weichen Kurven und üppigen Brüsten, sodass ich jede Gelegenheit nutzte, ihr an die Titten zu gehen, was ihr ganz offensichtlich recht wenig ausmachte. Von Karin und Sabine ließen wir lieber unsere Finger. Die beiden waren ein, zwei Jahre älter als wir und ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis gab es nur unnötig Ärger. Sie zogen mit Jungs durch die Gegend, die schon ein Motorrad besaßen und belächelten spöttisch unsere eher ungeschickten Annäherungsversuche. So langsam begann ich das Ende der Beziehung mit Claudia zu bedauern. Ich glaubte, jetzt die richtigen Handgriffe gelernt zu haben und startete einen zweiten erfolglosen Anlauf. Ich glaubte, ihr mit einer lässig im Mundwinkel hängenden Zigarette imponieren zu können und trieb mich bei jeder Gelegenheit in der Nähe ihrer Schule herum. Aber entweder ignorierte sie mich oder ich erntete nur ihren mitleidig, hochnäsigen Blick. Ich hatte es wohl doch ziemlich vergeigt.

    BUDDY BARABAS

    Fast ständig schleiften wir unsere Akustikgitarren mit uns herum. Es bot sich immerhin die Chance in unserem täglichen Treffpunkt, der Bäckerei, für die Inhaberin Frau Walter einige Liedchen zum Besten zu geben. Dafür gab es in der Regel für jeden „Musiker einen halben Meter Weißbrot mit Leberwurst und Senf. Vielleicht bekamen wir das Vesper aber auch nur, damit wir mit dem Lärm aufhörten. Um für genügend Aufmerksamkeit zu sorgen, verzichteten wir darauf, die Gitarren in eine Tasche zu stecken. So kam es, dass eines Tages auf unserem Heimweg durch die Unterführung am Vorstadtbahnhof Sülmertor ein ziemlich schriller Vogel auf uns aufmerksam wurde. Ich bemerkte, als er auf uns zulief, dass er ein Bein nachzog und mindestens einen Kopf größer war als ich. Er hatte lange, braune Haare, die bis zu seiner Schulter reichten, trug eine lilafarbene Samthose, deren ruinierter Hosenladen von einem dicken Bindfaden zusammengehalten wurde. Seine braunen Schnürstiefel reichten ihm bis zu den Knien. Über dem roten Rüschenhemd hatte er ein schwarzes Nadelstreifen-Jackett über der Schulter hängen. Er stellte sich als „Buddy Barabas vor und bat mich höflich um meine Gitarre. Er unterzog das billige Instrument einer kurzen, aber scheinbar fachmännischen Prüfung, nickte zufrieden, ging in die Hocke und begann einige „Licks" abzufeuern, die verdammt nach Hendrix klangen. Wir standen mit vor Staunen offenen Mündern um ihn herum und versuchten zu kapieren, was der Typ da eigentlich gerade machte. Selbst wenn uns Gott persönlich gegenübergestanden hätte, wären wir nicht beeindruckter gewesen. Buddy war fünf Jahre älter als wir und verhielt sich uns gegenüber genauso respektvoll, als wären wir so alt wie er. Dies schmeichelte uns ungemein. Als er mir nach einigen Minuten die Gitarre zurückgegeben hatte, lud er mich, Elle, Zapf und Webse zu sich nach Hause ein, um uns seinen Verstärker zu präsentieren. Da er nur wenige Meter vom Schulbäcker entfernt wohnte, verabredeten wir uns auf den nächsten Vormittag.

    Buddy wohnte mit seinem Bruder Klaus und seiner Schwester bei seinen Eltern in einer kleinen 3-Zimmer Wohnung. Er teilte sich das Zimmer mit Klaus, der an diesem Vormittag noch im Bett lag und selig schlief. Neben seinem Bett stand eine halbvolle Weinflasche. Klaus war der ältere der Beiden und laut Buddy ein unverbesserlicher Schluckspecht. In dem Raum standen lediglich zwei Betten. Auf einem davon lag Buddys E-Gitarre. Mitten im Zimmer standen zwei riesige Lautsprecher-Boxen übereinander, die mit jeweils vier 12 Zoll Speakern bestückt waren. Auf den Boxen stand das 100 Watt Verstärker-Top-Teil. Der Turm war größer als ich. Buddy schnappte sich seine Gitarre, schaltete den Amp ein und drehte den Lautstärkeregler der Anlage nach rechts. Es dauerte nur wenige Sekunden bis die Röhren des Verstärkers auf Betriebstemperatur waren und sofort war in der kleinen Wohnung die Hölle los. Mit Buddys erstem, völlig unvorbereiteten Schlag auf die Gitarre hatte ich das Gefühl, dass mir jemand einen mächtigen Schlag in die Magengrube verpasst hatte. Außerdem schienen alle Töne gleichzeitig den Weg in meine Gehörgänge zu suchen, wobei sie einen unglaublichen Schmerz auslösten. Klaus, der eben noch friedlich schlummerte, wurde wie an unsichtbaren Fäden, ähnlich einer Marionette nach oben gezogen und erwachte sitzend in seinem Bett. Reflexartig griff er nach seiner Weinflasche und begann gleichzeitig mit unkontrollierter Kopfstimme zu schreien. Der Lärm im Zimmer war unbeschreiblich. Kurz darauf erschienen zuerst Buddys Schwester und sein grinsender Vater auf der Bildfläche, was die zwei Brüder aber nicht aus der Fassung brachte. Erst als die Mutter weinend und um Ruhe flehend im Zimmer stand, hatte Buddy ein Einsehen und brach seine Demonstration ab. Klaus sank auf sein Bett zurück und nickte sofort wieder ein. Im Treppenhaus hatte sich mittlerweile ein großer Teil der Hausgemeinschaft versammelt. Der Mob verlangte kategorisch das Ende des Tumults. Die Ankündigung, dass die Polizei verständigt sei, war für uns der eindeutige Wink, den Schauplatz schleunigst zu räumen. Da wir schon seit Tagen nicht mehr in der Schule aufgetaucht waren, war es nicht ratsam den Bullen über den Weg zu laufen. Halb taub verließen wir Buddys Wohnung. Erst einige Tage später trafen wir ihn beim Schulbäcker wieder und lernten ihn näher kennen. Sein richtiger Name war Eberhardt und seine Eltern stammten aus Ungarn. Das Geld für den „Winston Turm hatte er sich durch Auftritte mit seiner Band in den amerikanischen Kasernen zusammengespart. Nun war er gerade ohne Job, nachdem ihn eine Konservenfabrik gefeuert hatte, weil er die riesigen Gurkenfässer in ein Schlagzeug verwandelte und die gesamte Belegschaft mit seinem Getrommel fast in den Wahnsinn trieb. Außer Gitarre spiele er auch vorzüglich Schlagzeug und er sei ein guter Sänger. Diese selbstbewusste Behauptung bewies er sofort an Ort und Stelle, indem er unvermittelt anfing eine kleine Kostprobe seines Könnens zu liefern. Er schrie plötzlich und völlig unerwartet aus vollem Hals irgendwelche Textzeilen in einem einwandfreien Englisch. Zwischen den Gesangsparts imitierte er erstaunlich „zungenfertig und taktsicher mit Schnalz- und Zischgeräuschen ein Schlagzeug. Seine Singstimme war eine Mischung aus Eric Burdon, Jimi Hendrix und Paul Rogers. Ich war begeistert – im Gegensatz zur leidgeprüften Nachbarschaft. Als Kind war Buddy an Kinderlähmung erkrankt gewesen. Deshalb auch seine Gehbehinderung. Außerdem war er Analphabet. Buddys Schwester kannten wir eigentlich schon länger. Sie war uns schon öfter beim Schulbäcker aufgefallen, wenn sie dort Zigaretten holte. Auch sie war eine durchaus auffällige Person mit knallrot gefärbten Haaren. Und sie trug stets die Klamotten ihrer Oma. Sie trieb sich entweder mit den hier stationierten amerikanischen GI-Soldaten oder mit ziemlich zwielichtigen Schlägern herum, vor denen vor allem Buddy gehörigen Respekt hatte. Die rasant wechselnden Liebhaber bezeichnete er jeweils als „Schwager und er hatte bald eine ordentliche Anzahl von Verwandtschaft beieinander. Das Familienoberhaupt bezog eine kleine Rente und betätigte sich, ausgerüstet mit einem Putzeimer, einer Kehrschaufel und einer ZAHNBÜRSTE als freiberuflicher Straßenkehrer. Klaus ging ebenfalls keiner geregelten Arbeit nach. Er schnorrte sich durch die einschlägigen Kneipen in der City und meistens gelang es ihm auch, sich auf diese Weise einen Rausch anzusaufen. Oft besorgte er sich bei „Aldi eine Zwei-Liter-Flasche Lambrusco und schoss sich damit ab. Buddys Mutter sorgte dafür, dass die ganze Gesellschaft nicht völlig im Chaos versank.

    Wir schwärmten noch tagelang von Buddys Winston Turm und kämpften weiterhin mit unseren alten Röhrenradios gegen den Lärm von Webses Drum. Ständig lagen wir uns wegen diesem Problem in den Haaren. Vor allem Webse und Elle gingen sich bei jeder Gelegenheit fast an den Kragen. Eines Tages war es dann soweit und die Auseinandersetzung eskalierte. Die Beiden lieferten sich eine handfeste Prügelei im Proberaum. Es war klar, dass Webse gegen Elle keine Chance hatte, allerdings war er auch noch blöd genug, den ungleichen Kampf nicht einfach aufzugeben. Die Schlägerei war erst zu Ende, als Elle ihm zwei Zähne ausgeschlagen hatte. Dies schien das Ende unserer Band zu sein. Webses Mutter beschloss Elle bei der Polizei anzuzeigen und verbot Webse den weiteren Umgang mit uns. Erstaunlicherweise rauften sich die zwei aber wieder zusammen und unser Drummer fuhr jetzt mit seinem Mofa „heimlich" ins Hawaii, wo wir uns weiter stritten als wäre nichts geschehen.

    FREIBAD

    Einer der Gründe, weshalb sich die beiden Streithähne wieder so schnell vertrugen war sicher das „Freibad, wo wir mit den Mädels aus der Schule unsere Nachmittage verbrachten. Wir hatten unsere Proben praktisch ins Freie verlegt. Hier war die Atmosphäre um einiges entspannter als im dunklen Au-Keller. Wir hatten uns ein etwas abseits hinter Büschen gelegenes gemütliches Plätzchen „reserviert, wo wir unbeobachtet von den übrigen Besuchern unsere Klassenkameradinnen mit Sonnenöl eincremen durften. Unsere Instrumente hatten wir immer dabei und bald scharte sich jeden Tag eine kleine „Szene von Musikfreunden und „Gis um uns. Einer unserer regelmäßigen Stammgäste war „Bongo. Er war Zigeuner und wenige Jahre älter als wir. Er tauchte nie ohne seine Mandoline auf. Bongo brachte mir das „Liverpool-Riff bei, ohne den ein Chuck Berry Song undenkbar wäre. Dieser Trick, mit dem kleinen Finger der linken Hand gespielt, sorgt dafür, dass „Get Back von den Beatles nicht wie ein deutsches Volkslied klingt. Bongo spielte mehrere Instrumente. Außer seiner Mandoline beherrschte er Gitarre, Mundharmonika und einige Blasinstrumente. Herbert (Hebe) Sch. servierte uns ein Lied, das er „Freibad Song nannte und das eine enorme Fingerfertigkeit erforderte. Daumen und Zeigefinger rutschten dabei auf der tiefen und hohen E-Saite vom dritten zum siebten Bund. Das war es aber auch schon. Diesem grandiosen Tipp verdankte er, dass sich Dorothea (Dorle) aus unserer Klasse in ihn verliebte, die er einige Jahre später heiratete. Unser Heimweg vom Freibad ins Hawaii führte uns durch eine zwei Kilometer lange Platanen-Allee am Neckar entlang. Auf halber Strecke gab es eine Betonbrücke über den Fluss. Hier legten wir jedes Mal eine kleine Rast ein, um unter der Brücke einige Songs zu jammen. Wir genossen den grandiosen Sound unter dem riesigen Bogen. Man hatte dabei das Gefühl in einer riesigen Halle zu stehen. Manchmal verloren wir bei solchen Sessions vollkommen das Zeitgefühl und spielten bis es dunkel wurde. An einem dieser Abende versammelten sich am Neckarufer entlang, völlig unerwartet, einige Dutzend Schaulustige und wir spielten wie im Rausch bis spät in die Nacht hinein. Wir gaben sicherlich das erste Open-Air Rockkonzert in Heilbronn und zu Hause gab es ein riesiges Theater, ich handelte mir eine Woche Hausarrest ein. Ein weiterer ständiger Reibungspunkt mit meinen Eltern war das leidige Frisör-Thema. Um meine Haare in „angemessenem Rahmen" zu halten gab es das ungeschriebene Gesetz, einmal monatlich den schwulen Hawaii Frisör Willi Schön aufzusuchen. Dieser bewies wenig Einfühlungsvermögen und achtete während seiner Versuche seiner Kundschaft eine altbewährte Wehrmachtsfrisur zu verpassen vor allem darauf, seinen fetten Ranzen an das jeweilige

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