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Männersachen
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eBook292 Seiten4 Stunden

Männersachen

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Über dieses E-Book

Im letzten Band der Hans-Herbst-Edition überrascht der Globetrotter seine Leser mit Reportagen. Stories aus aller Welt - herausragend erzählt. Einige davon bisher unveröffentlicht.
Brasilien hat es dem Vielgereisten besonders angetan - und kaum ein Zweiter vermag das lateinamerikanische Flair mit seiner Musik und seinen Menschen besser einzufangen als Hans Herbst. Seine Geschichten sind sicherlich nicht nur Männersache(n).

Band I Siesta, Stories 1 · Band II Gringo, Stories 2 · Band III Mendoza, RomanBand IV Cuba Linda, Stories 3 · Band V Stille und Tod, Stories 4 Band VI Zwischen den Zeilen, Stories 5 · Band VII Männersachen, Reportagen
SpracheDeutsch
HerausgeberPENDRAGON Verlag
Erscheinungsdatum17. Feb. 2012
ISBN9783865322975
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    Buchvorschau

    Männersachen - Hans Herbst

    Bus nach Bahia

    Regen, so weit das Auge reicht. Und gegen die leergefegte Copacabana klatscht ein unfreundliches Meer seine Wellen wie Rotze.

    An Sonne, Samba und was Schönes für den Leib hatte der genervte Reisende gedacht, als ihm Puerto Rico an die Substanz ging. Zu viel Hamburger, Cheeseburger, Todesburger, Howard Johnsen’s, Holiday Inns und Amerika. Eine so schöne Insel mit diesem ganzen Schweinekram zu verunzieren, ist schon eine äußerst bösartige Attacke auf ein ehemals bestimmt freundliches, aber leider wehrloses Volk. Mit den jungen Insulanern kommt man gut zurecht, wenn sie sich ihren Schliff noch nicht in ›El Barrio‹, New York City, geholt haben, den älteren hat Amerika einen guten Teil ihrer Karibikfröhlichkeit wegpoliert. Gott sei Dank ist ihnen ihre Musik geblieben, hierin sind sie wirklich Meister, und ihre Frauen könnten auf jeder Schönheitskonkurrenz die Preise einsammeln.

    Ich latsch’ deprimiert die Atlantica rauf, eine scharfe Biegung nach links bringt mich durch eine Galerie auf die Nossa Senhora da Copacabana und in eine Kneipe, deren überdachte Vorderfront zur Straße hin offen ist. Cachaça trinken, Zuckerrohrschnaps, ein sauberes Produkt. Brasiliens schöne Frauen haben anscheinend von meiner Ankunft gehört und sich nach Alaska verzogen. Aber ich werd’ nicht so blöd sein und ihnen nachrennen. Ich werde mit dem zahnlosen Barkeeper die Cachaçaflasche besprechen und mich dann in mein Fünfzehndollarhotel verziehen, besoffen genug, um meinem Erzfeind an der Rezeption an sein fleckiges Jackett zu gehen.

    Dieser Mutterschänder hatte mir auf meine Frage, ob der Besuch einer Dame mit den hiesigen Moralvorstellungen in Einklang stünde, ganz schlicht geantwortet: »Nicht bei Nacht, keine Nutten und, vor allem, keine Negerinnen.«

    Das war mein erster Eindruck von Brasilien gewesen. Ich hab’ vor Schreck einen ziehen lassen und ihn gefragt, ob ich mir denn in meinem Badezimmer, bei gut verschlossener Tür, versteht sich, einmal am Tag ganz allein die Eier kraulen darf.

    Dabei würde er mir gern behilflich sein, hatte er gesagt und innig gelächelt.

    Der Regen hält die Leute nicht davon ab, in die Kneipe zu kommen. Rundherum Schwule, Besoffene, Strandpenner, Skid Row. Jeder Zweite lutscht mich um eine Zigarette oder ein Bier an, und der Barmann lächelt dazu freundlich wie eine Mülltonne, und mir ist kalt. Der Wind hat wohl auch von meiner Ankunft gehört.

    Ein Schuhputzjunge zerrt an meinen Beinen rum und erklärt, dass er der einzige und echte Spezialist für braune Stiefel in ganz Rio sei. Woher kann der nur so gut Englisch? Eine Schule hat der doch nie von innen gesehen.

    »Oder etwa nicht?«, kräht er wild.

    Aber die Frage gilt nicht mir. Sie gilt jemandem neben mir. Da steht ein Mädchen. Seit wann stellen sich gutgerundete Mädchen aus Milchschokolade freiwillig neben alte, ausgemergelte Männer? Das muss genauer untersucht werden. Ich lad’ sie auf einen Drink ein.

    Abgelehnt. Was dann? Essen! Ach so ist das. Der Barmann grinst. Er kennt sie. Lass ihn grinsen, mir scheißegal. Da ist ein Mädchen durch den Regen gekommen und hat sich neben mich gestellt.

    Ich sehe große, dunkle Augen und einen prächtigen Arsch über endlosen Beinen, die eine Figur zu tragen haben, bei der das, was sich da deutlich unter dem offenen Hemd abzeichnet, den armen Reisenden für alles entschädigen könnte, was er je in seinem Leben an Unbill erlitten hat.

    »Hau rein«, lad’ ich sie ein.

    »Meine Freundin hat auch Hunger«, sagt sie. Ihre Freundin hat einen Bauch und große, alte Augen.

    »Hoffentlich hast du nicht zu viele Freundinnen.« Sie lacht. Sie versteht mich nicht. Die Mädels verputzen ihre Feijoadas mit einem Tempo, das mir anzeigt: Die haben wirklich Hunger. Straßenmädchen, Strandmädchen, leben von einer Mahlzeit zur anderen, messen die Qualität eines Tages an der Menge der geschnorrten Mahlzeiten. Glück gehabt, was? Da steht so ein blöder, einsamer Reisender und kauft sich ein kleines Gespräch mit einem Teller Bohnen und Reis. Und wie es aussieht, ist vielleicht auch ein kleiner Fick drin.

    Die beiden Mädels lachen und reden über mich, übermütige Kinder jetzt, sattgegessen, eine Limonade hinterher, ein gelungener Nachmittag. Jetzt muss man diesem rotbärtigen Trottel nur noch ein bisschen Bares abzapfen, dann ist das Essen für morgen gesichert und vielleicht sogar für übermorgen. Den schickt uns der Himmel. Oder Yemanja, die Göttin des Meeres, die ihre schönsten Kinder nicht im Stich lässt. Die Kleine langt mir forsch zwischen die Beine, und ihre Freundin fummelt in meinem Bart rum.

    »Langsam, langsam«, sage ich und überprüfe erst einmal das Bare in meiner Hosentasche. Fühlt sich gut an, alles noch da. Ich erkläre der Kleinen, wo mein Hotel liegt, und bitte sie, in zehn Minuten nachzukommen.

    Mal sehen, was der aalglatte Typ am Empfang zu einem kleinen Geschenk sagt.

    »Ist nicht drin«, meint er und kriegt wässrige Augen, als er den Schein sieht.

    »Hör mal, Freund, das ist so ’ne kleine Wohlgebaute, allerfeinste Milchschokolade, lieblichst anzusehen. Du guckst einfach nicht hin, wenn sie reinkommt.«

    Ich hatte ganz vergessen, dass dieser Idiot schwul ist. Er kriegt todtraurige Augen, und seine Stimme bricht fast vor Mitgefühl: »Bruder, mach mich nicht wahnsinnig mit dem Schein da. Klar, du willst ’n netten kleinen Fick am Nachmittag. Wer versteht das besser als ich? Aber die schmeißen mich raus, wenn ich die Kleine reinlasse.«

    »Dann besorg’ ich dir ’n Job als Pförtner bei VW in Wolfsburg.«

    Angeknickt geh’ ich zurück, Richtung Kneipe, und die Dame kommt mir schon auf halbem Weg entgegen.

    »Hab’ ich mir schon gedacht«, sagt sie lachend. Wir unterhalten uns in einer aufregenden Mischung aus Englisch, Spanisch und Italienisch.

    »Ich kenn’ ein Hotel, in dem es keine Probleme gibt.«

    Ich denke an meine paar Dollar, aber nur eine Sekunde lang, und wir schieben los. Im Taxi versuch’ ich, den ganzen Mist zu vergessen, und konzentrier’ mich auf die Kleine, die fröhlich grinsend eine Hand in meine Hose geschoben hat. Was sie da vorfindet, lässt sie noch stärker grinsen, und ich bin auch nicht faul und untersuch’ in aller Ruhe ihr Hemdchen. Was ich fühle, ist ganz glatt und fest und passt nur zur Hälfte in meine wirklich nicht kleine Hand. Die nahe Zukunft sieht rosig aus.

    Wir küssen uns mal probehalber, und ein paar warme, weiche Lippen lassen mich entzückt ahnen, was mir bevorsteht. Taxi ins Paradies. Der Fahrer hat die ganze Zeit über ein Auge im Rückspiegel, und als sich unsere Blicke begegnen, zwinkert er mir zu. Netter Mann.

    Als wir in dem Hotel ankommen, hänge ich verschämt meine Jacke vor die Beule in meiner Hose und mache die üblichen Eintragungen. Das Paradies ist ein geräumiges Zimmer mit rundem Bett, jeder Menge Spiegel, Radio, großem Bad und Bedienung rund um die Uhr. Ein anständiger, sauberer Puff. Ich bestell’ erst einmal Cachaça und Zigaretten. Als das Wunderkind aus dem Bad kommt, ganz nass noch, Wassertropfen, die wie kostbare Steine auf der dunklen Haut glitzern, bleibt mir für einen Moment das Herz stehen und ich habe das Gefühl, dass Brasilien sich mir von seiner schönsten Seite zeigt. Und die allerschönste Seite dieser schönsten Seite ist, ganz ohne Zweifel, die Rückseite: der Arsch. Einer von der apfelförmigen Sorte, schwarzbraun mattglänzender Samt, ein Altar, vor dem ich erst einmal ehrfürchtig niederknie und der, in hervorragendem Kontrast zu dem weißen Laken, mir die Schönheit der farbigen Rasse aufs Prächtigste demonstriert. Die zartschimmernde Haut des schmalen, muskulösen Rückens, der sich nach oben hin proportionsgerecht verbreitert und in wunderschönen Schultern endet, ist die reinste, glatteste und festeste, die ich je gesehen habe. Die Beschreibung der Köstlichkeiten, die sich meiner vorsichtig suchenden Zunge bieten, wage ich meiner armen Sprache nicht anzuvertrauen. Es gibt ein brasilianisches Lied mit dem Titel A mulher Brasilieira em primero lugar – die brasilianische Frau auf dem ersten Platz. Diese kühne Behauptung hat meine ganze Zustimmung.

    Nach meiner Meinung haben sich diese, von mir sehr geschätzten Damen, diesen ersten Platz unter den Weibern vor allem mit den kunstvollen Bewegungen ihres sambageschulten Unterkörpers erobert. Ich hatte das Vergnügen, ein paar Beobachtungen zu machen, die mir als armem Europäer, in dessen Land die Frauen mit eingegipsten Hüften rumstolpern, den Glauben an das Schöne in dem sogenannten schönen Geschlecht wiedergegeben haben. Bei den sonntagabendlichen Sessions in den Sambaschulen von Rio de Janeiro. Was sich dort in einer Nacht und auf engstem Raum an makelloser Schönheit und Eleganz dem an verhärmtes Rumgehopse gewöhnten Deutschen darbietet, lässt ihn die Plumpheit seiner Rasse fast wie eine Krankheit empfinden. Und die Bewegungen demonstrieren nicht nur Freude am Tanzen, artistisches Geschick, perfekte Harmonie mit der Musik, sondern auch ganz eindeutig und mit Vergnügen zur Schau gestellte Freude am Vögeln. Man stelle sich vor: Die Leute zeigen ganz offen und ohne Scheu, ja fast mit einer Art von Stolz, dass sie gern vögeln. Bei uns würde man sagen: »He, die ist bestimmt eine richtige Sau im Bett.« Und dann gehen die Verklemmten und Verkorksten heimlich aufs Klo und holen sich einen runter.

    Eine Münchner Nobeldiskothek mit Schummerlicht, Chichi und Flitter und eine Sambaschule in Rio mit Neonlicht, Betonfußboden und Dosenbier: Bei der Ersten kommt mir das Kotzen, und bei der anderen gehen mir Herz und Hose auf. So einfach ist das.

    Meine kleine Makellose hat mich in diese Sambaschulen geschleppt, und ich werde ihr ewig dankbar sein dafür. Es verstand sich von selbst, dass sie sich immer gleich ins Gewühl stürzte und ordentlich loslegte, aber sie hat mich nie aufgefordert mitzumachen, dafür hatte sie einen zu feinen Nerv.

    Und ich steh’ da, erstklassiges brasilianisches Gras im Kopf, eine Dose kaltes Bier gegen den Durst – nie vorher und nie nachher hat mir Dosenbier geschmeckt – und erlebe, wie fünfzehn Trommler, ein Gitarrist und ein Sänger Mutter Afrika huldigen. Die Gitarre hört man sogar. Das ist keine Frage der Lautstärke, sondern der Intensität. Die ganze Band verfügt über nur zwei Mikrofone, eins für den Sänger und eins für die Quica. Und dem faszinierten Reisenden öffnet sich eine Welt, die mit seiner eigenen wohltemperierten Plastikwelt überhaupt nichts zu tun hat. Was da von der Bühne kommt, durchläuft alle Stadien der Dynamik, vom zarten Flüstern bis zum alle Kräfte beanspruchenden Sich-Austoben, schiere Gewalt wird den Instrumenten angetan und das Letzte an Kraftreserven mobilisiert. Aber es bleibt immer Musik, wird nie Lärm, ist nie aggressiv oder bösartig wie zuweilen die Rockmusik.

    Und meine Kleine tanzt. Sie hat mir immerhin vier Tage die Treue gehalten und wäre auch zu längerem Verweilen bereit gewesen, wenn ich Blödmann nicht die Bremse gezogen hätte, aber jetzt ist sie sehr weit weg von mir, ist ausschließlich mit sich und der Musik beschäftigt und in Sphären eingetaucht, zu denen ich, weil passiv, kaum Zugang habe. Aber ich freue mich mit ihr, und alles ist gut. Was sie da vorführt, lässt Leute stehenbleiben und einen Kreis um sie bilden. Anerkennende Zurufe werden laut, und junge fixe Burschen wollen es mit ihr aufnehmen. Aber nur die Besten finden Gnade und dürfen sie auf diesem Trip ins andere Land begleiten, und die begeisterte Menge wird Zeuge eines pantomimisch in höchster Vollendung ausgeführten Ficks auf offener Szene. Musiker und Tänzer bilden jetzt eine Einheit, ein Ganzes, und haben nur eins im Sinn: den Orgasmus so lange wie möglich hinauszuzögern, den Spaß zu verlängern. Das heißt, bis zum Umfallen zu tanzen und zu spielen. Aber so schnell fällt hier keiner um, und ehe die Nacht vorbei ist, hat die kleine Wilde ein halbes Dutzend von den fixen jungen Burschen ins Schwitzen gebracht. Und was den krönenden Abschluss dieser ganzen Aktion betrifft, so wird selbiger, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in einer anständigen Absteige mit rundem Bett zur Ausführung kommen. Kommt auch. Das Radio ist an, bringt natürlich Samba, und ihre Bewegungen sind die gleichen wie vorher, nur dass jetzt kein fixer junger Bursche am Drücker ist, sondern ein fixer alter. Und ich habe nichts weiter zu tun, als streng darauf zu achten, dass das, was da unter mir rotiert, durch mich nicht aus dem Rhythmus gebracht wird. Wird auch nicht, im Gegenteil. Wir ergänzen uns hervorragend, und wo ihr Becken die achtel und sechzehntel Noten wirbelt, setz’ ich ganz gemessen wuchtige viertel dagegen, und gegen Ende der Nummer zieh ich das Tempo an, und als sie den ersten Schrei loslässt, mobilisiere ich meine Reserven und unser Gebrüll fällt exakt in die letzten Takte eines Sambas und kollidiert stilwidrig mit dem Anfang der Frühnachrichten. Aber das stört uns nicht. Etwas später finde ich dann einen Sender, der wieder Musik bringt, und weil Samba eine Musik ist, bei der man den Arsch nicht ruhig halten kann, geht der Tanz von vorne los.

    Am nächsten Tag trennen wir uns. Ein Taxi bringt uns zu meinem Fünfzehndollarhotel, ich will meine Klamotten holen, der Laden ist mir zu blöd und zu teuer. Wir steigen aus, und ich sage: »Adios.«

    Sie guckt mich an mit ihren großen Augen, ganz ausdruckslos, der Regen rinnt über ihr Gesicht, sieht aus, als würde sie schwitzen. Sie lächelt vage, hebt ihre Hand zu einer Geste, die sie nicht vollendet, abgebrochenes »Adios«, sie will etwas sagen, aber sie sagt es nicht und geht. Ich seh’ sie durch den Regen gehen, die Atlantica rauf am Meer entlang, sehr stolz und hochaufgerichtet, und der Wind zerrt an ihrem dünnen Hemd, und ich stehe vor meinem Fünfzehndollarhotel und friere.

    Der Moralist an der Rezeption schenkt mir ein Lächeln, das er bei Jimmy Carter geklaut hat, und als ich meine Klamotten zusammen habe und abmarschieren will, zupft er mich am Gewand und flüstert: »Hast du das ernst gemeint mit dem Job bei VW in Wolfsburg?«

    »Na klar«, sage ich, »aber mir ist was eingefallen. Die nehmen nur Neger.«

    Ich finde eine Art Hotel, das Schild am Eingang weist dieses Etablissement als solches aus, und beziehe ein Vierdollarzimmer. An dem briefmarkengroßen Handtuch neben dem rostigen Wasserhahn machen Flöhe Klimmzüge, und in dem Zimmer unter mir verdrischt ein Typ gerade seine Frau und einige Kinder. Ich schiebe Papiere und Bares in die Hose und mache mich auf die Suche nach einer Kneipe.

    Dass ich mich dabei in Lebensgefahr befinde, ahne ich natürlich nicht, gehe ich doch eine ruhige, gutbürgerliche Straße runter, schöne Bäume zu beiden Seiten, wenig Verkehr, heile Häuser. Aus den geöffneten Fenstern das Geplärr der Fernseher und Radios. Fußball: Brasilien gegen Österreich.

    Ich geh’ ganz friedlich die Straße runter, wie im Traum noch, die kleine Millie will mir nicht aus dem Kopf, morgen werde ich sie suchen. Und dann reißt mich so etwas wie ein schweres Erdbeben aus meinen freundlichen Träumereien. Ein paar Millionen Menschen haben ganz schlicht »TOOOR« geschrien. Jeder so laut er konnte. Und diese hier können laut. Und dann bricht der Krieg aus. Schiere Gewalt, mit »Wahnsinn« nur sehr matt beschrieben, bricht über mich herein, und ich stehe mutterseelenallein auf der Straße und bin dem Zeug, das jetzt aus den Fenstern fliegt, schutzlos ausgeliefert.

    Sicher sind Konfetti, Zeitungsschnitzel, gebündelte Zeitungen, Bücher, Blechdosen und der Abfall von Tagen an sich harmlose Objekte. Treten sie aber in Mengen auf, die den Himmel verdunkeln, begleitet von einigen Tonnen Knallkörpern, die in anderen Ländern nur bei schwersten bewaffneten Auseinandersetzungen benutzt werden und die Bezeichnung »Handgranaten« tragen, steht der harmlose Reisende, ohne Helm und Kampfanzug, doch sehr belämmert da. Ich habe echte Angst, halte mir eine Zeitung über den Schädel und renne in den nächsten, meilenweit entfernten Hauseingang. Mittlerweile haben sie, dem Donnern nach zu urteilen, Granatwerfer und Mörser eingesetzt. Dazwischen glaube ich deutlich das böse Hacken schwerer Maschinenwaffen auszumachen. Darüber das nicht enden wollende Kampfgeschrei Brasiliens. Ein Taxifahrer hat mir schon am Nachmittag gesagt: »Wenn wir heute gewinnen, ist Karneval.«

    Es hatte wie eine Drohung geklungen.

    Es war eine.

    Am Ende der Straße erspähe ich eine Kneipe. Ich renne los, hakenschlagend, jede Deckung ausnutzend. Ein schweres Geschoss zerplatzt direkt vor meinen Füßen, und ich mache einen Satz wie eine hysterische Kuh. Ich weiß jetzt ungefähr, wie ein Soldat sich fühlen muss, wenn ihm klar wird, dass er den schützenden Unterstand wahrscheinlich nicht erreichen wird.

    Ich habe Glück. In der Kneipe sitzen einige Typen mit glasigen Augen und entrückten Gesichtern vor einem Fernseher, aus dem ein ehemaliger Opernsänger bei dem Versuch, das Spiel zu kommentieren, fünfundzwanzig Silben in der Sekunde an die Nation bringt.

    Mein Wunsch nach einem Bier wird mit dem Kampfruf »Roberto« aufs Grimmigste beantwortet. Ich zucke zusammen und schiele schon in Richtung Ausgang. Dieser Roberto ist anscheinend für den Ausnahmezustand verantwortlich, man wird ihm wohl seinen Torschussfuß vergolden und einige Denkmäler setzen. Nach ein paar Bieren habe ich mich ein wenig beruhigt und kann wieder klar sehen. Draußen fallen inzwischen Bomben, aber das ertrage ich jetzt wie ein alter Kämpfer. Und was ich klar sehe, ist eine schöne Überraschung und versöhnt mich sofort mit dem ganzen Terror.

    Sie repräsentiert genau den Typ von Frau, der durch die Träume der einsamen Wanderer geistert, und selbst aus der Distanz sehe ich, überdeutlich fast, die kleinen goldenen Lichter, die sie in der tiefsten Tiefe ihrer dunklen Augen angezündet hat. Und diese Dame mit der olivfarbenen Haut, die sich rein und makellos über hohe Wangenknochen spannt, schenkt mir ein Lächeln. Aber das gilt nicht mir. Ich sehe nach links, rechts, sehe hinter mich. Da sitzt niemand. Dieses Lächelt galt dir, du Idiot. Oder doch nicht? Eine wirklich schöne Frau, die dich anlächelt? Hör auf mit diesem Scheiß, du Schwachkopf, grins zurück. Und der Schwachkopf grinst zurück, und drüben geht wieder die Sonne auf. Ein schwerer Paukenschlag in der Brust, linksseitig. Und noch einer. Trommelwirbel. Jedes Mal diese Aufregung, wird das denn nie anders? Beruhige dich, alter Mann.

    Sie sitzt sechs oder sieben Meter von mir entfernt, hat zwei Freundinnen dabei: Jetzt reden sie über mich. Sechs oder sieben Meter? Kilometer, mein Herr, Kilometer. Sechs oder sieben Kilometer undurchquerbare Wüste, Hitze, kein Wasser, wilde Tiere, faustgroße Moskitos, Dornen, Stacheldraht, Tretminen und Atombomben. Schmeißen sie jetzt schon Atombomben? Dem Krach und den schweren Erschütterungen nach zu schließen, ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Na gut, sterben wir eben im prächtigen Alter von sechsunddreißig Jahren. Aber vorher muss die Sache mit dieser Dame geklärt werden. Und da ist gar keine Wüste und dieser andere Quatsch. Sechs oder sieben Meter eines bürgerlichen Lokals zu durchqueren, ist wirklich keine Heldentat. Aber Schwerarbeit. Die Füße wollen nicht so richtig. Da hängen Gewichte dran, zentnerschwer. Herrje, du scheißt dir noch in die Hose. Was ist denn so besonders an gewissen Frauen? Sie wollen sich doch auch hinlegen, genau wie alle anderen. Sagt mir mein Verstand. Wenn man so einer ganz gewöhnlichen Liese begegnet, ist man gleich munter bei der Sache, und nach einigen Drinks sind die Fronten klar. Aber es gibt Frauen, bei denen kriegt man Schweißausbrüche, wenn sie einen ansehen, und die Kehle ist so trocken, dass man seinen Spruch nicht aufsagen kann. Wie bei einer Prüfung.

    Ich erhebe mich mit aller mir zur Verfügung stehenden Grazie und ohne meinen Stuhl umzuschmeißen, durchquere leichten Schrittes das Lokal, kein Mensch achtet auf mich, bleibe vor dem Tisch der drei Mädels stehen, deute eine leichte europäische Verbeugung an und frage in meinem schönsten Spanisch – hoffentlich verstehen sie mich –, ob ich die Damen auf einen Drink einladen dürfe.

    Meine Schönheit schenkt mir ein strahlendes Lächeln und sagt einen bezaubernden Satz, den ich jetzt, aus dem Gedächtnis, leider nur unvollkommen wiedergeben kann.

    »Oitschgrumoxprdtzschaqximpflipi. Obrigada.«

    Obrigada verstehe ich. Heißt danke. Ich mach’ ein blödes Gesicht, und die Mädels lachen und fordern mich zum Sitzen auf. Erleichtert lasse ich mich neben meiner Angebeteten auf einen Stuhl plumpsen und bedanke mich förmlich für diese nette Einladung.

    »Obrigado, Mesdames.«

    »Bist du Franzose?«, fragt sie in erstklassigem Französisch.

    Schwein gehabt. Diese Dame ist nicht nur schön und mir gewogen, sie spricht auch eine Sprache, in der ich mit ihr palavern kann. Als Fremder hat man sowieso einen Pluspunkt. Man ist der Exot. Und wenn man etwas erzählt, vor allem aus der fernen Heimat, dem Beckenbauer- und VW Land, in dem alles so toll und reich sein soll, dann hat das Gewicht. Man darf ihnen nur nichts von der Scheiße in diesem Land erzählen und von jenen Leuten, die genauso korrupt und hinterhältig sind wie die entsprechenden Leute in anderen Ländern; sie können es nicht verstehen, und sie glauben es nicht. Aber einer schönen Frau zu erzählen, dass es in dem vielgelobten Land auf der anderen Seite der Welt Menschen gibt, die am Rande des Hungertodes – Existenzminimum nennt man das bei uns – dahinvegetieren oder vor den verschlossenen Türen der Krankenhäuser krepieren, ist sowieso Blödsinn, man will sich amüsieren, der Tod ist eine unbekannte Größe, eine düstere Sage, wir sind unsterblich. Und wir amüsieren uns.

    Die Drinks sind gut und billig, und wir kommen langsam in Schwung. Und der Laden beginnt sich zu füllen. Dies ist sicher nicht die Bar, in der Hemingway sagen würde: »Harry, noch einen Gimlet.« Diese in freundliches Neonlicht getauchte Bar ist ein bisschen schmuddelig, äußerst billig und sehr lebendig. Hier lässt keine Mahagonitäfelung Wahnsinnspreise für gepanschten Schweinkram korrekt erscheinen. Alles ist gut beleuchtete, lautere Wahrheit. Und die wunderbare Freundlichkeit der Barkeeper, sehr wohltuend, weil nie servil, überstrahlt mit Leichtigkeit das schneeige Weiß unserer arroganten Tresenherrscher und lässt deren Jacken mit den eingestickten Namen zu welken Putzlappen werden.

    Ich liebe dich, Junge mit den fürchterlichen Zahnlücken, der du, ohne mich betrügen zu wollen, Drinks für Männer einschenkst. Deine Einstellung, die dir ja gar nicht bewusst ist, bringt dich einfach dazu, nicht auf den Eichstrich zu achten, und dein Lächeln lässt mich das starre Grinsen einiger heimatlicher Barschlampen leicht vergessen. Ihr Barmänner mit den schmutzigen Fingernägeln lasst sie gewähren, die Wahnsinnigen, die jetzt hereinbrechen und schreiend und sambatanzend das Eins zu Null über Österreich feiern. Wieder Samba.

    Es hört nicht auf. Sie haben Tränen in den Augen, beglückwünschen sich gegenseitig und liegen sich halbnackt und schweißüberströmt in den Armen.

    Als die erste Prügelei durch den Laden fegt, zieht die Sambaband auf der Terrasse das Tempo an, und meine Damen und ich müssen einige Male in Deckung gehen und den Gerätschaften ausweichen, die da geflogen kommen. Diese Attacken waren aber nicht persönlich gemeint, wir saßen einfach mitten drin und tranken Caipirinha.

    »Lasst uns an die Copacabana gehen«, sagt meine Schöne und drückt mir unter dem Tisch die Hand, »da ist jetzt ordentlich was los.«

    Die hat Nerven.

    Wir finden ein Taxi und auf geht’s. Einige Millionen Autos sind unterwegs, bestens ausgerüstet mit Hupen und Hörnern, wie man sie normalerweise nur auf den großen Überseedampfern findet.

    Aber was ist hier schon normal? Auf jedem dieser Renner liegen vier bis zehn fahnenschwingende Selbstmörder, die großzügig

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