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Mendoza: Roman
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eBook284 Seiten4 Stunden

Mendoza: Roman

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Über dieses E-Book

"Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch
werden in der Welt."
Jean Améry

Der junge Chilene Carlos Mendoza hofft nach grausamen Folterungen in seinem Heimatland, in Frankreich ein neues Leben beginnen zu können. Es fällt ihm schwer, die Albträume und Schmerzen, das Misstrauen und die Angst hinter sich zu lassen. Draußen heulen die Wölfe - Pinochets Arm reicht weit und seine Killer sind auf Mendozas Spur. Für die Kämpfer im Untergrund, Latinos im Exil, ist er nützlich in seiner Hilflosigkeit.
Er wird zur Schachbrettfigur, die Pinochets Gegner unter lückenhafter Deckung für die eigenen Zwecke nutzen und beliebig hin- und herschieben. Mitten in diesen unruhigen Zeiten findet er die Liebe. Mendoza wird all seinen Mut und seine Kraft brauchen, um das Versprechen einzulösen, das er einer Frau gegeben hat. Mit ihr will er in das Land der goldenen Felder reisen - doch draußen heulen die Wölfe!

"Hans Herbst beschreibt anschaulich einfühlsam. Er liebt seine Geschöpfe, und der Leser spürt, dass er sie kennt, spürt die Nähe des Autors zu seinen Figuren." Neue Zürcher Zeitung
SpracheDeutsch
HerausgeberPENDRAGON Verlag
Erscheinungsdatum17. Feb. 2012
ISBN9783865322951
Mendoza: Roman

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    Buchvorschau

    Mendoza - Hans Herbst

    Das Ende der Gangway war irgendwo sehr weit unten, und Mendoza griff nach dem Geländer. Er schloss die Augen, und dann öffnete er sie wieder, schloss sie und öffnete sie, und das Ende der Gangway war jetzt sehr nah. Helles Metall über grauem, nassem Beton. Er ging langsam die Treppe runter. Sein linker Fuß berührte den Beton und dann sein rechter, und er blieb stehen. Die Passagiere drängten an ihm vorbei, einige stießen ihn an und liefen durch den Regen, um in den Bus zu kommen, und Mendoza ließ sie an sich vorbeilaufen, mit dem Regen in seinem Gesicht, und blickte mit müden, entzündeten Augen nach dem seltsamen Gebäude auf der anderen Seite. Er hatte lange nicht geschlafen, im Flugzeug hatte er immer wieder nach Kaffee verlangt, er wollte nicht schlafen, weil er wusste, dass er sich seltsam benimmt im Schlaf, und einige Male hatte die junge, blonde Stewardess ihn besorgt angesehen, und er hatte gelächelt. Der Regen lief ihm über das Gesicht und in den Kragen seiner Nylonjacke, und eine junge Frau kam auf ihn zu und sagte: »Bitte, kommen Sie.« Er verstand sie nicht, ihre Stimme schien ihm aus einiger Entfernung zu kommen. Er hörte sich irgendetwas sagen und folgte ihr lächelnd in den Bus. Für einen kurzen Moment vergaß er die Schmerzen in seinen Hoden.

    In dem Bus war es sehr eng, die Leute standen dicht beieinander, und Mendoza dachte, dass sie seinen Schweiß riechen könnten. Er zog sich zurück gegen die Tür, seine rechte Hand umklammerte einen silbrig glänzenden Haltegriff, der sich warm und glatt und wie Haut anfühlte. In seiner Linken hielt er die kleine Plastikreisetasche. Der Bus rollte fast lautlos über das nasse Flugfeld, das mit seiner spiegelnden Oberfläche aussah wie einer der glatten, kalten Seen in den Anden. Ein See mit Flugzeugen drauf. Wie groß sie sind, dachte Mendoza und sah nach dem Flugzeug, mit dem er gekommen war. Es war auch eine große Maschine, aber nicht ganz so gewaltig wie einige andere, und ihr aufgemalter Name erschien ihm wie ein Versprechen für ein Leben, in dem man frei atmen kann. Air France. Aire Francés. Französische Luft.

    Der Bus beendete seine Fahrt mit einem weichen, kaum wahrnehmbaren Ruck und öffnete mit leisem Zischen seine Türen. Mendoza schlug den Kragen seiner Jacke hoch und trat in den Regen hinaus, der nur zwei Schritte dauerte. Dann war er in einer Tür, hinter der sich ein Gang zeigte. Der Gang war in ein sanftes Licht getaucht, das von nirgendwo kam. Mendoza betrat ein Laufband aus schwarzem Gummi, dessen Geschwindigkeit ihn überraschte, und er musste an die Förderbänder in den Kupferminen denken. Ein Menschenförderband, dachte er. Er stand still und ließ sich vorwärtstragen durch das sanfte Licht, und dabei hörte er Musik, die aus den Wänden oder von der Decke kam, er konnte es nicht feststellen und drehte den Kopf. Vielleicht kam die Musik von hinten. Er blickte in ein Gesicht mit schmalen, dunklen Augen und einem dünnen, gut ausrasierten Bärtchen unter einer Nase, die wie die Nase eines Boxers geformt war. Unter dem Gesicht sah er einen steifen, weißen Kragen und den dunklen Knoten einer Krawatte. Er wandte sich ab und sah wieder nach vorn. Die Musik war jetzt nur noch ein weit entferntes Summen. Ein Chilene oder ein Peruaner, dachte er. Eher ein Chilene. Ein gut gekleideter Chilene. Er hatte ihn im Flugzeug nicht gesehen, er hatte die wenigsten Leute richtig gesehen, nur die blonde Stewardess mit ihrem Lächeln und diesen seltsamen blauen Augen, die ihm sehr nah gewesen waren, wenn sie sich über ihn beugte, um den Kaffee zu servieren. Ein Geschäftsmann, dachte er, und wusste im selben Moment, dass er sich belog. Er wollte nicht denken, was er wirklich dachte. Einige Dinge wollte er nie mehr denken, nicht hier, in Aire Francés, aber er wusste, dass er sie nicht so einfach zurücklassen konnte, wie man seine Katze oder die kleinen Vögel in den Käfigen auf der Veranda zurücklässt. Die Schmerzen in den Hoden waren jetzt sehr stark, er fühlte seinen Nacken kalt und feucht werden, und das schwarze Band trug ihn vorwärts, mit dem boxernasigen, chilenisch aussehenden Mann in seinem Rücken. Hijo de puta, du Sohn einer Hure, dachte er, kriech in die Hure zurück, die dich geboren hat. Er fühlte das bekannte Zittern in den Beinen, das nur sehr schwer zu kontrollieren war, und mitunter verlor er mit dem Zittern auch die Kontrolle über die Schließmuskeln, und es kamen ein paar Tropfen Urin. Mendozas Finger schlossen sich hart um den schwarzen Handlauf, der mit dem Förderband in Hüfthöhe mitlief, und das Zittern hörte auf.

    Ich muss meinen Kopf in Ordnung bringen und darf nicht verrückt spielen, dachte er. Wenn er ein CNI1-Mann ist, haben sie ihn mitgeschickt, um mich zu töten. Aber dann wird er nicht so dumm sein, mir sein Gesicht zu zeigen. Oder haben die anderen Reisenden ihn hinter mich gedrängt? Warum geht er nicht an mir vorbei, alle gehen auf diesem Band. Ich gehe nicht, weil ich müde bin. Oder ist er auch müde? Mendoza sah das Ende des Förderbandes und dahinter, sehr weit entfernt, wie ihm schien, eine Art Halle. Seine Finger lösten sich von dem Handlauf und er begann, langsam zu gehen. Vielleicht holt er auf und geht an mir vorbei, um in meiner Nähe zu sein, dachte er und sah aus den Augenwinkeln nach den Leuten, die eilig an ihm vorbeidrängten. Als das Band Mendoza in die Halle mit der Passkontrolle schob, hatte er den Mann mit der breiten Nase und den schmalen dunklen Augen immer noch in seinem Rücken. Er tastete nach dem Pass in der linken Innen tasche seiner Jacke. Der Pass und das Visum seien in Ordnung, hatte man ihm gesagt, es würde keine Schwierigkeiten geben, und wenn wider Erwarten Probleme auftauchen sollten, müsse er eine der Nummern in dem Dossier anrufen, das man ihm mitgegeben hatte.

    Er ging langsam durch die Halle, ohne sich umzusehen, und reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Hinter sich spürte er Bewegung. Irgendjemand war hinter ihn getreten, sehr nah, wie ihm schien, zu nah, er fühlte, dass es zu nah war. Sie machen es mitunter in aller Öffentlichkeit, Mendoza hatte davon gehört. Man spürt kaum etwas, einen kleinen Druck vielleicht, wie eine zufällige Berührung, und ein paar Stunden später kommt die Müdigkeit und dann der Schlaf, den man nicht mehr aufhalten kann. Mendoza starrte auf den Nacken seines Vordermannes, ein bläulichroter Nacken, der feucht über einen verschwitzten Hemdkragen quoll. Der Nacken bewegte sich von ihm weg, und Mendoza machte einen Schritt nach vorn. Mit der rechten Hand griff er in seine Jacke nach dem Pass, und dabei drehte er den Kopf über die linke Schulter, und aus den Augenwinkeln sah er eine dicke ältere Frau mit einem Kind hinter sich stehen. Er biss sich auf die Unterlippe, dass es schmerzte, und zog den Pass aus der Tasche. Der Pass fühlte sich warm und feucht an. Er öffnete das kleine, in Kunststoff gebundene Heft, wie er es einige Male im Flugzeug geöffnet hatte, um sich die Eintragungen und das Visum anzusehen, aber er hatte nichts entdeckt, das nicht in Ordnung schien. Alles sah offiziell und richtig aus, und am Schluss hatte er sich beruhigt und gedacht, dass alles gutgehen würde. Sie würden ihn durchlassen. Der Mann vor ihm wurde durchgelassen, und Mendoza machte einen Schritt vorwärts, und als er den Pass durch die Öffnung in der Glasscheibe reichte, dachte er gar nichts mehr. Die Geräusche in der großen Halle waren ein dumpfes, unregelmäßiges Klopfen in seinen Ohren, und dahinter war die Stimme dieses blonden Mannes mit dem seltsamen Akzent und den tiefen Falten in dem hellen Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles genehmigt und der Person, die Sie am Flugplatz abholt, können Sie vollkommen vertrauen.« Mendoza hatte genickt und einfach nur »Danke« gesagt. Er hatte viel mehr sagen wollen als »Danke«, etwas über den blonden Mann und seine Arbeit und über die Organisation, die hinter ihm stand, aber seine Stimme hatte ihn im Stich gelassen und sein »Danke« war nicht mehr als ein Flüstern gewesen.

    Der Mann hinter der Glasscheibe war auch blond, aber sein Gesicht war glatt und sehr weiß über der blauen Uniform, und in seinen farblosen Augen war nichts, was Mendoza deuten konnte. Die kurzen, breiten Finger mit den rötlichen Haarbüscheln blätterten sehr langsam jede Seite des Passes um, die Augen tasteten die Eintragungen ab, und als sie bei dem Visum angekommen waren, wurde das Klopfen in Mendozas Ohren lauter, eine große, dumpfe Trommel, wie sie die Indianer in den Bergen benutzten, und er dachte, dass jeder seinen Herzschlag hören könne.

    »Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte er wieder die Stimme, aber sie war jetzt verzerrt und kam wie durch einen defekten Lautsprecher, »es ist alles genehmigt«. Der Mann hinter der Scheibe hob den Kopf und sah Mendoza mit lebloser Aufmerksamkeit ins Gesicht. Die farblosen Augen tasteten sich über dieses hagere Gesicht mit den hohen Wangenknochen und nahmen die dunkle Müdigkeit wahr, die entzündeten Lider, die schmale, gebrochene Nase und den Rest. Mendoza fühlte eine Art Lächeln an seinen Mundwinkeln zerren, und dann kam Leben in die Augen hinter dem Glas, und der blonde Mann gab das Lächeln zurück. Er sagte etwas, das Mendoza nicht verstand, und Mendoza nickte mit dem Kopf und lächelte mit harten steifen Lippen. Er sah, wie die kurzen Finger nach einem Stempel griffen. Als er durch war, lächelte er immer noch, aber merkte es nicht, und als er die Zollkontrolle passieren wollte, machte einer der Beamten eine Handbewegung und Mendoza stellte seine Reisetasche auf einen Metalltisch. Der Mann sagte etwas zu ihm, das er nicht verstand, und zog den Reißverschluss auf. Er entnahm der Tasche zwei Hemden, etwas Unterwäsche, drei Paar Socken, eine Tube Zahnpasta, eine Zahnbürste, einen Kamm, ein kleines Taschenmesser und einen Apfel. Er blickte Mendoza an, untersuchte mit seinen Augen die ganze Gestalt des jungen Mannes, und sagte etwas zu seinem Kollegen. Der nickte und verschwand durch eine Tür im Hintergrund. Ein paar Leute standen neben Mendoza und warteten, und er spürte ihre Ungeduld und sah ihre großen Koffer. Er senkte den Kopf und starrte auf seine Füße. Als er wieder aufblickte, öffnete sich die Tür im Hintergrund. Der Beamte kam zurück und führte einen Hund an der Leine. Mendoza sah, dass es ein mittelgroßer Hund mit wachen braunen Augen war, der von dem Beamten in seine Richtung dirigiert wurde. Nein, dachte Mendoza, das nicht, das kann nicht sein, und er fühlte Übelkeit aus dem Magen aufsteigen. Er schlug die Zähne hart aufeinander, um es zu unterdrücken, und dann umkreiste ihn der Hund und kam näher, beroch ihn von allen Seiten und er hob beide Hände und flüsterte »no, no, por favor, no«, und hinter sich hörte er jemanden lachen. »Kein Rauschgift,« sagte der Mann zu seinem Kollegen und entfernte sich mit dem Hund. Mendoza verstand nicht, was hier geschah, und als man ihm die Reise tasche gab, sagte er »Gracias,« und ein dünnes Lächeln mühte sich in seine verspannten Züge. Er merkte, dass er schwitzte, und ging eilig weiter und das Lächeln verließ langsam sein dunkles Gesicht. Aire Francés, dachte er, und das war alles, was ihm in den Kopf kam.

    Er blieb stehen und atmete die neue Luft. Die Leute gingen an ihm vorbei, und einige sahen ihn neugierig an, ihn, der nicht ging, einfach nur stand, atmete, tief atmete, einen mittelgroßen, jungen Mann mit eckigen Schultern unter einer blauen Nylonjacke, die ihm ein paar Nummern zu groß war. Mendozas Gedanken wurden klar, und er dachte: »Er muss noch irgendwo hinter mir sein.« Dabei blickte er sich um und sah den Mann mit der eingedrückten Nase die Zollkontrolle passieren. CNI-Mann, dachte er, wenn du ein CNI bist, wünsche ich dir und allen, die von deinem Blut sind, einen langsamen, einsamen Tod. Der Mann ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, und Mendoza atmete sein Rasierwasser und seinen Schweiß. Er blickte ihm nach und sah die breiten Schultern, die zum guten Teil von einem chilenischen Schneider stammten, er kannte diese Anzüge, er war Männern begegnet, die sie trugen, und er sah den Gang, der das Selbstbewusstsein gutgenährter Chilenen ausdrückte. Das glänzende, glattgekämmte Haar kräuselte sich im Nacken, und die schwarzen Schuhe spiegelten die Hand des Schuhputzjungen, 200 pesos das Paar. Ich habe dich gesehen und werde dich nicht mehr vergessen, dachte Mendoza, ich werde keinen von denen vergessen, die ich in den letzten neun Monaten gesehen habe. Und die ich nicht gesehen habe, erkenne ich an ihren Stimmen. Du musst auf Katzenpfoten gehen und von hinten schießen, wenn du mich töten willst.

    Das glattgekämmte Haar verschwand in der Menge, und Mendoza ging langsam auf den Ausgang zu. Neben ihm ging die dicke ältere Frau mit dem Kind an der Hand. Das Kind sagte etwas zu der Frau in einer Sprache, die Mendoza nicht verstand, mit einer hellen, aufgeregten Stimme, und die Frau antwortete knapp und mit einer Andeutung von Ärger. Mendoza verstand nichts von dem Gesagten, aber er erkannte die Sprache, und etwas regte sich in seinem Inneren. Seine Bauchdecke vibrierte, und dann vibrierten seine Knie, und ein paar Tropfen Urin lösten sich und liefen langsam an seinem linken Bein herunter. Die Frau hatte deutsch gesprochen. Mendoza blieb stehen und drückte die linke Hand gegen seinen Magen. In seinem Mund waren das Brennen von Säure, die aus seinem Magen hochstieg, und der Geschmack von Bittermandeln. Nicht jetzt, dachte er. Und: Ich habe mich bepisst. Er schluckte runter, was in seinem Mund war, hart und schmerzhaft, und atmete langsam und tief durch die Nase. Das Vibrieren hörte auf. Ich hab mich bepisst, dachte er wieder und senkte den Kopf. Die Stelle zwischen seinen Beinen war trocken. Kein Fleck. Deutsch, dachte er. Er wischte mit einem Jackenärmel über sein Gesicht und ging langsam weiter. Die Feuchtigkeit an seinem Bein verlor sich in den Narben an der Innenseite seines linken Oberschenkels. Er war froh, dass er eine weite Hose aus dunklem Leinen trug. Pisser müssen weite Hosen tragen, dachte er und fühlte eine Müdigkeit, wie er sie noch nie gefühlt hatte.

    Er ging durch eine Glastür, die sich automatisch vor ihm öffnete. Hinter der Tür standen Menschen mit verwischten Gesichtern, einige trugen Blumen in den Händen, und Mendoza sah ein paar rote und gelbe und lila Flecken. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, und das Bild wurde klar. Eines der Gesichter löste sich von den anderen und näherte sich ihm. Es war lang und schmal, mit harten Linien um den Mund, und erinnerte Mendoza an ein Pferd.

    »Señor Mendoza?«

    Mendoza nickte. Ein Lächeln machte den Mund weich und legte Zähne frei, die wie Plastik aussahen. Der Mann reichte Mendoza eine lange weiße Hand.

    »Herzlich willkommen.«

    Die Hand fühlte sich weich und trocken an.

    »Danke, Señor.«

    »Ich heiße Luis Ortega und arbeite für eine Organisation, die ›CIMADE‹2 heißt. Ich werde Ihnen später alles genau erklären. Sie müssen mü de sein nach der langen Reise.«

    Ein Argentinier, dachte Mendoza.

    »Es geht«, sagte er, »es gibt Schlimmeres.«

    Der »CIMADE«-Mann nahm ihm seine Reisetasche ab und führte ihn, sich seinem Schritt anpassend, aus der Ankunftshalle des Flughafens Charles-de-Gaulle.

    Das Land war flach, mit abgeernteten Feldern zu beiden Seiten der Straße und dunklen Hügeln, die sich in einem unscharfen Horizont verloren. Durch einige Felder zogen sich niedrige Mauern aus grauem Feldstein, und die Erde sah durch tiefe Reifenspuren, die sich mit Wasser gefüllt hatten, wie verwundet aus. Mendoza hatte sich Frankreich anders vorgestellt. In seiner Vorstellung war das Land immer grün und hügelig gewesen, mit einer milden Sonne an einem weiß-blauen Himmel, über den sehr langsam vereinzelte Wattewolken segelten. Er hatte nicht geglaubt, dass die Wolken hier dunkelgrau und schwarz tief über dem Land hängen könnten. Nicht in Frankreich. Es regnete jetzt sehr stark, und der Argentinier saß bequem zurückgelehnt und fuhr den kleinen Wagen mit mäßiger Geschwindigkeit. Er fuhr immer sehr ruhig, wenn er einen abholte, er wusste, wie sie sich fühlten und wollte sie nicht nervös machen. Der Mann, der ihn vor sechs Jahren abgeholt hatte, war auch sehr ruhig gefahren, das hatte er nie vergessen. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er Mendoza, der still, mit kleinen Augen nach vorn in den Regen starrte. »Danke«, sagte Mendoza, »gut«. Der Argentinier sah ihn kurz von der Seite an und konzentrierte sich dann wieder auf die schnurgerade, nasse Straße. Er wusste, was dieser Chilene jetzt dachte, sie dachten alle das gleiche, und alle hatten sie Angst. Er hatte auch Angst gehabt, damals vor sechs Jahren, und mitunter dauerte es sehr lange, bis diese Angst ganz verschwand und man nur noch mit den Demütigungen und dem Heimweh zurechtkommen musste.

    »Was denken Sie?« fragte er, ohne Mendoza anzusehen. Mendoza ließ eine Art leises Lachen hören.

    »Dass ich jetzt ein Exilchilene bin. Und dass ich die Sprache nicht spreche. Ohne Sprache ist man tot. Ist sie schwer zu erlernen?«

    »Keine Sorge.« Ortega wusste, dass er jetzt Optimismus verbreiten musste. »Sie ist der unseren sehr ähnlich, und Sie werden gleich einen Kursus absolvieren, und in ein paar Wochen reden Sie wie ein Franzose.«

    »Wie sind die Franzosen?«

    »Unterschiedlich. Die aus dem Süden sind ein bisschen wie wir Lateinamerikaner. Die in Paris sind eine Rasse für sich. Ziemlich grob, aber man weiß, woran man ist.«

    Und Ortega begann von Paris zu sprechen, seiner Stadt, wie er sagte, er hatte sich mit ihr arrangiert, und wenn man erstmal die Regeln kannte – er sagte nicht, dass es Dschungelregeln waren –, komme man ganz gut klar. Probleme gebe es auch hier, aber das sei in allen Großstädten so, und ein Kerl, der seinen Kopf und seine Hände zu benutzen verstehe, würde schon zurechtkommen. Und seine Organisation, die »CIMADE«, würde ihm, Mendoza, in jeder Weise behilflich sein. Sie hatte schon viele Emigranten betreut, und man werde ihn auch bei dem ganzen Behördenkram unterstützen. Wenn wir Zeit und genug Leute haben, dachte Ortega. Von den Warteräumen – »Sie werden aufgerufen« –, von den Vier- und Fünf- und Sechsbettzimmern, die er mit Männern teilen würde, die nicht schlafen konnten, von der Schwarzarbeit für Kleingeld und ein paar anderen Din gen sagte Ortega nichts.

    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, »heute nacht werden Sie bei mir schlafen, und morgen bringe ich Sie in ihr Quartier und arrangiere alles für Sie.« Er drehte den Kopf, um Mendoza zuzulächeln. Mendoza schlief.

    Der Chilene schlief noch, als sie Paris erreichten, und er sah nicht, dass die Stadt ganz anders war, als er sich vorgestellt hatte. Paris hatte er sich immer sehr farbig, aber auch sehr elegant und vergnügt vorgestellt. Und intelligent. Die Menschen hier waren von allen Europäern sicher die intelligentesten, studierte und sehr gebildete Kulturmenschen. Das, und die Sache mit der Eleganz, hatte ihm Kopfschmerzen gemacht von dem Tag an, als er erfuhr, dass er nach Paris kommen würde, und bei der Abreise, auf dem Flugplatz von Santiago, hatte er sich in einer Glastür gespiegelt und die weite Leinenhose und die zu große Nylonjacke gesehen, unter der die Schultern scharf und eckig hervortraten. Zu Hause hatte er zwei sehr elegante Anzüge besessen, einen eigenen und den von seinem Bruder. Sein Bruder war im Sommer 1978 nach einer Gewerkschaftsversammlung festgenommen und nach Santiago gebracht worden. Danach hatte der Anzug ihm gehört. Sie waren beide von gleicher Größe und Statur gewesen. An den Sonntagen war er auf die Plaza Mayor gegangen, um in den Bars Kaffee und ein paar Schnäpse zu trinken und in einem sehr eleganten Anzug an seinen Bruder zu denken.

    Ortega tippte ein paarmal behutsam gegen das Bremspedal und brachte den Wagen zum Stehen. Die Rue Volta war wie ein Graben in der nassen Dämmerung, und vor dem Haus lag ein Araber in einem Wintermantel und lächelte ein Lächeln, das ganz ihm gehörte. Ortega zog den Zündschlüssel aus dem Schloss, und es wurde sehr still in der engen Straße. Ein Mädchen mit kurzen blonden Haaren lief schnell durch den Regen und hielt sich dabei eine Zeitung über den Kopf. Ortega sah dickliche Beine über den Gehsteig stampfen, und er dachte an die große schlanke Frau in Buenos Aires, der man am Schluss nicht erlaubt hatte, ihn zum Flugplatz zu begleiten. Er blickte nach rechts, auf Mendoza. Der Chilene schlief mit geöffnetem Mund, und Ortega sah, dass ihm ein paar Backenzähne fehlten. Die Mundwinkel zuckten, und Schweiß lief über das dunkle Gesicht, und an der Halsschlagader sah Ortega, dass der Puls sehr schnell ging. Er wusste, dass der Chilene träumte, und er ahnte, wovon er träumte. Behutsam fasste er Mendoza an der Schulter.

    »Amigo«, sagte er leise.

    Mendozas Zähne schlugen hart aufeinander, und er warf sich zur Seite und stieß mit dem Kopf gegen die Tür. »Amigo«, sagte Ortega wieder, »amigo Mendoza, amigo«. Mendoza hustete ein paarmal gegen das Seitenfenster, und dann lag

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