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Glanz und Schatten: Erzählungen
Glanz und Schatten: Erzählungen
Glanz und Schatten: Erzählungen
eBook118 Seiten52 Minuten

Glanz und Schatten: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Nach der Kriminalgeschichte "Simeliberg" kommen Michael Fehrs Texte diesmal "im Schwarm": In 18 Erzählungen führt der Autor virtuos vor, welch überwältigende Sprach- und Klangbilder eine Literatur hervorbringen kann, die kompositorische Prinzipien wie Repetition und Variation in unterschiedlicher Strenge anwendet.

Im Zentrum der Erzählungen stehen Menschen, Tiere, Orte und Gegenstände, die eine Metamorphose erfahren. Ihrem Charakter, ihrem Bewusstsein, ihren Beziehungen oder ihrer physischen Gestalt widerfahren existenzielle Wandel: Ein Rebhuhn wird nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen, eine wilde Studentin fantasiert ihr zukünftiges Leben zwischen Ekstase und Ruhe, der Teufel langweilt sich auf der Welt. Ein Mann kämpft mit einem Mückenschwarm, ein Mann und eine Frau kümmern sich in ihrem Häuslein um nichts und niemand, oder der Architekt des Turmes zu Babel sieht seinen Traum in sich zusammenfallen.

Immer zeigt sich in Fehrs Sprachwerken im Handfesten das Filigrane, im Zarten das Gewaltige, im Schatten der Glanz - und selten ist man sich sicher, was Schein ist, was Sein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2017
ISBN9783038530404
Glanz und Schatten: Erzählungen
Autor

Michael Fehr

Michael Fehr war Professor und Leiter des Instituts für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin und von 1987 bis 2005 Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums der Stadt Hagen.

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    Glanz und Schatten - Michael Fehr

    DIE KÖNIGIN IM WALD

    Ein alter Mann hat im Wald Beeren und Nüsse gesammelt

    er trägt sie in einem Korb durch den Wald nach Hause

    Als er an der Lichtung ankommt

    auf der sein Haus steht

    sieht er vor der Tür eine Schlange im Gras liegen

    «Was machst du vor meiner Tür

    Schlange»

    fragt er sie

    die Schlange antwortet

    «Ich bin die Königin im Wald und warte auf dich

    Alter

    wenn du ins Haus gehen willst

    werde ich dich zu Tode beissen und anschliessend fressen

    wenn du fliehen willst

    dann werde ich dich auch zu Tode beissen und anschliessend fressen

    wenn du bleiben willst

    wo du stehst

    dann werde ich warten

    bis du verhungert bist

    du wirst von selber sterben und anschliessend werde ich dich fressen»

    der Mann hat unterdessen erkannt

    dass die Schlange zu einer Art gehört

    die in der ganzen Gegend für ihren tödlichen und besonders schmerzhaften Biss bekannt ist

    «Ich fürchte deinen giftigen Biss

    Schlange

    deshalb setze ich mich am liebsten

    wo ich bin

    auf den Boden und warte

    bis ich verhungert bin

    aber schau

    ich habe noch diese Beeren und Nüsse in meinem Korb

    was soll ich damit tun»

    «Iss sie ruhig»

    versetzt die Schlange

    «vielleicht wirst du schön fett davon»

    «Das glaube ich nicht

    ich habe nie anders ausgesehen als jetzt

    im Alter werde ich kaum noch fett werden

    aber essen werde ich die Beeren und Nüsse trotzdem gern»

    der alte Mann nimmt eine Hand voll aus dem Korb und schiebt einzelne davon mit Daumen und Zeigefinger in den Mund

    kauend richtet er sich an die Schlange

    «Wenn dies schon meine letzte Mahlzeit sein soll

    dann möchte ich mich wenigstens noch ein bisschen unterhalten

    sag mir

    Schlange

    wie kommst du dazu

    mich fressen zu wollen

    du hast gesehen

    ich bin alt und mager und bestimmt kein Leckerbissen»

    die Schlange reckt ihren Kopf hoch

    «Siehst du nicht

    wie gross ich bin

    um einen solchen Körper zu erhalten

    muss ich nehmen

    was ich kriegen kann

    wenn ich im Wald einem Tier begegne

    fresse ich dieses

    wenn ich auf einer Lichtung an einem Haus vorbeikomme

    fresse ich eben dessen Bewohner

    das ist doch ganz einfach»

    «Ach

    ich verstehe»

    sagt der alte Mann

    «so hältst du es

    ja

    jetzt sehe ich es

    du bist gross

    riesig sogar

    und dazu bist du auch noch schön

    deine Schuppen glänzen wie edelstes Metall

    nur nicht so hart

    im Gegenteil

    sie glänzen geschmeidig

    mir kommt es vor

    als wäre jede ein einzelner Tautropfen

    der das Morgenlicht in grünen und braunen Farben spiegelt»

    die Schlange windet und dreht sich

    sie streckt ihre Zunge heraus

    «Ja

    du hast es bemerkt

    ich bin nicht nur gross

    ich bin auch schön

    hast du dir auch meine Augen angeschaut

    sie sind gelb wie das Innerste eines Vogeleis und dazwischen

    ein schmaler

    tiefer Abgrund

    so dunkel ist das Schwarze meiner Augen»

    der alte Mann reisst die Augen auf

    «Nein

    das ist mir noch nicht aufgefallen

    aber du hast recht

    deine Augen sind wunderschön

    und auch deine Zunge ist schön

    fein und spitz und genau in der Mitte gespalten»

    «Ich weiss

    auch meine Zunge ist schön»

    sagt die Schlange

    «Als ich jüngst zum ersten Mal in den See im Wald tauchen wollte

    um mir einen Fisch zu fangen

    habe ich mein Spiegelbild gesehen und darin meine Schönheit erkannt

    ich bin bis zur Mitte des Sees geschwommen und habe mich dort auf einem Seerosenblatt so lange gewunden

    bis mein Schwanz fein darauf zusammengerollt war und mein Kopf wie eine Blüte herausstach

    ich habe in den Wald gerufen

    ‹Seht mich an

    ich bin die Königin im Wald›

    da zwitscherte frech ein Vogel von einem hohen Baum

    ‹Wie führst du dich denn auf

    Grösse und Schönheit machen noch lange keine Königin aus

    beweise zuerst

    dass du auch stark bist›

    ich schwamm vom Seerosenblatt zurück ans Ufer und biss in einen umgestürzten Baum

    zwei tiefe Löcher hinterliessen meine Zähne im Holz

    der Vogel segelte aus seiner Krone herab auf den niedrigsten Ast

    um sich zu vergewissern

    wie tief die Löcher waren

    und er bewunderte

    wie scharf und glatt die Zähne in das Holz eingedrungen waren

    er hatte meine Stärke erkannt und war bereit zu glauben

    dass ich die Königin im Wald bin

    da gesellte sich ein zweiter Vogel von derselben kleinen

    vorwitzigen Sorte neben den ersten auf den Ast und schrie

    ‹Wer weiss

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