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Welten - das Erwachen
Welten - das Erwachen
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eBook482 Seiten7 Stunden

Welten - das Erwachen

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Über dieses E-Book

Astrid ist eine ganz normale Frau mit einem gewöhnlichem Leben. Doch als sie dem stressigen Alltag den Rücken kehrt und mit ihrer Freundin einen Urlaub antritt, schein alles um sie herum auf einmal verrückt zu spielen. Seltsame Wesen auf einer anderen Welt tauchen plötzlich auf. Sie selbst erkennt sich kaum wieder, bis sie endlich entdeckt, dass sie etwas ganz Besonderes.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum4. Sept. 2019
ISBN9783750200500

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    Buchvorschau

    Welten - das Erwachen - Dagmar Dietl

    Prolog

    Es raschelt hinter mir. Mit einem Ruck fahre ich herum. Hektisch, beinahe panisch suche ich nach der Ursache des Geräuschs. Ein erdrückendes Gefühl überrollt mich und ich kann nichts dagegen tun. Was ist da? Wer war da? Ich bleibe stehen und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Das gibt es doch nicht, was verfolgt mich da? Ich starre ins Gebüsch, dorthin, woher das Rascheln kam, und hoffe auf irgendeine Erklärung oder Entdeckung - vielleicht ein Fuchs auf Futtersuche… Warte auf die Auflösung meiner Angst und die Normalisierung meiner Atemfrequenz. Langsam wird mein Atem tatsächlich ruhiger, aber das Adrenalin kreist immer noch in meinen Adern. Ich kämpfe gegen den Wunsch, einfach wegzurennen. Nur einen Augenblick später entscheide ich mich dafür, weiter zu gehen. Ab und an werfe ich einen Blick hinter mich, immer noch aus dem Gefühl heraus, verfolgt

    zu werden. Und immer wieder kommen diese Ohnmachtsgefühle auf.

    Was, wenn es das ist, was ich gesucht habe, und es sich nicht gut anfühlt?

    Ich atme tief, sauge die Düfte der Natur ein und versuche realistisch zu denken. Wie friedlich alles sein kann! Unter mir knirschen die Schottersteine des Weges, die Sonne schickt ihre warmen Strahlen über mein Gesicht. Alles ist still. Langsam kehrt die Ruhe wieder ein.

    Und dann plötzlich: Stechende Schmerzen auf meinem Rücken, meinem Hals und auch am Kopf bringen mich ins Taumeln. Ich wanke, mein Gesichtsfeld verengt sich. Schwarze Wolken legen sich um meinen Kopf. Ich kann den Weg vor mir kaum noch erkennen, immer stärkere Schmerzen werden mir zugefügt. Der Ohnmacht nahe stürze ich. Mein Gesicht schlägt hart auf dem Asphalt auf. Ich krümme mich am Boden, winde mich, will weg hier. Ich sehe nur noch grinsende Fratzen vor mir. Von geisterhaften Figuren, die hässlicher sind als alles, was ich bisher gesehen habe. Sie kreischen, lachen mich aus, sie holen aus und stoßen mir ihre scharfen Krallen wieder und wieder ins Fleisch. Mit jedem Schlag scheint die Kraft in ihren dürren, hässlichen Armen zuzunehmen.

    Mein Blut strömt aus unzähligen Wunden und mit ihm verrinnt jeglicher Fluchtgedanke in mir. Mit jeder Sekunde schwindet meine Lebensenergie. Ich habe keine Kraft, kann nicht mehr denken, nicht mehr atmen.

    Doch mit einem Mal ist jeder Schmerz verflogen. Ich höre noch das kreischende Lachen der Monster. Im nächsten Augenblick sehe ich sie über mir in der Luft hängen. Sie krallen sich aneinander fest und scheinen sich über ihre brutale Tat zu freuen. Ich stehe neben meinem blutigen Körper, der am Boden liegt, und spüre nur noch unendliche Wut.

    Nein, so kommt ihr mir nicht davon. Dafür werdet ihr mir büßen!

    Kapitel 1

    „Mama, kommst du endlich? Ich muss zum Volleyball!", ruft Sina aus dem Flur. Sekunden später steht meine 15-jährige Tochter mit gepackter Sport-tasche vor mir. Oje, Sinas Training! Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Wie ausgeblendet sind meine letzten Minuten, wie so oft in letzter Zeit. Ich sitze am Esstisch, vor mir eine leere Kaffeetasse. Schon wieder spüre ich diese Unruhe in mir. Wieso bin ich so unzufrieden mit meinem Leben? Es ist doch perfekt! Ich versuche meine wirren Gedanken zu sortieren und mich auf meine Mutterpflichten zu konzentrieren.

    Ich habe zwei Kinder, Sina und Raphael. Beide gesund, beide mehr oder minder gut erzogen. Na gut, Raphael gehört mit seinen 13 Jahren und seiner beginnenden Pubertät eher in die Kategorie „minder gut erzogen. Genauer gesagt, widersetzt er sich meinen Erziehungs-versuchen vehement. Er ist faul, stinkfaul! Schulisch eine Katastrophe, nichts macht er von selbst. Letztes Jahr musste er die Realschule verlassen und auf die Mittelschule wechseln. Er hatte sich, abgesehen von seinen mageren Leistungen, vom Direktor auf der Schultoilette beim Rauchen erwischen lassen und war, um das Ganze zu toppen, auf der Klassenfahrt dem Lehrer betrunken in die Arme gelaufen. Wenn ich ihn zur Rede stelle, kommen Antworten, auf die ich keine Erwiderung weiß: „Ich habe keine Lust auf Schule! Ich werde mal Disc-Jockey und reich damit. Dann können mich alle mal! Damit ist jedes Gespräch für ihn erledigt. Seine Freunde sind leider vom selben Schlag. Ich weiß nicht, was ich bei ihm falsch gemacht habe.

    Ich war immer für ihn da und er hat alles, was er braucht. Ich habe das Gefühl, als wolle er mir meine letzte Energie rauben. Seine Handlungen sind ein permanenter Protest gegen alles, was für ihn gut wäre, und er stürzt sich mit Begeisterung und Vollgas in Situationen, die schlecht für ihn sind.

    Sina muss deshalb oft zurückstehen, vor allem was meine Zeit und Aufmerksamkeit angeht. Zu oft. Raphael bringt mich zum Verzweifeln, manchmal auch zum Weinen. Er kostet mich mehr Kraft, als ich in meinem Alltag aufbringen kann. Mir fehlt einfach der innere Antrieb.

    Sina steht immer noch mit ihrer Tasche vor mir und wartet. Ihr leises „Mama? reißt mich erneut aus meinen Gedanken. Sina ist ein bildhübsches junges Mädchen. Sie kommt nach ihrem Vater, was die Figur, die Ausstrahlung und auch die Beliebtheit angeht. Sie ist inzwischen bestimmt zehn Zentimeter größer als ich – ich habe sie schon lange nicht mehr gemessen –, hat blonde Haare, ein gleichmäßiges Gesicht, einen rosigen Teint und strahlend blaue Augen. „Mama, jetzt bitte! Ich hasse es, zu spät zu kommen. Das weißt du genau!

    Ihr mahnender Tonfall scheucht mich vom Stuhl. Sie ist so pflichtbewusst! Je älter Sina wird, desto mehr merke ich, dass sie alles hat, was ich in ihrem Alter gerne gehabt hätte. Sie ist sportlich, gut aussehend und kommt mit ihrem Charme überall gut an.

    Zwei Minuten später sitzen wir in meinem alten grünen Kombi und sind auf dem Weg zur Sporthalle. Sina trainiert im Verein zweimal pro Woche und zusätzlich hat ihr Team während der Saison mindestens ein Spiel pro Wochenende. Vor großen Turnieren muss durchaus viermal in der Woche trainiert werden. In meiner sogenannten Freizeit betätige ich mich als Mama-Taxi. Ich bringe die Kinder in das besagte Volleyballtraining, zu Freunden, in die Stadt, zum Klavierunterricht, zum Reiten und stehe für sonstige Fahrten bereit. Ich fahre zwar gerne Auto, aber an manchen Tagen kommen locker 100 Kilometer zusammen, nur für dieses Hin- und Herkutschieren, von der dafür verwendeten Zeit gar nicht zu reden. Allerdings würde ich mich über ein „Danke" auch mal freuen. Aber, um Enttäuschungen zu vermeiden, stelle ich mich darauf gar nicht erst ein. Vielleicht werden Sina und Raphael später einmal erkennen, was ihre Mutter alles geleistet hat – vermutlich dann, wenn sie selbst Kinder haben, die überall hingefahren werden wollen.

    Kurz nach sieben treffen wir am Vereinsgebäude ein und natürlich sind wir zu spät dran und natürlich

    bin wieder einmal ich schuld. Was mir eine Schimpfkanonade meiner Teenie-Tochter beschert: „Jetzt muss ich wieder Strafrunden laufen. Mama, du weißt, wie ich das hasse!"

    Ja, das weiß ich.

    Was ich nicht weiß, ist, warum mir mein Alltag mit jedem Tag schwerer fällt. Ich stammle ein „Es tut mir leid! und schiebe pflichtbewusst „Soll ich mit reinkommen? nach, in der Hoffnung, dass meine Tochter mein halbherziges Angebot nicht annimmt. Ich habe Glück. Sie klatscht mir ein „Bloß nicht, dass schaffe ich alleine!" hin, knallt die Autotür zu und rauscht davon.

    Ich sitze noch eine Weile wie betäubt im Auto. Tränen rinnen mir übers Gesicht.

    Sina führt mir, übrigens wie mein Mann Phil ebenso, ständig meine Schwächen vor Augen, auch wenn ich sicher bin, dass beide das nicht beabsichtigen. Unter ihren Augen schrumpft mein Selbstwertgefühl ins Nichts, ich fühle mich klein und vollkommen unfähig. Und dann immer diese Black-Outs, wie eben noch am Esstisch. Einfach weg, meine Gedanken. Es ist beunruhigend.

    Ich starte den Motor meines Autos und streiche fast zärtlich über das abgegriffene Lederlenkrad meines alten Volvos. Schon oft hat mein Mann mir angeboten, ein neues Auto zu bestellen. Phil arbeitet bei Audi, hier in Ingolstadt. Natürlich sähe er gerne, dass auch ich einen Audi fahren würde. Ihm ist mein alter Kombi peinlich. Die Frau eines Angestellten in gehobener Position fährt keine uralte Karre einer Fremdmarke, und dann auch noch in einem Signalgrün, das vor sechzehn Jahren einmal modern gewesen ist! Ich verstehe ihn, bin aber mit meinem alten Auto zufrieden. Nein, ich möchte es nicht ersetzen, es hängen so viele Erinnerungen daran.

    Auf dem Rückweg nach Hause hole ich noch Raphael bei seinen Freunden ab und werde dafür noch nicht einmal mit einem Blick belohnt. Er lässt sich in den Beifahrersitz fallen und starrt während der gesamten Fahrt stumm auf sein Handy. Vermutlich würde er mit einem fremden Busfahrer eher plaudern. Seine Selbstverständlichkeit lässt in mir wieder diese Wut und Hilflosigkeit aufsteigen. Während ich darauf warte, dass sich das automatische Garagentor öffnet, steigt er wortlos aus und geht zum Haus. Warum setzt du dich nicht durch? Warum erträgst du seine Rücksichtslosigkeit und Unhöflichkeit?      

    Das sind Fragen, die ich mir oft stelle, und auf die ich keine Antwort weiß. Als wäre ich irgendwie blockiert.

    Als ich zur Haustür hereinkomme, ist Raphael längst in seinem Zimmer verschwunden.       

    Unsere Hündin Leila springt freudig an mir hoch.

    „Du bist aber auch wirklich die Einzige, die sich über meine Anwesenheit freut!"

    Leila ist meine treue Begleiterin. Ihr Blick wirkt oft menschlicher, als all die Blicke der Leute um mich herum, und ihre Anteilnahme ist echter. Leila ist acht Jahre alt, wir haben sie von einer Tierschutz-organisation. Sie ist definitiv keine Schönheit: schwarz-braun gestromt, kurze Beine, langer Körper und langer Schwanz. Aber ihr Gesicht ist wundervoll. Ihr Blick zeigt mir täglich, dass sie mich liebt und braucht. Meine Kinder brauchen mich auch, das weiß ich, aber für sie bin ich eher nützlich als ein Ziel der Zuneigung. Zum Glück hat sich Leila im Zwinger damals uns ausgesucht. Oder vielleicht eher mich. Sie ist langsam auf uns zugekommen, hat uns umkreist. Während alle anderen Hunde uns freudig begrüßt und beschnuppert haben, hat Leila mich still aus der Ferne beobachtet. Kurz bevor wir uns für einen Golden-Retriever-Mischling entscheiden wollten, hat sie sich direkt neben mein rechtes Bein gestellt und ihren Kopf an mein Knie gelehnt. Ganz ruhig und entspannt hat sie gewirkt. Mir ist sofort ein kühler, aber angenehmer Schauer über den Rücken gelaufen. Ich hatte augenblicklich das Gefühl, diesen Hund schon lange zu kennen, und habe zugleich beschlossen: Das ist mein Hund! Gegen den Willen meiner Familie habe ich Leila aus dem Tierheim geholt.

    „Die ist doch hässlich", hat Sina damals gemeckert.

    Und da ich mich damals im Alleingang für diesen Hund entschieden habe, darf ich mich nun auch ganz alleine um ihn kümmern. Zumindest ist das die faule Ausrede meiner Kinder, wenn ich sie bitte, mit Leila Gassi zu gehen. Das Maximum an Hilfe, das ich erwarten kann, ist, dass sie die Terrassentür öffnen und den Hund in den Garten lassen – und selbst das nur unter Protest und Augenrollen.

    Der Name Leila gefällt mir eigentlich nicht. Ich habe ihn aber nicht geändert, wahrscheinlich aus Trägheit und weil ich über diesen Hund nicht weiter nachdenken wollte. Leila tröstet mich oft, wenn ich – wieder einmal – alleine und nervös bin. Im Moment kommt das immer häufiger vor, da meine Kinder inzwischen lieber mit Freunden abhängen, chillen oder zocken. Auch mein Mann kommt selten vor acht Uhr nach Hause und ist selbst dann nur körperlich anwesend. Leila legt ihren Kopf auf meine Oberschenkel, setzt ihren magischen Blick auf und sofort spüre ich eine innere Ruhe.

    Ihre Art und ihr Wesen erinnern mich stark an meine Katze aus meiner Kindheit. Mimi hat auch eine solche Wirkung gehabt. Sie hieß Mimi, weil ich als kleines Mädchen „Miezi" nicht aussprechen konnte. Mimi schlief bei mir, half mir über Alpträume hinweg, bewahrte mich vor Monstern unter dem Bett und tauchte immer dann auf, wenn ich besonders traurig war.

    Bei Leila ist es ähnlich. Sie hat mich sogar schon mehr-mals vor dummen oder sogar gefährlichen Situationen bewahrt. Wenn ich Phil von ihren Fähigkeiten erzähle, sagt er nur: „Du spinnst."

    Tja, mein Mann ist zu rational, um an so etwas zu glauben. Zum Beispiel wollte ich Sina vom Reiten abholen und war, wie immer, in Eile. Ich rannte aus der Haustüre, doch Leila blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Ich rief sie und wollte schon schimpfen, weil sie nicht gehorchte, doch dann fiel mir auf, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte! Ohne sie wäre ich ausgesperrt gewesen.

    Ein anderes Mal hatte ich Leila an der Leine und war auf dem Weg zum Bäcker. Gerade als ich meinen Fuß vom Gehweg auf die Straße setzen wollte, riss Leila an der Leine und zerrte mich damit zurück. Noch im selben Moment raste ein Motorrad an uns vorbei. Wäre ich auf der Straße gewesen, hätte mich das Motorrad erfasst.

    Daher ist Leila für mich ein ganz besonderer Hund und bedeutet mir unendlich viel: Sie ist eine ruhende Säule in meinem Leben. Ich bücke mich, umfasse ihr liebes Gesicht mit beiden Händen und drücke meine Wange an sie. Bei dem Gedanken, sie könnte irgendwann einmal nicht mehr an meiner Seite sein, laufen mir jetzt schon die Tränen über die Wangen.

    In dem Moment höre ich das vertraute Geräusch des Schlüssels im Türschloss: Mein Mann kommt nach Hause. Mit einem Ruck fahre ich hoch, weil ich mich nicht bei Zärtlichkeiten mit dem Hund erwischen lassen will. Andererseits sieht es jetzt so aus, als hätte ich auf Phil gewartet, was irgendwie auch stimmt.

    Ich warte ständig auf etwas oder jemanden. Ich warte darauf, dass die Magie der Liebe wieder in unsere Ehe Einzug hält. Ich warte darauf, dass Phil Interesse an seiner Familie zeigt, sich mehr einbringt. Ich warte darauf, dass er für mich da ist und meine Entscheidungen mitträgt. Ich warte, immer.

    „Astrid, möchtest du etwas von mir?"

    Phil schaut mich im Vorbeigehen prüfend an.

    Ja!, schießt es mir durch den Kopf, aber ich weiß nicht, was. Selten nennt mich mein Mann „Schatz, „Liebling oder nutzt einen anderen Kosenamen für mich. Ich bin immer nur Astrid. Ich mag diesen Namen nicht, mochte ihn noch nie. Er klingt so altbacken, dabei bin ich in der Generation der coolen Namen geboren. Meine Klassenkameradinnen hießen Melanie, Michaela, Stefanie, Julia oder Sandra. Alles schöne Namen, weich, weiblich, meist auf „a" endend, aber meine Eltern mussten mich Astrid nennen, nach meiner Großmutter. Ich mochte meine Großmutter, den Namen mag ich trotzdem nicht.

    Phil hat sich bereits sein Jackett und seine Schuhe aus-gezogen und ist in die Küche vorausgegangen. Ich stehe immer noch im Flur und schaue auf Leila hinunter. „Komm, Leila! Schauen wir, ob Phil etwas braucht!"

    Natürlich braucht Phil nichts, eher brauche ich etwas.

    Phil ist bereits dabei, das Mittagessen in der Mikrowelle warm zu machen, und sortiert seine mitgebrachten Akten auf der Küchentheke. Gleich wird er, wie immer, in sein Arbeitszimmer verschwinden oder, wenn ich Glück habe, setzt er sich mit der Tageszeitung vor den Fernseher und schaut gleichzeitig die Nachrichten. Wie er das macht, ist mir ein Rätsel. Ich könnte mich nur auf eines konzentrieren.

    Phil sieht mich prüfend an.

    „War wieder etwas mit Raph?", fragt er.

    Eigentlich ist jeden Tag „etwas mit Raph". Entweder kommt er nicht zur verabredeten Zeit nach Hause, hat wieder eine schlechte Note in irgendeiner Prüfung, riecht nach Rauch oder ist einfach nur unverschämt. Das gehört zum Alltag mit Raphael. Sobald ich an meinen Sohn denke, zieht sich alles in mir zusammen. Wenn Raphael vor mir steht, atmet er Wut und Hass förmlich aus. Er sagt auch durchaus häufig zu mir, dass er mich hasst.

    Ich wollte immer nur ein Kind haben. Bei einem Kind muss man nicht vergleichen und man muss seine Liebe nicht aufteilen, niemand wird benachteiligt. Phil wollte aber unbedingt noch ein zweites Kind, einen Jungen. Und, wie gewünscht, ist es auch ein Junge geworden. Manchmal denke ich mir, ich hätte mich durchsetzen sollen. Mein Leben wäre heute um einiges sorgenfreier. Doch dann wische ich die Gedanken wieder beiseite. Astrid, was bist du für eine Rabenmutter! Als ich mit Sina schwanger gewesen bin, ist es mir schon ab der dritten Schwangerschaftswoche sehr schlecht gegangen. Da wusste ich noch nicht einmal, dass ich schwanger war. Übelkeit, Erbrechen – bis hin zum Klinikaufenthalt. Mir war neun Monate lang übel. Insgesamt habe ich nur sieben Kilogramm zugenommen. Ich solle mehr essen, rieten mir die Ärzte und fragten, ob ich denn rauchen würde, weil Sina bei der Geburt so klein war. Nein, ich rauchte nicht, ich konnte nur kein Essen bei mir behalten. Dass darunter auch das Ungeborene zu leiden hat, ist naheliegend. Während der Schwangerschaft durfte ich mir vonseiten der Ärzte tolle Ratschläge anhören:

    Ich solle mich nicht so haben, das ginge vorbei, spätestens bei der Geburt. Ja, es ging vorbei – und danach kam die Wochenbett-Depression. Eine Bindung zu Sina konnte ich anfangs gar nicht aufbauen. Erst nach und nach entwickelten sich Muttergefühle. Als alles langsam zur Ruhe kam und ich anfing, Freude an meiner Kleinen zu empfinden, kündigte sich Raphael bereits an.

    Verständlicherweise hatte ich Angst vor der erneuten Schwangerschaft, aber die war vollkommen unbe-gründet. Was folgte, war eine Bilderbuchschwanger-schaft, abgesehen von 25 Kilogramm Gewichts-zunahme, wovon ich immer noch 15 Kilogramm mit mir herumschleppe. Ich bekomme das Gewicht einfach nicht mehr weg.

    Raph war als Baby eher ruhig, freundlich und lachte ständig – ein echter Sonnenschein. Ganz im Gegensatz zu Sina: Sie weinte viel, fremdelte extrem und war sehr verschlossen. Wie sich das Blatt wenden kann!

    Phil hat meine Antwort nicht abgewartet und sich vor den Fernseher gesetzt. Eine große Hilfe habe ich von ihm auch nicht erwartet. „Du machst das schon" höre ich immer, wenn es um die Erziehung unserer Kinder geht. Er hält sich aus allen Familienangelegenheiten raus und ich fühle mich mit den Aufgaben sowohl alleine gelassen als auch überfordert. Sogar zu seiner eigenen Mutter fährt er nicht mit. Meine Schwiegermutter erwartet, dass wir bei ihr einmal in der Woche auftauchen. Aber da weder Phil noch die Kinder diesem Wunsch nachkommen, absolviere ich diese Besuche alleine, wenn auch extrem ungern. Meine Schwiegermutter stichelt, beleidigt, droht und redet jedem ein schlechtes Gewissen ein. Manchmal schafft sie das alles sogar mit nur einem Satz. Ich hole mir jede Woche einen Schwung negative Gefühle und Stim-mungen ab und frage mich jedes Mal, warum ich mir das immer wieder antue. Von Liebe und Herzlichkeit ist bei ihr keine Spur - kein Wunder, dass mein Mann sich emotional aus allem raushält. Das war seine Taktik, um zuhause zu überleben, denke ich. Phil redet nicht viel über seine Jugend. Wenn Mutter und Sohn doch einmal aufeinandertreffen, kann ich Phils Ablehnung und Verachtung seiner Mutter gegenüber förmlich greifen. Er ist zwar höflich distanziert, wie man das so schön nennt, mehr aber auch nicht. Doch genau dieses Verhalten prägt leider auch unseren Alltag – wie jetzt, wenn ich gerne über meinen Tag reden würde, Phil aber nicht. Wir sprechen sogar so wenig miteinander, dass ich nicht einmal genau weiß, was er bei Audi macht.

    Ich stehe in der Küche und starre auf die Mikrowellentür, die Phil einfach offengelassen hat, als wäre er mitsamt seinem Teller vor mir geflohen. Auf dem Küchentresen liegt ein Aktenordner mit der Aufschrift Audit. Was immer das auch ist. Gedankenversunken putze ich die Mikrowelle und schiebe seine Unterlagen genauso beiseite, wie meine Gedanken über seine Arbeit. Leila ist mir in die Küche gefolgt und beobachtet mein Schaffen. Mich erdrückt die Stimmung und ich überlege laut: „Sollen wir noch eine Runde raus gehen?"

    Leila wedelt, aber das tut sie immer, wenn ich sie an-spreche. Im Flur schnappe ich mir Leilas Halsband und die Leine, ziehe Schuhe an und werfe eine Jacke über. Dann rufe ich ins Wohnzimmer: „Bin mit Leila draußen!" Ich weiß, dass Phil mich gehört hat, bekomme aber keine Antwort.

    Im Gegensatz zu allen anderen Familienmitgliedern freut sich Leila, dass ich Zeit mit ihr verbringe. Vor der Haustür atme ich tief die vorherbstlich kühle Luft ein, als könne ich die verschlafene Ruhe des Vororts in mir aufsaugen. Wir haben uns damals ganz bewusst für den Hauskauf in Kösching entschieden – der Kinder wegen. Ich bin stolz auf unser Häuschen, auch wenn es nicht das Schickste ist. Aber es ist unser eigenes Reich. Leila zieht mich an der Leine in Richtung Gartentüre, an meinen Rosen vorbei.       

    Ja, ihr braucht auch noch euren Herbstschnitt.

    Ich mache das, versprochen!

    Unser Garten ist meine Oase der Erholung. Ich bin gerne draußen, gerne in der Natur, liebe es, mich mit Pflanzen zu beschäftigen. Die Natur gibt mir die Energie und Kraft zurück, welche ich in meinem Alltag so vermisse. Genauso gerne bin ich mit Leila unterwegs, wobei mir unser Wohnort schon wieder zu beengend erscheint. Viele Menschen, Bauten, Autos und die Umgebung sehr bekannt. Diese Gedanken habe ich immer, wenn ich unser 70er-Jahre-Häuschen verlasse. Wenn ich, so wie jetzt, mit Leila durch die Nebenstraßen gehe, entgleiten meine Gedanken immer an fremde Plätze, in ferne Länder. Ich träume vom Reisen, von Abenteuern und Entdeckungen, immer getrieben von meiner inneren Unruhe. Ich habe das Gefühl, etwas zu suchen. Ich weiß nicht, was es ist, weiß aber genau, dass ich es hier zu Hause nicht finden kann. Wenn ich in Gedanken verloren bin, passiert es schon mal, dass aus unserer kurzen Spazierrunde ein dreistündiger Ausflug wird und ich umherstreife wie ein streunender Kater.

    Heute sollte mir das besser nicht passieren, denn sonst bekomme ich Ärger mit Sina. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass ich noch eine dreiviertel Stunde Zeit habe. Ich entscheide mich für unsere kurze Runde. Leila kennt unsere Strecken auswendig, somit muss ich nicht allzu sehr auf sie achten.

    Meine Gedanken schweifen erneut ab. Ich bemühe mich, beim Gassigehen nicht an mein Alltagsgeschäft und die damit verbundenen Sorgen zu denken. Das habe ich mir und Leila versprochen! Die Zeit mit meinem Hund ist meine Zeit.

    Nach ein paar Minuten bleibt Leila vor einem mit Efeu überwucherten Haus stehen, wie immer auf dieser Runde. Das Haus gehört Frau Wagerle. Die ältere Dame ist ein Lichtblick in meinem Job bei der Bank. Sie ist 75, Witwe, ihr Mann ist bereits 1998 gestorben. Am ersten Werktag des Monats holt sie ihre Rente in bar bei mir ab. „Damit ich das Geld in der Hand habe", sagt sie dann immer lächelnd. Frau Wagerle ist etwas Besonderes. Sie hat nicht viel Geld, wie ich weiß, aber ist immer freundlich und glüht förmlich vor Menschenliebe.

    Das ist bei den wenigsten meiner Kunden der Fall. Bei manchen habe ich das Gefühl, ich blicke ins abgrundtiefe Böse. Bei anderen, durchaus auch bei solchen, die gut betucht sind, sehe ich tiefste Traurigkeit. Trotzdem immer wieder die Fragen nach noch mehr Geld, Zinsen und Gewinn. Wieso gibt es nur so viele Menschen, mit deren Lebenseinstellung und Auffassung von Zufriedenheit ich nicht zurecht-komme? Ich bin selbst nicht zufrieden mit mir. Vielleicht ist es ja nur Frust über mein eigenes Leben und der Versuch, mit der Suche nach Fehlern bei anderen von meiner eigenen Armseligkeit abzulenken? Diese Frage stelle ich mir oft. Dann fühle ich mich noch mieser.

    Sehr oft passiert es mir, dass mich die Gefühle meiner Mitmenschen erdrücken. Phil sagt dazu nur, ich solle sie doch nicht so an mich heranlassen. Wenn das so einfach wäre! Ich sehe in die Gesichter der Menschen vor meinem Schalter und es kommt mir vor, als würde ich bis auf den Boden ihrer Seelen sehen. Das ist nahezu unmöglich abzustellen, ganz besonders bei negativen Gefühlen. Ich habe den Eindruck, dass ich die Alltagslasten anderer Menschen förmlich anziehe.       

    Bei Frau Wagerle ist das anders. Ihr Gesicht strahlt, es spendet mir irgendwie Energie und Wärme, anstatt sie zu rauben. Vor einiger Zeit hat sie ihre Hand auf meine gelegt, ist mit ihrem freundlichen, faltigen Gesicht ganz nah an mein Ohr herangekommen und hat geflüstert: „Wissen’s, Frau Wittmann, Sie sind etwas ganz Beson-deres. Das wird Ihnen bald bewusst werden."

    Sie hat langsam gesprochen und immer wieder Pausen gemacht, geradezu, als würde sie etwas ganz Wichtiges sagen oder etwas heraufbeschwören wollen. Als sie ihre Hand auf meiner Hand ablegte, kribbelte es warm auf meinem Handrücken. Ihre Worte hatten für mich solch eine beruhigende Macht. Wertschätzung und Achtung sind nicht so häufig in meinem Beruf, ebenso wenig in meinem Privatleben. Daher wiederhole ich ihre Worte hin und wieder und stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn Frau Wagerle Recht behalten würde.

    Inzwischen ist es dunkel geworden. Leila und ich stehen immer noch vor Frau Wagerles Haus. Im Licht des Fensters taucht die zierliche, gebückte Gestalt der älteren Dame auf. Sie stützt sich auf die Fensterbank, winkt mir zu und sofort fühle ich mich nicht mehr so wertlos. Ich lächle und winke freudig zurück, wie ein kleines Kind, das eben Süßigkeiten geschenkt bekommen hat.

    Das geschieht fast jeden Tag. Und immer, wenn wir vor

    dem Haus stehen bleiben, schaut Frau Wagerle aus dem Fenster und winkt. Fast magisch sind diese winzigen Lichtblickmomente in meinem Leben.

    In dem Moment fällt mir siedend heiß Sina ein. Ich rufe nach meinem Hund.

    „Komm, Leila, wir schauen morgen wieder nach Frau Wagerle!" Dabei weiß ich genau, dass Frau Wagerle wohl eher nach uns schaut.

    Kapitel 2

    Die Herbstferien der Kinder kommen mit großen Schritten auf uns zu und ich würde – wieder einmal – gerne verreisen Raus aus diesem Alltag und weg von den Verpflichtungen, die mich so belasten. Wieder einmal möchte ich suchen, was ich dann doch nicht finden kann, weil ich nicht weiß, wonach ich eigentlich suche. Also erwähne ich im abendlichen Kurzgespräch mit Phil die Urlaubsplanung, in der Hoffnung, dass er mir zumindest so lange zuhört, bis wir ein passendes Urlaubsziel gefunden haben. Vermutlich wird es wieder mir überlassen bleiben, wo wir hinfahren. Ich bin sehr wählerisch, habe oft Kritik an Urlaubsorten, den Unterkünften und an der Art der Anreise, deshalb überlässt Phil mir normalerweise die Auswahl. Aber seine Zustimmung möchte ich trotzdem gerne haben.

    Pünktlich um acht schneit Phil zur Tür herein. Er hängt sein Jackett fein säuberlich im Flur auf den Butler und betritt die Küche. Ohne hinzusehen kann ich jedes Geräusch seinen vertrauten Bewegungen und Hand-griffen zuordnen, könnte die Sätze, die jetzt folgen werden, mit hundertprozentiger Sicherheit voraus-sagen.

    „Hallo, Schatz!"

    Und los geht’s! Ein kurzer Schmatz auf die Wange, väterlich, so als würde er seine Kinder begrüßen. Ein kurzes „Was gibt’s?", nachdem er seinen Blick über den Herd schweifen ließ, auf der Suche nach dem übrig gebliebenen Mittagessen. Immerhin schätzt Phil meine Kochkünste. Natürlich ist noch etwas übrig, weil die Kinder „keinen Hunger" haben und den lieber mit irgendeinem Fast Food stillen. Das ist cooler!

    Etwas zu kochen, das allen schmeckt und bekommt, ist

    in meiner Familie eine logistische Meisterleistung, kombiniert mit einer seherischen Gabe. Phil muss auf Cholesterin und Fett achten. Er ist nicht übergewichtig, aber der Stress in seiner Arbeit hat ihm in der Vergangenheit bereits ein Vorhofflimmern beschert. Er sollte sich mehr bewegen, aber das schafft er zeitlich nicht. Zumindest achtet er auf sein Essen, sein Abendbierchen lässt er sich aber nicht nehmen. Am Wochenende setzen wir uns ab und an aufs Fahrrad oder Phil begleitet mich bei einer Runde mit dem Hund. Für alles darüber hinaus ist er zu erschöpft. Er hat schon lange keine geregelten Arbeitszeiten mehr. Häufig arbeitet er mehr als 50 Stunden in der Woche und nimmt sich, wenn es nicht reicht, Arbeit mit nach Hause, um am Wochenende „mal drüber zu schauen". Das bedeutet, dass er sich stundenlang in seinem Büro verschanzt und nur zu den Mahlzeiten auftaucht.

    Raphael hätte gern nur Fleisch auf seinem Teller und dann bitte Filet oder Rindersteak. Burger, Pizza, Pommes oder Chips isst er zur Not auch. Gemüse taugt seines Erachtens nur zur Dekoration. Von Cola und Spezi konnte ich ihn abbringen, wenigstens zu Hause – ich habe einfach keines mehr gekauft. Er hat Übergewicht, was ihm angeblich egal ist. Wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nur ahnen. Seine Aggressionen lassen aber darauf schließen, dass er überhaupt nicht mit sich zurechtkommt. Helfen lassen möchte er sich aber auch nicht. Und schon gar nicht von mir.

    Sina dagegen ist eine militante Veganerin und würde am liebsten mit uns Fleischessern nicht einmal am gleichen Tisch sitzen. Zwinge ich sie dazu, führt dies unweigerlich zu einem flammenden, hochemotionalen Vortrag über Massentierhaltung und Tierquälerei, unterstützt durch die Vorführung grausamer Handyvideos. Sie hat sich von ihrem Taschengeld ein privates Pfannen- und Topfset für die Zubereitung ihrer Speisen gekauft, damit diese auf keinen Fall mit unseren „Sündenpfuhl-Lebensmitteln in Berührung kommen. Die Töpfe trägt sie nach dem Abwaschen in ihr Zimmer – zur Sicherheit. Dort lagern auch ihr Privatbesteck- und -geschirr sowie vegane Aufstriche. Sogar einen privaten Kühlschrank musste Phil ihr kaufen. Ein „Bitte, bitte, bitte! Daaaad! genügte, damit mein Mann mit ihr zum Elektrogroßhandel fuhr.

    Sinas konsequenter Veganismus ist natürlich für Raphael das sprichwörtliche „gefundene Fressen", wenn es darum geht, einen Streit mit der großen Schwester zu provozieren. Raphael reizt Sina bis aufs Messer, im wahrsten Sinne des Wortes. Er verwendet ihr Geschirr bevorzugt für seine Wurstbrote, die er dann vor ihren Augen dekorativ zerkleinert. Sinas darauffolgendes Geschrei ist seine Belohnung für die böse Tat. Ich kann Sina verstehen: Raphael ist einfach ein Meister der Provokation.

    Na ja, und ich versuche seit der letzten Geburt mein Gewicht zu reduzieren.

    Die Kombination der diversen Zubereitungsvarianten ist daher eine echte Herausforderung. Ich mache mir Gedanken über Kalorien, die Wünsche meiner Familie und achte penibel auf die Vorgaben von Sinas Topf- und Kochwahnsinn. Außerdem koche ich jeden Tag frisch, wenn ich von der Arbeit und dem anschließenden Einkaufen nach Hause komme. Meine beste Freundin Anne rät mir schon lange, ich solle mit „diesem Theater" aufhören. Ich hoffe aber immer noch inständig, dass ich so meine Lieben alle wieder an einen Tisch bekomme oder wenigstens einmal am Wochenende zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Ist es nicht meine Aufgabe als Hausfrau und Mutter zu kochen? Meine Schwiegermutter sieht das auf jeden Fall so. Sie erweckt ohnehin den Anschein, in allem perfekt zu sein, und teilt mir ihre Anschauung auch immer wieder gerne mit.

    „Schau, was aus meinen beiden Söhnen geworden ist! Phil ist bei Audi unentbehrlich und über sein Gehalt kannst du dich nicht beschweren!"

    Nein, kann ich tatsächlich nicht. Aber was nützt es uns,

    wenn wir keine Zeit haben, in der wir das Geld miteinander ausgeben können und Phil permanent seine Gesundheit gefährdet? Diese Argumentation interessiert meine Schwiegermutter nicht, obwohl sie das sollte. Er ist schließlich ihr Sohn! Die Sorgen um Phil trage ich ganz alleine. Ich wüsste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, wäre er nicht mehr da. Ich „schmeiße" zwar unsere Familie, aber er gibt mir dafür den Halt und das Vertrauen.

    „Und Thomas ist Richter am Oberlandesgericht in München."

    Das betont meine Schwiegermutter dann immer so, als wäre ich zu blöd, das Wort Oberlandesgericht zu verstehen, oder wüsste nicht, wie bedeutend die Landeshauptstadt Bayerns ist. Diese Sätze höre ich seit 18 Jahren, ab dem Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal Phils Mutter getroffen habe.

    „Ich bin Frau Wittmann, Therese Wittmann. Da wir uns nun häufiger sehen werden, darfst du mich Therese nennen!"

    Diesen Satz habe ich, mit all den Betonungen und Pausen, immer noch im Ohr. Von oben herab, arrogant und selbstverliebt.

    Ich bin damals noch in meiner Ausbildung zur Bank-kauffrau gewesen. Für alle coolen Ausbildungsplätze war mein Notendurchschnitt von 2,3 schlicht und ergreifend zu schlecht. Therese musterte mich von oben bis unten und fragte mich nach all meinen Vorlieben und Hobbys, Haushalts- und Kochkünsten aus. Wie ich Wäsche wasche, wie ich bügle, welche Gerichte ich zubereiten kann. Es hätte mir auffallen müssen, in welche Familie ich da einheirate. Aber ich war jung, verliebt und trug immer die Worte meines Vaters spazieren: „Dein Mann muss erst noch gebacken werden." Mein Vater war der Ansicht, dass meine Ansprüche an meinen Zukünftigen viel zu hoch wären. Er kam aus der Nachkriegszeit, vertrat das damals typische Frauenrollenbild. Ich dagegen war ein Kind der BRAVO-Generation, mit ständig neuer Schwär-merei für ein Boy-Band-Mitglied. Die Träume für mein Leben setzten sich zusammen aus Karriere machen, aufregende Orte erleben, ein schickes Auto besitzen und emanzipiert durchs Leben schreiten. Dann traf ich im Leichtathletik-Verein auf Phil, den Mädchen-schwarm: groß, sportlich, schlank, muskulös. Phil war dort der Lokalmatador und das Ziel der Begierde aller nicht vergebenen Frauen unter 25, wahrscheinlich auch darüber. Alleine sein Name war für damalige Verhält-nisse ausgefallen. Kein Mensch sonst hieß Phil. Schließlich war das englisch und daher exotisch. Dieser Name war die Idee seines Vaters gewesen, der lange in England gelebt hatte. Er wollte seinem Kind mit diesem Namen etwas Besonderes mitgeben.

    Phil war von sich selbst und seinen Erfolgen bei der Weiblichkeit eingenommen und ignorierte mich völlig. Es war aber auch nicht schwer, mich zu übersehen. Ich war klein und „zaundürr, hatte daher keinerlei Attribute der Weiblichkeit zu bieten. Außerdem trug ich einen faden Haarschnitt, eine nichtssagende, fahlgraue Haarfarbe, und machte eine Ausbildung im langweiligsten Beruf, den man sich, meiner damaligen Meinung nach, vorstellen kann. Außerdem scheiterte ich meist schon an einem vernünftigen Bewerbungs-bild. Ich sah einfach langweilig aus. Hatte ich es einmal bis zu einem Vorstellungsgespräch geschafft, bekam ich meinen Mund nicht auf. Nein, selbstbewusst war ich noch nie und Sprüche meines Vaters, wie „Frauen gehören an den Herd förderten mein Selbst-bewusstsein auch nicht gerade.

    Meine Mutter hingegen hatte immer für eine ordentliche Ausbildung plädiert. Sie war aber auch eine andere Generation, 21 Jahre jünger als mein Vater. Meine Mutter ist mir auch heute noch eine große Stütze. Als mein Vater 2002 an Lungenkrebs gestorben ist, war meine Mutter gerade einmal 45. Mein Vater hat mir durch seine guten Beziehungen als Vorstand einer Bank zu einem Praktikum in meiner jetzigen Arbeitsstelle verholfen, wo ich nach meiner Ausbildung auch geblieben bin.

    Meine Mutter muss nicht arbeiten, da sie finanziell

    gut abgesichert ist. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie sehr selbstbewusst geworden, unternehmungslustig und sozial stark engagiert. Es kommt mir so vor, als ob sie sich noch einmal neu erfunden hat. „Noch ein Mann kommt mir nicht ins Haus" ist ihre Devise. Meine Mutter ist liebevoll, hat Humor, kann Situationen sehr schnell richtig einschätzen, findet immer die passenden Worte und weiß, wann ich eine Umarmung bitter nötig habe. Sie ist mein großes Vorbild. Sie holt mich auch immer wieder aus meinem Trott und Frust. Wir gehen dann ins Café, zusammen einkaufen oder machen kurze Ausflüge. Ohne meine Mutter würde ich im Alltag ertrinken. Auch die Kinder lieben ihre Oma, weil sie immer ein offenes Ohr für sie hat.

    Meine Mama sagt mir immer wieder, dass ich eines Tages meinen Weg finden werde, und macht mir damit Mut.

    Oh Mama, danke für diese Worte. Du weißt gar nicht, wie gut sie mir tun. Realistisch betrachtet sieht es nicht ganz so rosig aus. Ich bin mittlerweile 35, die Jugendträume sind ausgeträumt, und ich kann außer dem Weg in die Waschküche und zum Supermarkt nichts erkennen, was die Bezeichnung mein Weg verdient hätte.

    Als junges Mädchen war ich also weder schön noch sportlich oder besonders gut in der Schule, unterer Durchschnitt, nach meiner eigenen Beurteilung. Dass man sich, besonders als weiblicher Teenager, selbst aburteilt, gehört wohl mit zum Erwachsenwerden. Nur bei mir ist das miese Selbstbewusstsein erhalten geblieben.

    Rückblickend wundere ich mich deshalb über mein erstes Zusammentreffen mit Phil. Das war auf der Kartbahn, auf der ein Sechs-Stunden-Rennen veranstaltet wurde, mit einer parallel stattfindenden großen Party. Da pro Gruppe immer eine Frau und zwei Männer fahren mussten und meine Freundin sich hartnäckig weigerte, saß ich ein paar Minuten später zum ersten Mal in einem Kart. Ich fuhr und anscheinend machte ich meine Sache gut, vor allem immer besser. Meine Teammitglieder feuerten mich an. Ich fand Gefallen am Kartfahren, fuhr über drei Stunden und verschaffte unserem Team einen riesigen Vorsprung. Wir wurden Zweiter.

    Mein erster Pokal! Das erste Mal Respekt und Anerkennung von einer größeren Menge Menschen. Plötzlich nahmen mich die Jungs wahr, weil ich ja so cool gefahren war.

    Phils Team wurde nur Dritter. Er sprach mich zum ersten Mal an, obwohl wir im gleichen Leichtathletik-Verein waren, gratulierte mir förmlich und fragte nach meinem Namen. Das war mein erster Schritt aus dem Schatten meines Vaters. Phil lud mich an diesem Abend auf eine Cola

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