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Ausnahmezustand
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eBook351 Seiten4 Stunden

Ausnahmezustand

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Über dieses E-Book

Mit fast dreißig Jahren ist Wilfried Wolters noch Jungfrau – lebt obendrein auf dem Land und ist ans Haus gefesselt sein, weil die eigene Mutter ein Pflegefall ist – Norman Bates lässt grüßen!
In unmittelbarer Nähe lebt Jan Grewe, ein Familienvater mit drei Kindern, sportlich, gutaussehend und geil – der Traum seiner erotischen Phantasien.
Er erwacht aus seinen Träumen, als er von der größten Klatschtante des Dorfes erfährt, dass sein Favorit sich offenbar von der Ehefrau getrennt hat und nun mit einem jungen Mann zusammen ist. Voller Eifersucht nimmt Wilfried sich vor, sein Leben grundlegend zu verändern mit dem Ziel, eines Tages der Partner von Jan zu sein. Der verhasste Nebenbuhler muss weg. Notfalls mit Gewalt. Wilfried stellt fest: er besitzt mörderisches Potential …
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum18. Feb. 2011
ISBN9783863610166
Ausnahmezustand

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    Buchvorschau

    Ausnahmezustand - Nick Zachries

    Ausnahmezustand 

    Manchmal denke ich, wenn mich Oma damals nicht beim Wichsen erwischt hätte, wäre alles anders und bestimmt auch besser gelaufen.

    In jenem fatalen Augenblick nämlich zerbrachen ihre Illusionen, die sie sich über mich gemacht hatte und unser bis dato inniges Verhältnis war ab diesem Zeitpunkt vollkommen gestört. Es hat sich nie wieder einrenken lassen. Alle meine Versuche, die alte Vertrauensbasis erneut herzustellen, scheiterten. In ihren Augen war ich genauso wie ihre Tochter, die sie verachtete: Auf niedrige Instinkte reduziert. Dabei hatte sie so große Stücke auf mich gehalten und geglaubt, ich sei etwas Besseres.

    Ach, Oma, warum hast du nicht auch weiterhin an mich geglaubt?

    Allerdings frage ich mich in letzter Zeit mehr und mehr, ob ich selbst noch an mich glauben kann. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, dann frage ich mich: Was für eine Chance habe ich? Gibt es für mich überhaupt eine Möglichkeit, etwas zu verändern?

    Kennen Sie das auch? Dieses lähmende Gefühl, auf der Stelle zu treten ? Nur Sie allein, während alles um Sie herum summt und brummt vor reger Betriebsamkeit?

    Heute ist es besonders schlimm. Die Luft riecht nach Frühling, obwohl es Anfang September ist. Wie komm ich darauf? Und wie riecht eigentlich Frühling? Können Jahreszeiten Gerüche verbreiten? Wohl kaum. Es sind Erinnerungsfetzen an warme Sommerabende mit Düften, wie sie nur an lauen Sommerabenden zustande kommen, die uns das Gefühl geben, den Sommer riechen zu können. Nachbarn, die grillen oder das Aroma frischer Erdbeeren, in der Mittagssonne noch warm gepflückt und gleich gegessen mit erdigem Beigeschmack. Frisch gemähtes Gras.

    Wie aber riecht der Frühling? In meiner Erinnerung riecht er nach Essig oder Ajax oder Sidolin streifenfrei. Oma hat immer wie wild geputzt im Frühling. Jeder Schrank wurde vorgezogen und der gefundene Dreck mit konzentriertem Ernst und halblaut gemurmelten Kommentaren oder auch Flüchen energisch beseitigt.

    Ich flüchtete dann gern in den Garten und verzog mich auf meinen Lieblingsplatz im alten Fliederbaum. Ein Ast war dem Erdboden sehr nahe und darauf konnte ich sitzen. Abwarten, bis sie fertig war. Vorher durfte ich doch nicht ins Haus. Ich hätte wieder einmal alles schmutzig gemacht.

    Ich höre das Schreien der unterschiedlichsten Vögel. Möwen, Wildgänse oder Krähen und wie dieses Getier noch so heißen mag. Das Amselgezeter kann selbst ich wissensloser Ignorant deutlich heraushören.

    Alle sind in Aufbruchstimmung, nur für mich geht alles weiter wie bisher. Oder?

    Was ist denn heute mit mir los? Warum diese Gedanken auf einmal, die mir das Herz klopfen lassen als hätte ich besorgniserregende Rhythmusstörungen? Oder gar Vorhofflimmern? Ob ein Herzinfarktkandidat merkt, wenn es ihn ereilt? Ob er sich denkt: ach herrjeh, das ist es jetzt gewesen! Hätt ich nur die Zeit besser genutzt und was aus meinem Leben gemacht! Und laufen dann vor seinem geistigen Auge noch einmal all die Lebensstationen ab, die er nicht vergessen hat? All die kleinen Peinlichkeiten womöglich oder auch die versiebten Gelegenheiten? Dann zuckt er noch einmal und denkt: hätte ich dem hübschen KFZ-Mechaniker doch nur gesagt, dass ich nur seinetwegen in die Werkstatt komme, dass ich an ihn denke, wenn ich abends ins Bett gehe und morgens die Augen aufschlage! Dann noch ein letzter Seufzer und es ist aus. Und der Autospezialist hat nie was erfahren und ist schockiert, wenn er vom Tod seines Lieblingskunden hört. Spinne ich? Was geht mir bloß im Kopf herum? Irgendwas liegt in der Luft, ich spüre es ganz deutlich.

    Die Realität reißt mich aus meiner seltsamen Stimmung. Sie ruft. Mutter. Mit ihrer zittrigen Stimme ruft sie nach mir. Normalerweise ist diese Stimme sehr durchdringend und fest, aber sobald sie nach mir ruft, wird sie brüchig und verursacht mir Gewissenspein. Ich habe das Haus verlassen, wähnte sie im Tiefschlaf. Sie schläft immer um diese Zeit, aber sobald ich etwas tue, was außerhalb der Norm liegt, scheint sie es mit sicherem Instinkt zu bemerken. Ob sie es riechen kann? Rieche ich anders, wenn ich vorhabe, das Haus zu verlassen? Wittert sie es im Tiefschlaf oder ahnt sie es bereits vorher? Verrate ich mich durch fahrige Bewegungen, wenn ich ihr den Tee hinstelle? Sieht sie es in meinem Gesichtsausdruck? Ist mein Blick unstet oder lasse ich allzu oft die Lider über die Augen schnellen? Bin ich anders, wenn ich daran denke, das Haus zu verlassen? Eine schaurige Vorstellung, wenn ich mir überlege, dass sie über solche Antennen und Sensoren verfügen könnte.

    Seit jenem traumatischen Erlebnis mit Oma habe ich mich nie wieder getraut, am Tage auch nur daran zu denken. Also gönne ich es mir jede Nacht. Jede Nacht um drei Uhr wache ich auf, als hätte mein innerer Wecker geklingelt. Dann setze ich mich auf und stopfe mir das Kissen in den Rücken, schlage die Decke zurück, entledige mich meiner Unterhose und ... denke anschließend in Ruhe nach. Über das Leben, wie es sein wird, wenn sie mich nicht mehr ruft. Wenn sie keine Forderungen mehr stellt und ich den Tag zur freien Verfügung habe. Wenn es soweit ist, dann ... eigentlich weiß ich gar nicht, was dann sein wird. Die Ungeheuerlichkeit, mir vorzustellen, dass sie nicht mehr da sein wird, ist Befriedigung genug. Allein zu sein, keine Antworten geben zu müssen auf all ihre Fragen, ins Leere starren zu dürfen ohne dafür mit sarkastischen Worten gestraft zu werden - es muss sich wie wahrer Frieden anfühlen.

    Ihre Vorlage ist nass. Sie hätte schon seit fünf Minuten nach mir geschrieen, sagt sie mit schwacher Stimme, doch ihr durchdringender Blick ist von beispielloser Härte. Seit fünf Minuten. Da müsste ich mich nicht wundern, wenn sie es nicht mehr schaffe.

    Ich halte unauffällig die Luft an, als ich die vollgepinkelte Vorlage zusammenfalte und in den dafür vorgesehenen Eimer lege. Der Geruch ist durchdringend, geradezu ätzend. Wenn ich den Eimer zur Tonne bringe, schießen mir manchmal die Tränen in die Augen. Die noch warmen durchnässten Windeln erzeugen bei mir Brechreiz. Ich mache das jetzt jeden Abend, seitdem sie die letzte Pflegerin aus dem Haus getrieben hat mit ihrer Unverfrorenheit, sie des Diebstahls zu bezichtigen. Als ob diese kleine schüchterne Person zu Derartigem fähig gewesen wäre!

    Nach diesem allabendlichen Ekel-Ritual habe ich keinen Appetit mehr und muss nichts mehr in mich hineinstopfen nach Mutters und meinem gemeinsamen Abendbrot, welches wir vor der eben genannten Prozedur einnehmen. Seitdem ich so verfahre, habe ich schon 10 Kilo abgenommen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Hoffnung, dass ich doch nicht an Adipositas1 verrecken werde. Mit einem Hühnerbein in der Kehle oder einem riesigen Schinken-Mayonnaise-Sandwich, nicht wahr? Stellen Sie sich nicht immer vor, dass Dicke genauso zu Grunde gehen? Am letzten Bissen erstickt, im Bett sitzend in einem hässlichen schmuddeligen Schlafanzug aus angerauter karierter Baumwolle, der bereits seit mindestens zehn Jahren aus der Mode ist? Den Mund schlaff geöffnet mit herausquellenden Krümeln und Speiseresten, die Hände fettig von der allerletzten Schnitte, die auf der Bettdecke liegt, natürlich viel zu dick mit Butter bestrichen, das Zimmer voller leerer Chipstüten und Stanniol-Papier-Resten von unzähligen Schokoladetafeln der unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, weil es Dicken angeblich sowieso egal ist, was sie in sich hineinstopfen ... ? Ist nicht auch die übergewichtige Sängerin von den „Mamas und Papas" auf diese Weise krepiert? Ich meine, ich habe das mal irgendwo gelesen.

    Ich bin 1,75 m groß und habe vor drei Monaten noch 125 Kilo gewogen. Die meisten handelsüblichen Waagen zeigen das Gewicht bis 130 Kilogramm an. Als mir das bewusst wurde, stellte ich mich regelmäßiger darauf, obwohl es mich große Überwindung kostete, nur um nicht diese letzte Schallgrenze zu überschreiten. Das hatte ich mir ganz fest vorgenommen und erstaunlicherweise auch geschafft.

    Das Essen war ihr Köder.

    Immer drehte sich alles ums Essen. Hier waren sich Oma und Mutter ausnahmsweise einmal einig.

    Seit ich denken kann, hat sich alles zwischen uns ums Essen gedreht. Fiel ich hin bei zu wildem Spiel - ich spielte selten wild, da ich nie die Gelegenheit hatte, mich von ihnen fortzubewegen, dann gab es Trost durch Essen. Schokolade, Kekse, Kuchen. Sie hatten immer etwas von allem da. Oma stand den ganzen Tag in der Küche und buk und briet irgendetwas. Und ich musste es essen.    Abends türmte sie den Tisch voll mit all den Sachen, die sie tagsüber fabriziert hatte und ich durfte nicht eher aufstehen, bevor ich von allem probiert hatte. Das Abendessen war eine Qual, weil ich keine Chance hatte, ihren gemeinsamen kontrollierenden Augen zu entkommen.

    Nachmittags war Oma hin und wieder abgelenkt, weil sie manchmal Besuch hatte von Frauen aus der Nachbarschaft, die sich über ihre Männer beklagten. Dabei konnte ich dann unbemerkt etwas in den Schoß in die Serviette gleiten lassen, wenn ich partout nichts mehr essen konnte. Als Kind hatte ich offenbar noch einen inneren Instinkt, der mir sagte, wann es genug war - später dann war ich völlig im Teufelskreislauf des Essens gefangen, dass ich es nicht mehr bemerkte, wann ich satt war. Das Essen wurde irgendwann zum Zwang. Essen war alles, was ich hatte. Essen war Ablenkung, Befriedigung und Trost.

    Wenn Oma Besuch hatte, saß sie mit den Frauen ihrer Bekanntschaft am Tisch in der kleinen Stube und trank Kaffee und ich hörte sie reden - manchmal jammerten und klagten sie, aber es gab auch Ausbrüche der Heiterkeit über das seltsame Benehmen ihrer Männer. Ich denke, sie haben mich damals noch nicht wahrgenommen, sie glaubten vermutlich, ich würde mich für ihre Gespräche nicht interessieren, aber da irrten sie. Ich war sehr wohl imstande, genau zuzuhören. Wenn Mutter da war - weil sie einen freien Tag hatte - stand sie auch dabei, die eine Hand in der Taille, die unvermeidliche Zigarette in der anderen und sie dozierte über Männer. Ehemänner im Besonderen. Sie katalogisierte und kategorisierte und die Frauen konnten ihrer Intelligenz und Wortgewalt nichts entgegensetzen. Sie saßen entweder stumm da und lauschten ihrem Monolog mit großen Augen oder aber sie blätterten in den Magazinen, die Mutter aus den Arztpraxen unverfroren mit nach Hause zu nehmen pflegte.

    Und wenn sie gingen, sahen sie in die Töpfe von Oma und sprachen bewundernde Worte. Wer soll das alles essen?, fragten sie. Unser Junge, sagten beide und als hätten sie es vorher abgesprochen, strichen sie mir abwechselnd über den Kopf.

    Er ist doch alles, was wir noch haben, sagte dann Mutter und Oma nickte anerkennend dazu. Er ist unser Leben. Unser Augapfel.

    * * *

    In der Schule lachten sie über mich. Wie hätte es auch anders sein können? Das überrascht nun wirklich niemanden.

    Sie riefen keine besonders originellen Namen. Das Übliche halt. Schweinchen Dick oder Fettsack oder aber auch nur die Koseform: Dickie oder Fettie. Im Sportunterricht stand ich immer bis zuletzt da, weil mich keiner der Anführer in seiner Gruppe haben wollte. Der Lehrer sah mich dann seufzend mit einem Ausdruck an, der eine Mischung aus Mitleid, Ärger und auch ein wenig Ekel darstellte.

    Da war noch ein Mädchen in der Klasse, die genau wie ich ein Außenseiter war. Sie nannten sie Fetties Braut. Sie hieß Gesine. Sie war so dünn, dass ihre Wangenknochen aussahen, als würden sie bald durch die Gesichtshaut stechen. Ihre Haare waren stets fettig und hingen in dicken Strähnen vor ihr Gesicht, als wolle sie sich mit diesem unappetitlichen Vorhang verstecken vor der Grausamkeit der Realität.

    Ich war damals 15. In jenem Sommer musste ich ins Zeltlager fahren. Mutter hatte einen neuen Liebhaber, mit dem sie Urlaub machte. Zuhause durfte ich allein nicht bleiben, weil Oma wegen einer Gallenoperation im Krankenhaus lag.

    Als der Lehrer nach den Sommerferien in die Klasse kam, sah er uns sehr nachdenklich an und sagte, dass Gesine gestorben sei. Man hätte sie nicht mehr retten können, sie habe sich zu Tode gehungert. Magersucht. Es sei eine Krankheit, sagte er noch und dann begann er mit seinem Unterricht. Ich bemerkte, dass mich einige ansahen und ich hörte sie kichern und flüstern, dass mir das wohl nicht passieren würde. Ich liefe wohl eher Gefahr, mich zu Tode zu fressen.

    Meine Fettsucht ersparte mir die Bundeswehr. Ich wurde ausgemustert. Die Untersuchungstortur blieb mir nicht erspart. Die hämischen Blicke der anderen, die neben mir standen, erzeugen noch heute eine heiße Welle der Scham, wenn ich mich daran erinnere.

    Warum bin ich nach der Schule nicht einfach weggegangen? Alle anderen zogen fort, studierten, verließen dieses kleine Kaff. Nur ich blieb zu Hause. Hatte ich überhaupt jemals Regungen gezeigt, den Fangarmen meiner Mutter und Oma zu entkommen? Ich hatte einen Abi-Durchschnitt von 3,5. Keine wirklich gute Grundlage, um einen interessanten Studienplatz zu ergattern, andererseits gab es genügend Fächer, die keinen Numerus Clausus erforderten. Ich hätte also irgendetwas machen können. Eine richtige Ausbildung, nicht nur diesen Gelegenheitsjob als Fahrer des kleinen Tante-Emma-Ladens im Nachbardorf. Bloß was? Mutter arbeitete und gemeinsam mit Omas Rente hatten wir unser Auskommen. Und beide sorgten dafür, dass ich sie nicht verließ. Wir brauchen dich doch!, sagten sie in regelmäßigen Abständen. Und Oma erinnerte mich oft daran, dass sie es gewesen war, die mir den Führerschein und den Golf finanziert hatte. Meine Mutter hatte nie einen Wagen besessen, geschweige denn den Führerschein.

    Sie war damals noch eine ungeheuer attraktive Frau bis zu dem Moment, als sie den Schlaganfall hatte, der ihre linke Körperhälfte lähmte und sie fortan ans Haus fesselte.

    Sie hatte in ihrer Jugend als Schneiderin gearbeitet. Beileibe kein Beruf, der heute noch Geld einbringen würde. Jedoch schien sie bei allen Dingen, die sie anpackte, Glück gehabt zu haben. In einem großen Modehaus, wo sie arbeitete, lernte sie ihre privaten Kundinnen kennen, denen sie Kleider entwarf. Sie hatte angeblich großes Talent und das sprach sich herum. Zumindest erzählte sie mir ihre Geschichte so, wenn sie in rührseliger Erinnerungslaune war. Mein Verdacht war eher der, dass ihre wechselnden Liebhaber all die Jahre das Geld ins Haus brachten. Sie verstand es sehr geschickt, mit Geld umzugehen. Sie verschwendete nichts. Bei allem war sie sparsam, nur Lebensmittel waren stets verschwenderisch vorhanden, die Oma zu opulenten Mahlen verkochte. Essen für mich. Mutter selbst achtete streng auf ihre schlanke Linie und war stolz, immer Kleidergröße 36 zu tragen bei einer Körpergröße von 1,72 m.

    Ich vermute, dass ihr letzter Liebhaber ihr eine größere Summe Geld vermacht hatte, mit der sie unser kleines Haus kaufte.

    „Das Häuschen des Schriftstellers." Sowohl Oma als auch Mutter träumten beide von einer Schriftstellerkarriere für mich, bloß weil ich mit 13 Jahren einmal eine Geschichte an die Tageszeitung geschickt hatte und diese auch prompt gedruckt wurde. Es war mir unendlich peinlich, dass sie es ausschnitten und allen möglichen Leuten zeigten. Mutter schenkte mir fortan regelmäßig Schreibpapier, diverse Stifte und forderte mich auf, weiter zu machen. Ich empfand den Druck als sehr belastend. Abend für Abend fragten sie mich in jener Zeit, ob ich etwas geschrieben hätte, ob es voranging und wie viele Seiten mein Werk schon umfasste? Meistens winkte ich dann ab und gab ihnen zu verstehen, dass ich nicht darüber reden wollte, was beide veranlasste, sich mit wissendem Blick anzusehen. Diese ansonsten ungewohnte Solidarität der beiden Frauen verunsicherte mich zutiefst. Ich fühlte, dass sie sich die Wunschvorstellung von mir als Schriftsteller nicht ausreden lassen würden. Diese Vision vereinte diese zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

    Mir war bewusst, dass sie glaubten, ich würde mich mit philosophischen Dingen beschäftigen. Abwegig war das nicht, schließlich hatte meine kleine in der Vergangenheit veröffentlichte Geschichte ein humorvolles Streitgespräch über Sokrates und seinen Schüler Platon zum Inhalt gehabt. Da sich meine Gedankenwelt inzwischen jedoch ganz anderen - nämlich sehr profanen - Themen zugewandt hatte, litt ich unter meinem schlechten Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, sie zu belügen.

    Natürlich schrieb ich!

    Die Schuldgefühle waren immens, die mich quälten. Nur hätte ich diese Geschichten niemals an die Öffentlichkeit dringen lassen, geschweige denn sie Mutter und - vor allem: Oma! - zu lesen gegeben! Das tat ich nur für mich. Das war meine eigene kleine private Welt, die ich mir schaffen konnte. Was außer Lesen und Schreiben stand mir denn zur Verfügung?

    Ich hatte doch keine andere Wahl! Ausgehen durfte ich nicht - außerdem - mit wem hätte ich mich schon treffen sollen? Niemand wollte sich mit mir verabreden. Ich war die Randfigur der Klasse, der Dicke, die lächerliche Gestalt. Das Schreiben war für mich die einzige Möglichkeit, meinem stumpfsinnigen Alltag zu entfliehen. In meinen Geschichten erträumte ich mir eine andere Realität, in der ich ungeheuer sportlich, mutig und vor allem - schlank! - war. Eben ein richtiger Held! Meine Mutter und Oma spielten in diesen Geschichten auch eine Rolle, aber sie kamen nicht gut dabei weg. Es war meine Rache auf dem Papier, dass ich sie oft in finsteren Verliesen schmoren ließ für ihre Verbrechen an meinem Körper. Das waren noch die harmlosen Fassungen. Später dann, als ich mir Bücher aus der Bücherei holte, in denen ich mich über Foltermethoden des Mittelalters informierte, kam es durchaus auch schon einmal vor, dass ich sie Bekanntschaft mit Streckbänken oder der Eisernen Jungfrau machen ließ.

    Man kann sich sicher vorstellen, welche Höllenängste ich ausstand, wenn ich morgens zur Schule ging. Ständig lebte ich in Panik, dass sie meine Geschichten finden und sie während meiner Abwesenheit lesen könnten.

    Aus dem Grund hielt ich mein Zimmer peinlich aufgeräumt. Mutter musste bloß saugen, und da sie es mit dem Saubermachen nicht so genau nahm - im Gegensatz zu Oma, die aber zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gut die Treppe hinaufgehen konnte, kam es höchst selten vor. Meistens machte ich das selbst am Wochenende.

    Überhaupt - die Wochenenden! Mutters beste Zeiten waren auch meine! Oma war zu jenem Zeitpunkt schon tot - bei einem ihrer abendlichen Spaziergänge war sie überfahren worden. Der Unfallverursacher hatte Fahrerflucht begangen. Eine tragische Geschichte. Allerdings blühte Mutter anschließend noch einmal richtig auf. Zu Omas Lebzeiten hatte sie ihren Neigungen nicht so unverblümt nachgehen können. Vor mir brauchte sie sich nicht zu verstecken, im Gegenteil - ich gewann mehr als einmal den Eindruck, dass ein speziell auf mich ausgerichteter Exhibitionismus ein ausgeprägter Wesenszug von ihr zu sein schien.

    Jeden Samstag frühstückten wir exakt um zehn Uhr, in der Woche standen wir um halb acht auf. Ich holte Brötchen, während sie    Kaffee kochte und den Tisch deckte. Nach dem Frühstück verschwand sie im Badezimmer, wo sie ausgiebig badete und verschiedene Rituale ablaufen ließ, wie die Enthaarung sämtlicher Körperregionen wie die der Beine, Achseln und ihrer Schamgegend. Während dieser Aktionen rief sie permanent nach mir, um sich etwas bringen zu lassen, daher weiß ich, was sie tat. Es störte sie nicht im Geringsten, vor meinen Augen solche intimen Dinge zu tun - vielmehr schien sie es sogar förmlich zu genießen, mich in Verlegenheit zu bringen. Mit zunehmendem Alter wurden mir diese Dienste mehr und mehr unangenehm. Was denn los wäre?, fragte sie mich dann großäugig. Sie sei doch bloß meine Mutter und ich bräuchte mich in keinster Weise zu genieren! Es machte mich hilflos, wenn sie das sagte. Ich genierte mich aber tatsächlich ungeheuerlich und es ekelte mich geradezu, sie nackt auf dem Klo sitzen zu sehen bei ihrer Genitalrasur, wenn ich das Badezimmer betrat.

    Manch einer hätte wohl eher Gelüste bekommen, sie unbekleidet zu sehen, nicht so ich.

    Aus der Schule kannte ich noch die Situationen, in denen in den Pausen „Heftchen" herumgingen. Meine Mutter hätte gut da hineingepasst. Sie hatte genau solche großen Brüste wie die Damen in jenen Magazinen, die sich dort breitbeinig und mit Schmolllippen auf den Betten räkelten und den Männern bei diversen Lustspielchen willig zu Diensten waren. Die Herren sah man leider meistens nur von hinten, obwohl der Anblick dieser wohlgestalteten muskulösen Hinterfronten mir ein deutliches Pulsieren in meiner Unterhose verschaffte.

    Damals verunsicherte es mich noch und machte mir große Angst.

    Wenn Mutter nach ihrer stundenlangen Verschönerungs-Prozedur im Bad am Samstagnachmittag fertig war, verließ sie zehn Meter gegen den Wind nach Chanel N° 5 stinkend aufgedonnert das Haus. Meistens kam sie dann erst in den frühen Sonntagmorgenstunden zurück. Manchmal mit dem Taxi. Oft aber auch musste ich sie abholen. Sie wartete meistens in gediegenen Wohnvierteln, außer einem einzigen Mal musste ich sie nie aus irgendwelchen verruchten Spelunken aus zwielichtigen Vergnügungsvierteln mit nach Hause nehmen, die sie zweifellos vorher aufgesucht hatte, um ihre „Freier" abzuschleppen.

    Diese Zeit allein zu Haus war das, worauf ich die ganze Woche hinlebte. Frei zu sein, das zu tun, wonach mir war! Ich schaute mir sehr viele Videos an. Ich hatte eine kleine diskrete Videothek in unserer nächstgelegenen Kleinstadt ausgemacht, die Kassetten nach meinem Geschmack führte und die mir den Samstag zu einem einzigen Höhepunkt werden ließen. Genaugenommen waren es etliche Höhepunkte.

    Hinterher sah ich genauestens darauf, dass sie keine Spuren meiner Anwesenheit im Wohnzimmer entdecken würde.

    Zum Glück bin ich ein sehr reinlicher Mensch, der keine Unordnung mag. Die Videokassetten vergaß ich nie aus dem Apparat herauszunehmen, des Weiteren sorgte ich dafür, dass ich nichts besudelte mit den Ergüssen meiner Lust. Die Handtücher wurden seit jeher immer am Samstag Vormittag gewechselt - das war im Übrigen eine Aufgabe, für die ich mich schon zuständig bereit erklärt hatte, als Oma noch lebte und den Haushalt managte - also entnahm ich die ohnehin noch zu waschenden gebrauchten Tücher der vergangenen Woche dem Wäschekorb und breitete sie sorgfältig in meiner nächsten Umgebung aus, um mich dem aktiven Zuschauen dieser überaus anregenden Filme zu widmen. Im Abschluss daran pflegte ich die Waschmaschine anzustellen.

    Das waren noch Zeiten, in denen ich frei war ... ! Seitdem Mutter ein Pflegefall ist, kann ich mir diese kleinen Fluchten, die mir viel Genuss und Entspannung verschafften, nicht mehr erlauben bis auf meine allnächtliche Routinehandlung. Der Fernseher und der Videorecorder stehen in ihrem Zimmer, Zweitgeräte unauffällig anzuschaffen würde mir nicht gelingen, denn noch immer kontrolliert sie die Ausgaben akribisch. Ihr Körper ist in desolatem Zustand, ihr Verstand hingegen beängstigend klar.

    Mein alter PC hat keinen Internetanschluss, den ich rechtfertigen könnte. Sie kaufte ihn vor Jahren, als ihr Entschluss feststand, dass ich schreiben würde und sie in einer Dokumentarsendung, die einen Schriftsteller vorstellte, gesehen hatte, dass der Betreffende sich ein Arbeiten ohne Bildschirm nicht mehr denken konnte. Schreibmaschinen waren out.

    Ihr kurzzeitiger Stolz über meine etwaige Schriftstellerkarriere legte sich jedoch rasch, nachdem ich ihr keinen Debüt-Roman präsentieren konnte nach Ablauf meiner Schulzeit. In jener Zeit schlich sich zum ersten Mal ein deutliches Zeichen von Verachtung in ihre Blicke, wenn sie mit mir sprach. Ich hatte sie bitter enttäuscht. Sie hatte doch alles für mich getan. Alles nur für mich.

    Meinst du, das hätte mir Spaß gemacht, Woche für Woche die Beine breit zu machen?, fragte sie mich in alkoholisch benebeltem Zustand nach Omas Tod, wenn sie - anfangs noch selten genug, später dann aber immer häufiger vorkommend - zur Gin-, Wodka- oder Whisky-Flasche griff. Irgendwoher musste ja das Geld kommen! Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Du hast mir doch erzählt, dass du das Geld für die Modellkleider bekommen hast, die du früher genäht hast! Besser nicht an etwas rühren, was in ihrem Kopf noch eine sichere Rückzugsmöglichkeit für ihre Zukunft im Alter des Erinnerns darstellen würde. Wenn sie Glück hatte, würde ihr Geist die zahlreichen Episoden, die wirklich zu unserem Einkommen beigetragen hatten, verdrängen! Und wenn es nicht ihr eigener war, dann aber gewiss der Weingeist.

    * * *

    Ich schaue auf meine Armbanduhr und bleibe noch einen Moment draußen. Beschließe eine Zigarette zu rauchen. Frau Melzer kommt sowieso gleich. Mutter hat eine saubere Vorlage bekommen, ich werde ihr nachher lediglich für die Nacht noch einmal eine neue geben müssen.

    Bevor ich das Abendessen mache, rauche ich. Lang genug hat es gedauert, das durchzusetzen. Eigentlich erstaunlich - schließlich rauchte sie selbst Kette ihr Leben lang und tut es noch heute! Aber sie hat auch andere Dinge getan, die sie mir niemals zubilligen würde.

    Unsere Mülltonnen stehen in einer Nische im Garten. Der Vorbesitzer hat extra einen kleinen Verschlag aus Holzbrettern anfertigen lassen, in denen sie untergebracht sind. Hier stehe ich meistens, wenn ich rauche. Ich kann durch die Latten den ganzen Weg überblicken und die Leute beobachten, die an unserem Grundstück vorbeigehen, bleibe selbst jedoch verborgen. Unser Haus würde wie eine riesige Zigarettenhalde stinken, rauchte ich auch noch drinnen! Auf diese Weise bleibt der Geruch nur auf Mutters Zimmer beschränkt. Außerdem sind meine Rauchpausen kostbare Momente der Ruhe für mich, die ich mir nicht entgehen lasse.

    Ich höre näherkommende Schritte und Stimmen. Männliche Stimmen. Spaziergänger gibt es hier selten, eher Leute, die ihren Hund ausführen. Meine Zigarette ist aufgeraucht, ich drücke sie aus und werfe den Stummel leise in die Tonne. Neugierig harre ich in meiner Ecke aus.

    „Meinst du, dass sie

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