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Endspurt
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eBook332 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Wilfried Wolters gibt nicht auf. Nachdem er die Tatsache verdaut hat, dass sein Traum-Mann Jan eine Lebenspartnerschaft mit seinem verhassten blonden Konkurrenten eingegangen ist, sieht er nur noch einen Ausweg: Nick muss endgültig verschwinden! Bevor er sich jedoch mit diesem Plan näher beschäftigen kann, stehen dringendere Aktionen an, die im Vorfeld erledigt werden müssen. Zum Beispiel die Beseitigung von Arnie, dem lästigen Hund von Grewes, der ihm den Zugang zu Jans Garten und vor allem zum Schlafzimmerfenster verwehrt! Oder Kerstin, die ihn mit ihrem zunehmendem Bauchumfang stets daran erinnert, dass er eine Riesen-Dummheit gemacht hat. Ein weiterer Punkt auf seiner privaten 'To-do'-Liste, die er akribisch einzuhalten und abzuarbeiten versucht, sieht den Erwerb des Motorradführerscheins vor. Obwohl er keinerlei Neigung dazu verspürt, meldet er sich bei der Fahrschule im Nachbarort an. Auf diese Weise hofft er, sich Jan nähern zu können, der seit geraumer Zeit als Biker unterwegs ist. Es funktioniert! Wilfried kann es kaum fassen: plötzlich ist er Teil von Jans großem Freundeskreis. Man lädt ihn zu Feiern ein, er ist Gast im Hause Grewe und als Folge dieser Bekanntschaft bittet man ihn, das Haus einzuhüten und sich um Arnie zu kümmern, als die Familie wegen eines Krankheitsfalls für einige Tage verreisen muss. Endlich erhält er Gelegenheit, Jans Zuhause ausführlich zu inspizieren und er entdeckt dabei einige pikante Geheimnisse, die ihm - so glaubt er - eine günstigere Position verschaffen, um Jan auf sich aufmerksam zu machen. Was er nicht ahnt: die Zufallsbekanntschaft mit einem Mann in einer Sauna wird sein Leben nachhaltig verändern und die Harmonie des Hauses Grewe-Zeidler ebenfalls auf eine harte Bewährungsprobe stellen ...
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum1. Jan. 2012
ISBN9783863611132
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    Buchvorschau

    Endspurt - Nick Zachries

    1

    Der erste echte Frühlingstag im wichtigsten Jahr meines Lebens! Das wird mein Jahr, ich weiß es! In diesem Jahr werden sich alle meine Sehnsüchte erfüllen! Die Vögel scheinen es zu ahnen, sie singen wie besessen, bereits seit dem Morgengrauen zwitschern und tirilieren sie, was die Stimmbänder hergeben. Angesteckt von ihrer Lebenslust bin ich mit einem Gefühl der Vorfreude in aller Frühe aufgestanden. Mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch. Ich laufe meine 10 km in einer für mich fantastischen Zeit von 50 Minuten, dusche fröhlich pfeifend und setze mich danach an meinen Schreibtisch, um zu arbeiten. Das am Vorabend begonnene Kapitel findet in dieser euphorischen Stimmung wie von selbst seinen gelungenen Abschluss. Mittags erledige ich gut gelaunt Einkäufe. Als ich auf dem Rückweg bin, drehe ich sogar das Radio an. Auf einem Sender spielen sie „Dicke" von Marius Müller-Westernhagen. Zum ersten Mal im Leben kann ich es mir anhören, ohne entsetzt und betroffen zu sein. Ja, es gelingt mir sogar, ein wenig darüber zu lachen. Früher zappte ich stets mit Herzklopfen weg, weil ich mich elendig ertappt fühlte und mich schämen musste. Für mich und für all die anderen Dicken, für alle Betroffenen.

    mit Dicken macht man gerne Späße / Dicke haben Atemnot / Für Dicke gibt’s nichts anzuziehen / Dicke sind zu dick zum Fliehen / Dicke haben schrecklich dicke Beine / Dicke ham ein Doppelkinn / Dicke schwitzen wie die Schweine, stopfen, fressen in sich rin / Und darum bin ich froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ne Quälerei / Ja, ich bin froh, dass ich son dürrer Hering bin, denn dünn bedeutet frei zu sein / Dicke haben Blähungen / Dicke ham nen dicken Po / Und von den ganzen Abführmitteln rennen Dicke oft aufs Klo / Dicke müssen ständig fasten, damit sie nicht noch dicker werden / Und haben sie endlich zehn Pfund abgenommen, ja, dann kann man es noch nicht mal sehn / Dicke hams auch schwer mit Frauen, denn Dicke sind nicht angesagt / Drum müssen Dicke auch Karriere machen / mit Kohle ist man auch als Dicker gefragt / Und darum bin ich froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ne Quälerei / Ja, ich bin froh, dass ich son dürrer Hering bin, denn dünn bedeutet frei zu sein …!

    Wie recht er doch hat, der gute Marius! Dünn bedeutet frei zu sein. Frei von ballastartigem Gewicht, welches zementschwer an mir klebte. Es drückten nicht nur die immer enger werdenden Klamotten. Das Zuviel an Gewicht legte sich auch auf meine Seele. Als wucherten im Geiste Fettgeschwüre, die die Sicht auf freies und unbelastetes Denken nahmen. Ich war nicht nur im physischen Sinn phlegmatisch und schwerfällig.

    Als sich dieser Zustand in meinen Träumen zu manifestieren begann, wusste ich, dass etwas passieren musste. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war es mir bis dato gelungen, mir wenigstens die Schlankheit zu erträumen. Als diese Vorstellung nicht mehr gelang, hatte ich den absoluten Nullpunkt meiner inneren Depression erreicht.

    Es ist vorbei. Endgültig vorbei. Nie wieder werde ich dick sein. Während des Liedes schaue ich auf meine Schenkel. Meine schlanken Beine. Meinen flachen Bauch. Meine gutgeformten Hände, keine wulstigen dicken Finger mehr, die das Lenkrad halten.

    Heute ist ein besonderer Tag. Ich werde das erste Mal zur Fahrschule gehen. Den Entschluss fasste ich unumstößlich am 1. April, als ich Zeuge wurde, wie Jan mit seinem frisch angetrauten Lebenspartner Nick auf seinem Motorrad in die Flitterwochen fuhr. Es brauchte einige Zeit, um über diesen Schock hinwegzukommen, aber dann sagte ich mir, dass ich schon ganz andere Herausforderungen angenommen hatte. Ich habe meine Kindheit und Jugend trotz diverser Demütigungen durch meine dominante mich erziehende Großmutter überstanden, die Erwachsenenjahre allein mit meiner bettlägerigen und zänkischen Mutter verbracht, die ich bis zu ihrem Tode vor einem Jahr pflegte. Zartere Gemüter hätten das vermutlich nicht geschafft. Und nicht zu vergessen, ich bekam mein bis dahin existenzielles Lebensproblem Nummer eins nachhaltig in den Griff: Ich wurde mein Übergewicht los.

    Ein wenig mulmig ist mir, als ich am Abend den kleinen Raum der Fahrschule betrete, der sich im Nachbardorf befindet. Ungute Erinnerungen tauchen auf. Vor vierzehn Jahren habe ich hier bereits schon einmal gesessen. Pummelig, einsam und auch hier wieder – natürlich! – als Außenseiter. Damals gehörte ich zu den Jugendlichen, die auch heute den Großteil der Anwesenden ausmachen. Heute sind außer mir nur noch zwei Frauen im Erwachsenenalter. Sie scheinen sich zu kennen und reden miteinander. Beide sehen mich freundlich interessiert an, als ich nickend an ihnen vorbeigehe.

    Lautes Geplapper erfüllt den Raum. Die Jungs und Mädchen reden wild durcheinander. Im Hintergrund sitzt – genau wie früher übrigens! – die stark geschminkte korpulente Gattin des Fahrschulinhabers an einem PC und trägt die Daten der Neuankömmlinge in ihre Online-Formulare ein. Lediglich dies hat sich geändert. Damals tippte sie ewig auf einer Schreibmaschine herum, heute sucht sie die Buchstaben auf der PC-Tastatur. Fortschritte scheint sie nicht gemacht zu haben, sie ist noch immer entsetzlich langsam. Mit ihren kurzen dicken Fingern, die wie einst mit etlichen Ringen eingeschnürt sind. Womöglich nicht mehr zu entfernen. Im Gewebe eingewachsen! Eigentlich müssten die Finger irgendwann abfallen, weil die Blutzufuhr erheblich gestört sein wird in diesen Extremitäten.

    Ich male mir aus, wie sie sich eines Morgens – das zerknautschte und jetzt gänzlich farblose, weil ungeschminkte Gesicht vor Entsetzen verzerrt – mit einem gurgelnden Röcheln in ihrem Bett aufsetzt und feststellt, dass sie nur noch acht anstelle von zehn Fingern besitzt und daraufhin hektisch ihre nächtliche Behausung durchwühlt und mit einem schrillen Schrei ihre beringten Wurststummel in der „Besucherritze" findet. Der Schock währt nur kurz. Den Verlust ihrer Finger nimmt sie gelassen hin. Sie ist sichtlich erleichtert, dass ihr Schmuck nicht abhanden gekommen ist. Ich stelle mich hinten an und warte. Als ich an die Reihe komme, frage ich mich, ob sie sich an mich erinnert, aber dies ist nicht der Fall. Weder beim Namen – und der ist einprägsam, kurz und prägnant: Wilfried Wolters – noch beim flüchtigen Blick in mein Gesicht scheint sich bei ihr etwas zu regen. Mir ist das sehr recht. Ich lege keinen Wert darauf, auf mein früheres unförmiges Selbst angesprochen zu werden. Nach dieser Formalie nehme ich Platz in der letzten Reihe auf einem der ebenfalls vertrauten Stühle. Schwarzer Plastiksitz auf Metallfüßen.

    Ich weiß noch, wie die Jugendlichen damals geguckt haben, wenn ich mich setzte. Jeder dieser Stühle machte Geräusche, wenn ich mich mit meinem Gewicht darauf niederließ. Es knarzte oder quietschte, irgendwas war immer, was die Anderen zum verstohlenen oder öffentlichen Grinsen brachte. Wie ich diese Momente hasste! Ich war unendlich froh, wenn der Fahrlehrer erschien, mich von ihrer Häme erlöste und den Unterricht abhielt. Ein langer Dünner war es mit einem zauseligen Bart und schlechten Zähnen. Scheußlichen Mundgeruch hatte er, das weiß ich noch genau.

    Die Zeiten haben sich geändert.

    Der Typ, der heute erscheint, ist mir auf Anhieb sympathisch. Er hat Übergewicht! Und nicht zu knapp. Das also ist der Fahrlehrer. Er stellt sich „für die Neuen!" als Hans-Georg vor und geht zu einem kleinen Tischchen in der Ecke, auf welchem eine Schale mit Bonbons steht. Dem in der ersten Reihe sitzenden Jungen drückt er sie in die Hand und dieser lässt sie weitergehen. Ein offenbar bekanntes Ritual. Hans-Georg beginnt mit seinem Unterricht. Er ist ein Typ, der gerne Späßchen macht und demzufolge wird diese erste Unterrichtsstunde sehr unterhaltsam. Er würzt sie mit Anekdoten aus seinem Fahralltag und erinnert seine jüngeren Teilnehmer an kleine Peinlichkeiten, die er mit ihnen erlebt hat. Bosheit geht ihm dabei gänzlich ab, er führt seine Schüler erfreulicherweise nicht vor. Dieser Mann ist ein Menschenfreund! Mein Unbehagen ist vollkommen verschwunden. Appetitliche Zähne hat er außerdem.

    Der Unterricht ist für mich nichts Neues. Die Theorie ist mir hinlänglich vertraut, ich bin hierhergekommen, um den Motorradführerschein zu machen. Nach dieser ersten Theorie-Stunde gehe ich auf Hans-Georg zu und stelle mich ihm vor. Er hat sein Büchlein zu Hause vergessen, in dem er seine Termine aufschreibt. Zur nächsten Stunde will er es mitbringen, damit wir eine Zeit ausgucken können, in der ich meine allererste Fahrstunde bekommen soll. Oder ob er mich gleich anrufen soll, wenn er zu Hause ist? Er ist sehr freundlich. Ich verneine und wir beschließen, die Terminabsprache bei der nächsten Theoriestunde zu regeln.

    Als ich meinen Wagen in die Garage gefahren habe und auf dem Weg zur Eingangstür bin, höre ich Musik aus meinem geöffneten Küchenfenster. Bastian hat also nicht vergessen, dass er zu kochen versprochen hat. Ich lausche den Klängen von Liszts Ungarischer Rhapsodie, die er zur Untermalung seiner Kochkünste gewählt hat. Genauso gut könnte man Bach bei McDonalds spielen oder aber man stelle sich vor, dass ein Mann wie Bocuse in seiner Küche eine Vorliebe für AC/DC hegte. Unfassbar diskrepant. Dabei sollte ich dankbar sein – er tut es nur mir zuliebe! Er selbst hört lieber musikalische Verfehlungen. Aktuelle Gruppen, die ich nicht kenne. Mainstream, der im Radio gespielt wird. Sicher, auch ich schalte bisweilen die gängigen Sender ein, vorwiegend wenn ich im Auto unterwegs bin (ansonsten hätte ich Marius „Dicken-Lied" nicht hören können!), aber nur, um mir in regelmäßigen Abständen klarzumachen, dass dies nicht meinen Musikgeschmack trifft.

    Seufzend schließe ich auf und ergebe mich in mein Ernährungs-Schicksal, was wohl heißt: Schniposa, wenn ich Glück habe. Schnitzel, Pommes und Salat. Das macht er nämlich meistens, wenn er sagt, er kocht. Die Schnitzel sind – selbstredend! – vorgebraten und aus der Tiefkühltruhe, ebenso die Pommes Frites und der Salat besteht bei ihm aus einer Tüte fertig gekauften und bereits zerrupften Mischsalat aus dem Kühlregal der Gemüseabteilung, den er (ungewaschen) mit einer Soße übergießt, die er – „ruck-zuck, tada!" – mit einem kleinen Beutelchen Salatfix herstellt. Jeder Ernährungswissenschaftler würde seufzend den Kopf schütteln. Immerhin ist sein Mahl innerhalb kürzester Zeit fertig, die Küche sieht dennoch hinterher so aus, als hätte er ein Fünf-Gänge-Menü gezaubert. Wer kocht, braucht die Küche nicht zu machen, dementsprechend liegt für mich die goldene Arschkarte als Nachtisch bereit. Koche ich, dann gehe ich sehr systematisch vor. Schon während des Anbratens und Vorbereitens pflege ich meine kleinen Schüsselchen und Brettchen zu säubern oder aber den Geschirrspüler zu füllen, sodass mein Wohnungspartner nicht nur ein qualitativ besseres Essen, sondern auch eine gut aufgeräumte Küche vorfindet! Ich betrete den Hausflur, rieche das angebrannte Fett, in welchem die Schnitzel schmurgeln und denke heiter: es ist ja nur vorrübergehend! Nichts ist für die Ewigkeit! Bastians Tage in meinem Haus sind gezählt. Er ahnt zwar nichts davon in seiner überschäumenden Naivität, doch ich habe mir eine Frist gesetzt. Sobald ich die persönliche Bekanntschaft mit Jan gemacht habe, fliegt er.

    Eigentlich hatte er sowieso vorgehabt, nur ein paar Tage bei mir unterzukommen, als er kurz vor dem ersten April mit Sack und Pack bei mir einzog. Doch schon nach drei Tagen Aufenthalt war mir klar, dass er sich mit dem Suchen einer anderen Bleibe Zeit lassen würde. Die ersten Tage mit ihm waren grauenhaft. Er ließ überall seine Klamotten herumliegen und ich ertappte mich dabei, alles aufzuräumen, weil ich Unordnung unerträglich finde. Am ersten April eskalierte es am Abend.

    Meine Stimmung war an jenem schicksalsträchtigen Datum sowieso am Gefrierpunkt angelangt. Am Vormittag hatte Jan das Flittchen geehelicht und war mit ihm auf dem Motorrad davongebraust. Nach Italien habe ich im Nachhinein erfahren. Von wem wohl? Von Frau Melzer natürlich. Die war äußerst angetan von dieser romantischen Aktion. Vielleicht einfach nur typisch weiblich. Der unausweichliche letzte Akt eines Paares, welches sich ineinander verliebt hatte. So endeten alle Liebesromane. Zum Schluss „kriegen sie sich" und heiraten. In diesem Fall zwei Männer. In Frau Melzers Augen zwar ungewöhnlich, aber tolerierbar. Im Nachhinein hatte sie schon von vornherein gewusst, dass es mit Herrn Grewe und seiner Frau nicht auf Dauer gutgehen konnte. Sie wäre stets so hochnäsig gewesen. Der Herr Zeidler sei dagegen ein offener und freundlicher Mensch …! Meine Erinnerungen an Jans Frau sind nur vage. Als hochnäsig habe ich sie jedoch nie erlebt. Zurückhaltend war sie, sie stand nie mit anderen Frauen im Laden zusammen und tratschte. Vermutlich ging das Frau Melzer gegen den Strich, da es ihr Lebensinhalt war und ist, Bescheid zu wissen, was im Dorf vor sich geht! Eine Frau, die sich dem entzog, musste einem Charakter von der Art Frau Melzers nur suspekt vorkommen.

    Bastian war am ersten April damit beschäftigt, den Schicksalsschlag zu verkraften, dass sein Ex ebenfalls heiratete. Andreas Kruse, eine vergangene Beziehung. Sie waren nur kurz zusammen gewesen und Andreas hatte die Liaison beendet. Bastian hatte es seinerzeit schwer getroffen. Ich war damals nur ein zwischenzeitlicher Zeitvertreib für ihn gewesen. „So ganz ohne Sex ist furchtbar öde." Und da kam ich grade recht. Nein, er hätte sich nicht in mich verliebt, gestand er mir am Nachmittag dieses ersten Aprils, als er aufgestanden war. Offenbar musste er seine Seele erleichtern und mich mit seinen tragischen Erlebnissen langweilen und mir im Nachhinein noch Liebesqualen bereiten.

    Ich saß bereits seit unserem Nachhausekommen an meinem PC und versuchte zu arbeiten. Hatte endlich einen Einstieg gefunden, als er verpennt in meinem Arbeitszimmer erschien und meinte, mich unterhalten zu müssen. Belästigen traf es eher. Er lehnte sich, nur mit einer Boxershorts bekleidet ans Fensterbrett, verschränkte die Arme und starrte zwischen seinen melancholisch vorgetragenen Sätzen düster vor sich hin. Schwafelte von „echtem Gefühl, „wahrer Liebe und „nie wieder würde es mit einem Mann so schön sein." Ob ich das kennen würde, dass man sich nach einem Typen verzehrt? Dass man nichts anderes im Kopf hat als nur diese eine Person? Ich starrte ihn wortlos an und in mir begann es zu gären. Mal abgesehen davon, dass es ihn nichts anging, wie ich mich fühlte und wen ich heimlich begehrte – damals in der Zeit mit ihm war ich heftig in ihn verliebt gewesen! Er hatte das gewusst, ich habe ihm diverse Liebesbriefe geschrieben, die er permanent ignoriert hatte.

    Was also erwartete er von mir? Etwa Bedauern? Ich hatte im Sommer vor einem Jahr auch niemanden gehabt, dem ich mein Leid hätte klagen können! Ich blieb äußerlich ganz kühl, obwohl es in mir brodelte. Er solle sich nicht so anstellen, sagte ich stattdessen. Liebe kommt, Liebe geht. Nichts ist für die Ewigkeit. Außerdem hätte ich keine Zeit. Ob er nicht sehen würde, dass ich gerade arbeitete? Er grinste überheblich. Wäre doch alles nur Show von mir. Insgeheim würde ich ganz anders fühlen …so emotionslos wie ich mich gab, wäre ich doch überhaupt nicht! Ihm schien daraufhin etwas einzufallen, denn er schoss plötzlich wie von der Tarantel gestochen an mir vorbei, rannte die Treppe runter und ich hörte ihn in sein Zimmer laufen. Kurze Zeit später rief er mich. Ignorieren hätte keinen Zweck gehabt, er würde keine Ruhe geben. Also stand ich extrem genervt auf und ging nach unten. In seinem Zimmer hatte er seinen Laptop gestartet und sein Postfach geöffnet. Im Ordner „Willi" sah ich meine mails untereinander aufgelistet. Mails, die mir mit ihrem verliebt-naiven Inhalt heute die Schamesröte in die Wangen trieben.

    „Geliebter Bastian!!! Ich bin so unsagbar froh, dich getroffen zu haben! Noch nie war ich so glücklich wie heute Abend mit dir …" las er mir höhnisch vor und ich fühlte mich vor Peinlichkeit förmlich gelähmt. Was hatte ich mir damals nur gedacht, ihm derartige Geständnisse zu machen? Es obendrein schriftlich festzuhalten und ihm die Gelegenheit zu geben, es mir hier und heute brühwarm zu servieren. Mich daran zu erinnern, wie ausgeliefert ich mich gefühlt habe in meinem hormongesteuerten Gefühlszustand.

    „Oder hier: …sehne ich mich nach dir und deinem erregenden Körper! Das hast du geschrieben! Du angeblich cooler Typ! Das hört sich doch überhaupt nicht nach Coolness an – im Gegenteil, oder?" Wieder hatte er dieses widerwärtig spöttische Grinsen in seiner Visage. Er schien die Situation zu genießen, ja, er kostete sie aus. Ich bebte inzwischen innerlich und war dennoch in der Lage, ganz ruhig zu sprechen.

    „Das ist Schnee von gestern, Bastian. Das ist vorbei. Das kannst du alles löschen oder in den Ordner Erledigt schieben. Das mache ich nämlich mit solchen Affären, die es nicht Wert sind, dass man ihnen hinterher weint! Genauso hat es vermutlich auch Andreas Kruse gemacht mit dem Ordner Bastian. Ein schneller klick und die leidige Geschichte war beendet! Gott sei Dank! Das hatte gesessen. Ich sah nur noch sein wütendes Gesicht und bekam gar nicht mehr mit, dass er mir seine Faust ins Gesicht rammte. Ich stürzte rückwärts, sah zum ersten Mal in meinem Leben die oft zitierten „Sternchen und war tatsächlich für einen Augenblick „weg".

    Als ich meine Augen wieder öffnete – es waren keine dreißig Sekunden vergangen, sagte er mir hinterher – sah ich ihn neben mir knien und mich besorgt ansehen. Einen Waschlappen hatte er in der Hand, mit dem er mir das Gesicht wusch. Meine Nase tat unangenehm weh und blutete.

    „Oh mein Gott, Willi, das tut mir so leid …", stammelte er und war sehr besorgt. Er wuselte um mich herum, hatte sich ein Kissen von seinem Bett geschnappt und es unter meinen Kopf gelegt, betupfte meine Stirn, nestelte nervös ein Tempo aus der Packung, um damit die Blutung der Nase zu stoppen und wirkte insgesamt sehr fahrig und durcheinander. Mir wurde in dem Moment klar, dass er nie wieder so etwas tun würde. Es entsprach ihm nicht.

    Es war mit ihm durchgegangen, weil ich ihn übelst provoziert hatte. Dafür konnte ich insgeheim sogar Verständnis aufbringen. Das sagte ich ihm natürlich nicht. Ich sagte ihm gar nichts. Ich sah ihn nur an mit einem Ausdruck stummen Entsetzens. Mehr noch, ich hob abwehrend meine Hände, als er mir hochhelfen wollte, was ihn dazu brachte, noch schuldbewusster zu wirken. Das Tempo an die Nase gepresst, verließ ich sein Zimmer. Sein Zimmer …? Er bewohnte es übergangsweise. Am liebsten hätte ich ihn sofort hinausgeworfen, aber das schien mir aufgesetzt und zu dramatisch.

    An jenem Abend fuhr ich nach Hamburg, als er sich auf den Weg zur Arbeit ins Krankenhaus gemacht hatte. Ich musste mich ablenken. Die kleine Bar, die ich so gern gemocht hatte, durfte ich nicht aufsuchen, zu groß war meine Angst, dass mich der Barkeeper wiedererkennen und mich womöglich nach dem Verbleib des blonden Christian befragen würde, dessen fatale Ähnlichkeit mit Jans Flittchen seinerzeit zu einem netten kleinen Lustmord geführt hatte.[1] Oder dessen Kumpane trieben sich dort herum und mein Anblick könnte sie zu für mich unangenehmen Schlussfolgerungen treiben.

    Ich schlenderte zunächst durch die Gegend, dann betrat ich ein Porno-Kino und suchte mir eine Kabine. Die plumpen Aktivitäten auf der Leinwand stießen mich zwar ab, wahre Entspannung sah anders aus, dennoch gelang es mir, den größten Druck zu beseitigen. Draußen traf ich einen Jungen, der mich hungrig ansah. Einen Stricher. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn mitzunehmen. Ins Auto setzen und los. Irgendwohin fahren, wo es leer und einsam wäre. Auf der Motorhaube könnte ich ihn vögeln. Vielleicht würde es mir in dieser Nacht helfen. Der Junge sah mich mit großen Augen fragend an. Mich packte das Grausen, als ich seine Jugend in diesem Blick erkannte und wimmelte ihn ab, schenkte ihm aber zehn Euro.

    Keine Ahnung, was in dieser Nacht mit mir los war. Der ganze Tag war daneben. Immer wieder sah ich Jan und seinen glückselig strahlenden und vor allem frisch angetrauten Lebenspartner vor mir. Mörderischer Hass auf ihn und das Gefühl von nicht zu stillender Begierde zu Jan wechselten sich ab. Ich war schon auf dem Weg zu meinem Wagen, da tauchte sie auf. Eine Nutte, die in einem Hauseingang gelauert hatte. Schon etwas älter beim näheren Hingucken, aber ich hatte nicht vor, länger hinzugucken, geschweige denn mich auf sie einzulassen.

    Und doch … als ich sie sah, stiegen sofort Gelüste in mir hoch. Das Gefühl, heute noch eine wirkliche Befriedigung zu erfahren. Eine Befriedigung, die mit keinem noch so guten Orgasmus zu vergleichen ist. Das Gefühl, einen winzigen Augenblick vollkommen allmächtig zu sein, Herr über Leben und Tod. Zu wissen, dass dieser von mir auserwählte Mensch noch heute sein Leben beenden wird. Diese Gewissheit verschaffte mir unbeschreibliche Vorfreude und eine enorme Erektion. Die sie mit wissendem Grunzen sofort ertastete. Wahrscheinlich überlegte sie bereits, was sie mit den Einnahmen durch mich anstellte.

    Ich hatte mich von ihr in den Hauseingang ziehen lassen und dort standen wir nah beieinander. Eine Mixtur verschiedener Aromen nahm ich an ihr wahr. Haarspray, Pfefferminzkaugummi und Seifengeruch. Sie schien stark parfümiertes Waschpulver für ihre Klamotten zu benutzen. Überlagert wurden diese Grundgerüche von einem sehr süßen Eau de Toilette, was mich einerseits heftig abstieß und absurderweise gleichzeitig meine Lust steigerte.

    Sie roch ekelerregend geil! Ich hatte mich vorher umgeschaut und festgestellt, dass sich keine Menschenseele auf der Straße befand. Nach kurzem Plaudern betraten wir die triste Mietskaserne. Sie ging vor mir die schmuddelige Treppe hoch und meinte, mich mit gekonntem Hüftschwung zu erregen. Sie tat mir ein bisschen leid, am meisten jedoch amüsierte mich ihr Verhalten. Angewidert sah ich mich um. Das müsste Frau Melzer sehen. Dreck und Abfälle in allen Ecken. Der schmale düstere Flur, in dem wir zu ihrer Wohnung gingen, war nur spärlich beleuchtet. Hier stank es außerdem nach Katzenpisse.

    Die Wohnung war billig möbliert, aber zumindest auf den ersten Blick sauber. Wir durchquerten ein Wohnzimmer, das mich an den Rand eines Déjà-vu Erlebnisses brachte. Der Einrichtungsstil erinnerte fatal an Diether Königs Behausung. Gott hab ihn selig! Überall scheußlicher Nippes und nutzloser Zierrat. Auf Spitzendeckchen und Brokat-Läufern. Bei der Wanddekoration allerdings unterschieden sich ihre Geschmäcker. Diethers Raufasertapete zierten einigermaßen geschmackvolle Kunstdrucke und Fotografien von appetitlich aussehenden nackten jungen Männern, wohingegen sie – ich musste mich zwingen, ein Schaudern zu unterdrücken – Landschaftspuzzles hängen hatte. Wahrscheinlich von ihr selbst in Pausen zwischen einzelnen Freierbesuchen in mühevoller Kleinarbeit zusammengesetzte und anschließend zusammengeklebte Scheußlichkeiten der kitschigsten Sonnenauf und -abgänge an diversen Stränden, Gebirgslandschaften mit schneebedeckten Gipfeln und waldreichen Höhen. Über dem Sofa ein Bild mit drei treuherzig guckenden Hundewelpen im goldenen Licht der untergehenden Sonne.

    Im Schlafzimmer gab es Gott sei Dank keine derartigen Bildchen. Womöglich hätte ich mein Vorhaben dann nicht bewerkstelligen können! Ein Lustmord unter einem Puzzle-Bild, womöglich mit dem Konterfei von Lassie oder Kommissar Rex? Schier unmöglich. Ich sah mich in ihrem Allerheiligsten um und meinte, überall Spuren von Ejakulationen auszumachen von Hunderten von Männern, die im Laufe ihrer Jahre hier nach Befriedigung gesucht hatten. Auch glaubte ich es riechen zu können, obwohl das süßlich schwere Aroma ihres Parfums in der Luft hing. Überheizt und stickig war es hier. Nach Regelung der pekuniären Formalien zog sie sich sofort aus und stand in roten Strapsen und schwarzen Strümpfen vor mir. Ich fragte mich unwillkürlich, ob das die einheitliche Arbeitstracht einer Nutte ist. Wird die vom Arbeitgeber gestellt? Wahlweise in rot oder schwarz? Das ebenfalls rote Oberteil sah aus wie eine Art Brillengestell ohne Gläser, durch welches ihre Brüste fielen. Einen erstaunlich gut proportionierten und festen Körper hatte sie. Lediglich ihr Gesicht wirkte schlaff und müde. Offenbar war sie wohl doch noch nicht so alt.

    Sie ließ sich rückwärts auf ihr – im Übrigen sorgfältig gemachtes – Bett sinken, mit weit gespreizten Beinen und präsentierte mir ihr rasiertes Geschlecht. Es war nicht nötig, dass ich mich entkleidete. Das erwartete sie nicht. Also ließ ich lediglich die Hosen ein wenig herab. Während sie mit einem Gleitgel herumhantierte, zog ich das Kondom über, welches sie mir zuvor gereicht hatte. Sie stöhnte routiniert auf, als ich mit einem schnellen Stoß in sie eindrang und ich fragte mich, an was sie wohl denken mochte in solchen Augenblicken. Was mich angeht - ich bin ja inzwischen optisch sehr ansehnlich. Mehr als tageslichttauglich sozusagen. Aber was, wenn jemand wie Herr Dahle zum Beispiel zwischen ihren Beinen schnaufte oder wie Herr Melzer seinerzeit, der ebenfalls dickleibig und rotgesichtig war? Was für eine Laune des Schicksals, wenn womöglich genau diese soeben erwähnten Herren die Dienste dieser Dame in Anspruch genommen hatten! Dachte sie dann an jemanden wie Brad Pitt oder George Clooney oder einfach nur daran, was sie morgen einkaufen oder

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