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SPAS(S)TI: ...wenn Weglaufen keine Option ist
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eBook180 Seiten2 Stunden

SPAS(S)TI: ...wenn Weglaufen keine Option ist

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Über dieses E-Book

»Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Danke, aber ich sitze schon.«

Willkommen in meinem Leben. Ja, ich sitze im Rollstuhl. Und nein, für Selbstmitleid habe ich keine Zeit. Wozu auch? Ich bin ja schließlich nur behindert. Die Welt hat viel zu bieten. Für Rollstuhlfahrer genauso wie für Fußgänger (vor allem hohe Bordsteinkanten). Es braucht nur einen Blick über den Tellerrand und gelegentlich (öfter) eine kleine Auseinandersetzung mit der Krankenkasse. Zugegeben, funktionierende Aufzüge können durchaus auch von Vorteil sein.

Macht euch gefasst auf einen unverfälschten Einblick in meinen Alltag aus der Hinternperspektive.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Dez. 2019
ISBN9783749758258
SPAS(S)TI: ...wenn Weglaufen keine Option ist

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    Buchvorschau

    SPAS(S)TI - Anna Mühlhause

    1

    FANTASTISCH SPASTISCH

    Während ich hier sitze und den Anfang des Buches verfasse, liegt meine linke Hand etwas zusammengekrümmt und verkrampft neben mir. Viel machen kann ich mit ihr nicht. Ich bin praktisch das, was man im Volksmund gerne mal als »Grobmotoriker« bezeichnet. Lineal halten ist nur bedingt, mit links schreiben absolut gar nicht möglich. Ebenso ein Eis zu halten.

    Wenn ich mit jemandem in eine dieser traditionellen Eisdielen einkehren möchte, muss zuerst die kleine Stufe am Eingang überwunden werden. Beim Verlassen des Ladens bin ich dann meistens diejenige, die neben meinem eigenen auch das Eis meiner Begleitung in die Hand gedrückt bekommt. Es ist zwar ein Eis to go, scheinbar aber ohne therapeutische Wirkung. So muss sie meinen Rollstuhl und mich gefahrlos diese eine Stufe wieder hinunter, raus aus dem Geschäft, transportieren. Ich sitze also da, mit meinem Eis in der rechten und dem Eis meiner Begleitung in der linken Hand und muss irgendwie versuchen, beide Eistüten in aufrechter Art und Weise da runter zu bekommen. Ein bisschen wie bei »Domino Day«. Das Unfallrisiko ist dabei ungefähr mit dem eines Autofahrers gleichzusetzen, der vor Antritt der Fahrt vier Gläser Wodka geext hat.

    Bis vor ein paar Monaten noch konnte ich mit der linken Hand nicht mal den Stinkefinger zeigen. Seit meine Schwester das aber regelmäßig mit mir trainiert, wird es stetig besser und ich laufe in Sachen »Stinkefinger zeigen mit links« praktisch zu Höchstformen auf. Sie war es auch, die vor gar nicht allzu langer Zeit einmal zu mir sagte: »Wenn du mal nach Italien fahren solltest, kannst du problemlos die typische italienische Handbewegung machen. So wird keiner bemerken, dass du eigentlich Deutsche bist.« Ich liebe diese Hand und bin auch nicht bereit, irgendwas an ihr zu ändern.

    Zu verdanken habe ich meine heißgeliebte »Hundepfote«, so nenne ich meine Hand immer, der ebenso heißgeliebten Spastik. Ich bin also nicht nur ein gewöhnlicher Grobmotoriker, wie es wahrscheinlich zehntausende in unserer Gesellschaft gibt. Ich bin noch viel mehr als das! Ich bin ein waschechter Spastiker aus Fleisch und Blut und ich stehe – ähm Entschuldigung – sitze dazu! Gerade die jüngeren Leser werden jetzt wahrscheinlich schmunzelnd dieses Buch in der Hand halten oder sich vor Lachen auf dem Boden rollen und denken: Was, so etwas gibt es wirklich?! Ich dachte immer »Spasti« ist einfach nur ein lustiges Schimpfwort. Da muss ich euch enttäuschen, liebe Leute.

    Auf Mediziner-Deutsch ist eine Spastik eine Bewegungsstörung, die in Folge einer infantilen Schädigung des Gehirns entsteht und mit einer Tonuserhöhung der Muskulatur einhergeht. Aber jetzt mal weg mit dem ganzen fachchinesischen Geschwafel!

    Einfach formuliert: Durch Sauerstoffmangel vor der Geburt sind in meinem Gehirn bestimmte Nervenzellen abgestorben, die unter anderem für die Bewegungssteuerung zuständig sind. Dadurch wirkt mein Bewegungsmuster häufig abgehackt. Positiver Stress, also beispielsweise übermäßige Freude, lässt meine Muskulatur ebenso verkrampfen, wie Stress, Aufregung, Zeit- oder Leistungsdruck. In Verbindung mit Wahrnehmungs- und Koordinationsstörungen sowie einer Reihe von orthopädischen Begleiterkrankungen nennt sich dieses wunderschöne Gesamtpaket dann »spastische Infantile Cerebralparese« oder kurz ICP.

    »Infantil« steht dabei für frühkindlich und »Cerebralparese« für Hirnschädigung oder auch vom Gehirn ausgehende Lähmung. Nach der

    »Mensch-vor-der-Diagnose-Methode« bin ich also eine junge Frau mit infantiler Cerebralparese. In Spastikerkreisen nennen wir uns gegenseitig aber in der Regel nur ICP’ler oder, wenn wir uns gegenseitig aufziehen wollen, Spastis.

    Aber wie bei anderen Behinderungen auch, ist ICP’ler natürlich nicht gleich ICP’ler. Nein! Mediziner unterscheiden nach Ausprägung der Lähmung in drei Formen der spastischen Cerebralparese:

    Spastische Hemiparese: Es kommt zur einseitigen Lähmung in Armen und Beinen, die unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

    Spastische Diparese: Es treten Lähmungen in beiden Körperhälften auf, allerdings sind die Beine und Füße oft stärker betroffen.

    Spastische Tetraparese: Es treten Lähmungen in allen vier Extremitäten auf.

    Ich weiß nicht genau wer, aber irgendjemand hat sich dazu noch so eine lustige Einteilungsmethode namens GMFCS einfallen lassen. Dieses System, dessen ausgeschriebene Bezeichnung kein Laie aussprechen kann, hilft bei der Beurteilung der motorischen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen. Es wird dabei in fünf Stufen unterschieden:

    Stufe I: Der Betroffene kann ohne Einschränkungen gehen.

    Stufe II: Der Betroffene kann mit Einschränkungen, aber ohne die Verwendung eines Hilfsmittels gehen.

    Stufe III: Der Betroffene benutzt zur Fortbewegung eine Gehhilfe.

    Stufe IV: Die selbstständige Fortbewegung ist nur eingeschränkt möglich, möglicherweise wird ein Elektrorollstuhl benötigt.

    Stufe V: Der Betroffene ist vollkommen auf einen Rollstuhl angewiesen.

    Ich bin ein Tetra-Spastiker dritten Grades, damit praktisch fast rundum behindert. Im Gegensatz zu vielen Leidensgenossen, beschränkt es sich bei mir jedoch ausschließlich auf eine mittelschwere körperliche Behinderung. Auch epileptische Krampfanfälle machen um mich zum Glück einen großen Bogen. Zumindest bisher.

    Nach dem kleinen Exkurs ins medizinische Fachchinesisch nun aber wieder zurück zum Wesentlichen.

    Im Alltag ist dieses kleine Souvenir meiner Behinderung meistens ziemlich nervig, weil diese kleine Rampensau sich natürlich grundsätzlich genau dann immer unbedingt besonders präsentieren muss, wenn es eigentlich gerade gar nicht angebracht ist. Jegliche Form von Stress, Aufregung oder Freude zum Beispiel verstärkt die Spastik gefühlt um ein Hundertfaches. Entweder sitze ich dann in meinem Rollstuhl und fuchtele mit den Armen wie eine Schwalbe auf Extasy oder ich werde steif wie ein Brett. Oft sind meine Bewegungen dann noch abgehackter und unkontrollierbarer als sonst, ähneln denen eines tollwütigen Hundes.

    Der Vorteil dieser Sache ist allerdings, dass ich mir wahrscheinlich zeitlebens die 3,70 € für die »BRIGITTE« sparen kann. Statt »Schlank im Schlaf«, einer Kohlsuppen- oder eben der »Brigitte-Diät« habe ich mich nämlich für die »Spastiker-Diät« entschieden. Durch die dauerhaft massiv erhöhte Muskelspannung in meinem gesamten Körper und wahrscheinlich auch, weil ich sowieso bei allen Tätigkeiten mehr Kraft benötigte, nehme ich irgendwie nicht zu. Ich kann essen, was ich will und wiege seit Jahren konstant 43 Kilogramm. Das Ganze funktioniert absolut komplikationslos und einfach. Jedenfalls für diejenigen, die eine dementsprechend hohe Muskelspannung vorzuweisen haben. Ob dieses Diätkonzept allerdings auch in vierzig Jahren noch so gut funktioniert, weiß ich natürlich nicht. Da sich meine Spastik aber in den letzten Jahren spürbar verstärkt hat, bin ich diesbezüglich ganz zuversichtlich. Ganz nach dem Motto: »Fantastisch spastischschlanker Körper garantiert ohne, dass man kollabiert!«

    2

    »BEI DEN ANDEREN LÄUFT’S, BEI MIR ROLLT’S!«

    Den Großteil meiner Zeit verbringe ich ja, wie schon erwähnt, im Rolli. Wir, also mein grüner Grasfrosch und ich, kommen dabei sehr gut miteinander aus. Streit gibt es zwischen uns beiden eigentlich nie, naja gut, fast nie. Nur, wenn er mal einen Platten hat und ich dadurch ein echtes Problem bekomme, weil ich dann praktisch noch behinderter als behindert bin und das Haus nicht verlassen kann, muss ich ein ernstes Wörtchen mit ihm sprechen! Von »Behinderung einer Behinderten durch einen nicht funktionsfähigen Reifen« stand schließlich nichts in dem Kooperationsvertrag, den ich vor nunmehr neunzehn Jahren mit ihm abgeschlossen habe. Gott sei Dank ist dieser worst case allerdings auch erst zwei Mal in dieser gesamten Zeit eingetreten und mein Grasfrosch zeigte sich glücklicherweise ebenso verständnisvoll und einsichtig, wie reumütig, als ich ihn daraufhin wies, dass sein derzeitiges Verhalten gegen unsere partnerschaftlich getroffenen Vereinbarungen verstößt.

    Für manche Menschen in meiner Umgebung erscheinen mein Leben und der damit verbundene Alltag wahnsinnig kompliziert. Zugegeben, manchmal ist er das auch. Mein ganzer Tagesablauf ist wie der eines bestverdienenden Managers eines international bekannten Unternehmens, durchgeplant. Jedenfalls, was die Wochentage betrifft. Ich stehe morgens um 6: 30 Uhr auf und meine Mutter hilft mir bei den Vorbereitungen auf den Tag, anziehen, Haare kämmen und alles, was eben sonst noch so dazugehört. Sozusagen das all-inclusive Paket. In der Woche verzichte ich meist auf ein Frühstück. Nicht, weil die Zeit dafür nicht reichen würde, aber ich habe so früh am Morgen meistens noch keinen Hunger. Außerdem müsste ich ja dann noch früher aufstehen und dafür bin ich ehrlich gesagt zu faul.

    Wenn die morgendliche Routine erledigt ist, steht in der Regel um kurz nach sieben Uhr mein Taxi vor der Tür, das mich in die Schule bringen soll. Mit dem Taxi fahre ich, seitdem ich in der fünften Klasse bin. In der 1. Klasse hat mich meine Mutter noch jeden Morgen mitgenommen. Sie ist Grundschullehrerin und arbeitet an meiner ehemaligen Grundschule. Ab der zweiten Klasse hatte ich darauf aber irgendwie keine Lust mehr. Ich habe meine Klassenkameraden, die auf Dörfern wohnten und deswegen jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt zur Schule fuhren, immer bewundert. Relativ früh war deswegen eigentlich schon klar: Ich möchte auch mit dem Bus fahren! Auch, wenn es von meinem Zuhause nur vier Stationen bis zur Grundschule waren. Hesseröderstraße • Bochumer-Straße • Birkenweg • Salza-Bahnhof • AKS (Albert-Kuntz-Schule). Drei Jahre lang war das mein Schulweg. Der Busfahrer half mir mit dem Rollstuhl in und aus dem Bus und übergab mich an der Schule an meine Integrationshelferin, heute Schulbegleitung genannt. Aber zu diesem Thema später mehr. Jedenfalls war ich stolz wie Oskar, nicht mehr mit meiner Mutter zusammen in die Schule zu fahren, sondern auch mal alleine etwas zu schaffen.

    Das änderte sich mit Beginn der 5. Klasse. Direkt vor der neuen Schule gab es, anders als in der Grundschule keine Bushaltestelle und so musste ich auf ein Rollstuhltaxi zurückgreifen. Am Anfang war das ja alles noch super witzig, über eine Rampe hinten in den »Kofferraum« geschoben zu werden. Mit der Zeit aber wurde es nervig. Zum einen wurde mir klar, dass dieses kleine Stückchen, durch die Busfahrten gewonnene Freiheit und Selbstständigkeit gerade wieder Flöten ging. Zum anderen passiert es bis heute aber auch des Öfteren noch, dass das Taxi entweder zu spät oder manchmal auch gar nicht kommt. Dann stehe ich nach Unterrichtsschluss auf dem Schulhof und warte und warte, während alle meine Mitschüler, die zum Teil einen viel weiteren Heimweg haben als ich, wahrscheinlich längst schon zu Hause sind.

    Wenn meine Behinderten-Limousine aber pünktlich kommt, fahre ich hier zu Hause gegen zehn vor halb acht ab und bin dann ca. fünf Minuten später in der Schule. Zum Glück habe ich es nicht weit. Wenn ich bei uns im Garten sitze, kann ich das Dach des Schulgebäudes sogar sehen. Es sind nur etwa 300-400 Meter Luftlinie dazwischen.

    Um kurz vor acht beginnt bei uns der Unterricht. Je nachdem, wie viele Stunden ich habe, ist mein Schultag entweder um 13: 40 Uhr oder 15: 20 Uhr beendet. Wobei Ersteres eher die Ausnahme ist. Dann werde ich von meiner Behinderten-Limousine, einem Mercedes Benz Rollstuhltaxi wieder nach Hause gebracht. Dort warten meine Eltern und ein nicht allzu kleiner Berg Hausaufgaben und Lernstoff auf mich. Montags, mittwochs und donnerstags steht außerdem noch Physiotherapie auf dem Plan.

    Über die Jahre habe ich gelernt, meine Zeit effektiv zu verplanen. Deshalb nutze ich meine zwei Freistunden am Montagmorgen für die erste Physio-Einheit. Mein Vater, der hauptberuflich beim BehindertenTransportdienst »Anna-Service« angestellt ist, fungiert als Chauffeur und fährt mit mir die knapp 20 km von zu Hause in die physiotherapeutische Abteilung der Helios-Klinik Bleicherode. Dort steht ein Termin bei meinem, wie mein Vater sie liebevoll nennt, »Folterknecht« auf dem Plan. Habe ich das Bootcamp ohne Knochenbrüche oder sonstige Zwischenfälle überlebt, geht es anschließend direkt zur Schule. Hier folgt dann in der Regel noch Unterricht bis zur 8. Stunde.

    Mittwochs läuft die ganze Geschichte genau anders herum ab. Ich komme aus der Schule, habe kurz noch Zeit, um noch einmal durchzuatmen und fahre dann zur Physio. Das Beste kommt zum Schluss wie man so schön sagt, denn Donnerstagabend bin ich für gewöhnlich zur Therapie im Bewegungsbad. Vielleicht sollte ich mir demnächst eine Hängematte mitbringen, um die Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag zu überbrücken.

    Hausaufgaben und sonstiger Lernstoff werden da auch schon mal auf der Autobahn erledigt. Aber diese Umstände nehme ich gerne in Kauf und das ganze Schulzeug erledigt sich währenddessen auch noch irgendwie. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich am Ende eines Tages manchmal selbst frage, wie ich das heute wieder geschafft habe. Hin und wieder wäre ein 30 oder 35 Stunden-Tag doch ganz von Vorteil.

    Gestatten, ein ganz normaler Tag im Leben einer ziemlich behinderten Schülerin auf dem Weg zum Abitur. Das ist Alltag aus der Hinternperspektive.

    3

    »ICH BIN BEHINDERT, HOLT' MICH HIER RAUS!«

    Wenn ein Behinderter auf Reisen geht, kann es manchmal ziemlich lustig werden. Und nein, ich war nicht im Dschungel, ist ja auch überhaupt gar nicht barrierefrei dort, aber diese Geschichte ist einfach so bühnenreif, dass sie ein eigenes Kapitel verdient hat. Vorher aber noch kurz dringend benötigtes Hintergrundwissen zu meinen familiären Verhältnissen: Mein Vater arbeitete früher im Rahmen eines Austauschprogrammes für elf Jahre in Budapest bei einem ungarischen Bushersteller. Dort hat er dann irgendwann auch eine Frau kennengelernt, geheiratet und mit ihr zwei Kinder bekommen.

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