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Volker Bruck: oder Die Reise in den Osten
Volker Bruck: oder Die Reise in den Osten
Volker Bruck: oder Die Reise in den Osten
eBook283 Seiten4 Stunden

Volker Bruck: oder Die Reise in den Osten

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Über dieses E-Book

Das Jahr 1991 war eins der denkwürdigsten in der deutschen Geschichte. Die Währungsunion war vollzogen, die deutsche Einheit herge-stellt. Die Menschen in Ost und West wollten oder mussten mit veränderten Verhältnissen fertig werden, auch irgendwie miteinander auskommen lernen. Jenseits der großen Politik nahmen sie ihr Schicksal begeistert oder gedrungen an. Raushalten konnte sich niemand.
Mit gutem Willen gehen die Protagonisten der vorliegenden Geschichte an ihr Werk. Allerdings sorgen die sich aus oberflächlichen Urteilen und Halbwahrheiten zusammensetzenden subjektiven Befindlichkeiten hier und dort für Verwirrung, an denen die Gemeinschaft zu zerbrechen droht und das hohe Ziel, sich zusammenzuraufen, zeitweilig in unerreichbare Ferne rückt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Dez. 2019
ISBN9783750216174
Volker Bruck: oder Die Reise in den Osten

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    Buchvorschau

    Volker Bruck - Katharina Johanson

    Prolog

    Volker Bruck und Maria saßen sich am Küchentisch gegenüber. Sie plauderte während des Essens ungezwungen. Er aß schweigend und hörte mit halbem Ohr zu. Ab und an hob Maria die Stimme. Mit „Haben Sie gehört? oder „Ist doch wahr! versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit. Gewohnheitsmäßig quittierte Bruck an dieser Stelle mit „Aber ja oder „Ist ja interessant, obwohl er wenig Anteil nahm. Die Mahlzeit dehnte sich in die Länge. Den Mann und die Frau drängten nichts und niemand.

    Bruck schaute auf den Kalender am Schrank. Es war der 4. September 1990. Seit Monaten wartete Maria mit Episoden über die Entwicklung im Osten auf. Bruck reagierte mürrisch. Was gingen ihn die dortigen Ereignisse an? Ob die friedlich demonstrierten, irgendwelche Vereinbarungen trafen oder sich die Köpfe einschlugen, war ihm gleichgültig. Man lebte hier in München, hatte sich eingerichtet. Man lebte gut. Das Kapitel Osten war für ihn seit Jahrzehnten abgeschlossen. Bruck knurrte: „Lassen Sie doch bitte die Politik und den Osten sowieso." Maria schwieg pikiert, um wenig später unbekümmert auf ein anderes Thema einzugehen. Sie wollte ihn nicht verärgern. Sie kannte ihn gut und schätze seine ansonsten so friedfertige Art.

    Des Mannes heutige Einstellungen resultierten aus seinem Lebensüberdruss, ja einer sich allmählich eingeschlichenen Müdigkeit. Der jetzt fast Fünfzigjährige war auch in jungen Jahren niemals drängend oder stürmisch gewesen. Er neigte eher zu Zurückhaltung und Bedachtsamkeit. Er fühlte sich nie berufen, die Welt zu verändern. Er lobte sich die bescheidene Karriere eines Kunsthistorikers, strebte selbst im universitären Alltag niemals die hohen Ziele einer ordentlichen Professur an. Er mochte nicht im Rampenlicht stehen. Er blieb nach seiner Promotion Privatdozent. Ihm genügten seine Forschungen, gelegentliche Veröffentlichungen und die Arbeit mit wenigen, sehr begabten Studenten. Er richtete sich maßvoll, anspruchslos in der Mitte der Gesellschaft ein. Gerade diese Bescheidenheit beförderte seinen stetigen beruflichen Aufstieg und seine Beliebtheit im Umfeld. Da hätte er sich glücklich schätzen können. Allein, es war ihm nicht vergönnt, seinen kleinen Traum vom Glück fest- und lebendig zu erhalten. Das machte ihn schwermütig.

    Brucks Traum vom Glück war die junge, schöne Helena gewesen. Helena hatte bei ihm einige Semester Kunstgeschichte des frühen, abendländischen Mittelalters belegt, sich nicht nur als ausgesprochen talentiert für das Fach, sondern sich gleichfalls als sensibel für die Forschungsintentionen ihres Lehrers erwiesen. So kam es zu gemeinsamen Arbeiten, über diese zu intimer Vertrautheit und schließlich gingen sie den Bund fürs Leben ein. Die Vermählten hatten niemals materielle Sorgen. Sie schöpfte aus einer reichen Erbschaft, er aus den gut fließenden Tantiemen seiner Veröffentlichungen. Da leisteten sich die jungen Brucks das schöne Haus, beschäftigten ein paar Dienstleute, unternahmen Reisen, betrieben ihre wissenschaftliche Arbeit, pflegten einen auserwählten Freundeskreis. Bis zu dem Unglück! Helena starb an einem Fieber. Der Bund hatte gerade mal zehn Jahre Bestand gehabt. Bruck blieb verzweifelt und resigniert zurück.

    Nach Helenas Tod entließ Bruck den Gärtner und den Hausmeister mit der Begründung, man könne Dienstleistungen preiswert extern einkaufen. Nicht notwendige Sparsamkeit trieb den Witwer an, sondern der Wunsch nach völliger Ruhe. Helenas Räume durften nicht verändert werden, Altäre mit Porträts der geliebten Frau, mit Blumenschmuck und mit Kerzen wurden errichtet, Erinnerung und Trauer nahmen den Mann vollständig ein. Seine Haushaltshilfe Maria fortzuschicken, dazu kam er nicht, denn sie sah deutlich, wie sehr er im Begriff war, dieses Haus in ein Mausoleum zu verwandeln und sich selbst zu zerstören. Sie drängte sich dem Hausherrn förmlich auf. Sie riss konventionelle Schranken nieder und wendete sich ihm wie eine Mutter ihrem unmündigen Sohn zu: bestimmend und lebensbejahend. Brucks Lebensquell sprudelte neu, nun ja nicht gerade üppig, aber immerhin soweit, dass er seiner Biografie einige gute Schaffensjahre anfügen konnte.

    Diese Gedanken ließ Bruck Revue passieren, während sie speisten. Maria war heute für ihn weniger Hausangestellte als viel mehr Vertraute, auch wenn eine imaginäre Grenze immer bestand. Diese Grenze war kaum räumlich auszumachen. Sie war durch die unterschiedlichen Lebenssphären der beiden bedingt. Bruck glaubte zu wissen, dass sie nur dem Haushalt und ihren flüchtigen Unterhaltungen lebt, während er selbst sich tiefschürfenden wissenschaftlichen Analysen hingab.

    Kürzlich kam Maria mit folgender Neuigkeit: „Ich habe gelesen. Aha, wieder eins ihrer bunten Blättchen, vermerkte Bruck amüsiert und hörte weiter: „Ich las also, dass im Kaukasus Leute mit hundertzehn und noch älter leben. Wie kommt das?, mit Seitenblick versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit, „die Kaukasier trinken täglich ihren Wodka, die Engländer ihren Whisky und die Franzosen ihren Rotwein." Bruck war da im Zweifel. Er sagte nichts. Maria ergänzte nunmehr jeden Tag das Mittagessen mit einem Glas Rotwein. Er rührte den Wein nicht an.

    Maria hob demonstrativ ihr Glas in Brucks Nähe, prostete ihm zu und trank von dem schweren, roten Traubensaft. Ihr Mitteilungsbedürfnis wurde inzwischen vom gefüllten Magen gedämpft. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Bruck nahm dies als Aufforderung, sich zurückzuziehen. Er erhob sich, schob seine Brille zurecht, dankte und verabschiedete sich in die Bibliothek. Maria räumte das Geschirr in die Spüle, goss den vom Tischgenossen unberührten Wein zurück in die Karaffe. Sie überwand ihre Müdigkeit, nahm die Putzmittel zur Hand, stieg die Treppe hoch und begann im letzten Zimmer die Fenster zu polieren.

    Soeben hatte Bruck sich an seinem Schreibtisch in der Bibliothek niederlassen wollen, als draußen heftig geschellt wurde. Bruck lauschte. Würde die Maria öffnen gehen? Sie schien nicht gehört zu haben. Bruck bemühte sich selbst. In der Tür stand ein Fremder und forderte: „Lass mich gefälligst rein! Bruck gab perplex den Weg in die geräumige Diele frei. Der Fremde trat ein. Die Männer schauten sich forschend an, der eine unsicher, der andere lauernd. Da breitete der Ankömmling die Arme aus und sagte: „Lass Dich ans Herz drücken, Bruder. Der kleine, graue Bruck fühlte sich an eine muskulöse Brust herangezogen, von kräftigen Armen umschlungen und von derben Händen getätschelt. Erst jetzt realisierte er: Das ist Peter! Das ist mein Bruder Peter. Den hatte Bruck vor mehr als dreißig Jahren das letzte Mal gesehen, und damals war Peter noch ein Kind gewesen. Was will der denn hier?

    „Nun, dann komm rein, lud Volker Bruck den Bruder ein, eilte voraus zur Bibliothek und bot Platz an. „Was führt Dich in mein bescheidenes Heim?, überbrückte Volker seine Verlegenheit. „Bescheiden?, höhnte Peter, ließ sich schwer in den großen Sessel einer Sitzgruppe fallen und stellte mit ausholender Geste fest: „Wenn Du das hier bescheiden nennst, dann muss ich ja der ärmste Bettel sein. Der Hausherr, unschlüssig rumstehend, stammelte fassungslos: „Also, was führt Dich zu mir? Gezwungen setzte er hinzu: „Und sei mir willkommen. - „Prima, kommentierte Peter die Höflichkeit, „so soll’s gehen! - Frag‘ nach meinem Pläsier. Aber vorher einen Drink, bitte. Er lümmelte im Sessel. Volker ging zur kleinen Bar, entnahm ihr ein Glas und eine Flasche Cognac. Seine Hände zitterten und waren nur mühsam zu beherrschen. Er bediente den Bruder und stellte die Flasche wieder zurück. Peter heftig: „Lass die Flasche hier!" Volker gehorchte, setzte sich dem Bruder gegenüber, rückte die Brille zurecht und wartete auf einen neuen Anfang.

    Peter lehrte das Glas gierig, goss sich nach und holte dann aus: „Ich will’s kurz machen: Unsere Leute sind reene verrückt geworden. Jahrelang haben wir ihnen den Himmel auf Erden nicht nur versprochen, sondern auch hingebastelt. Dann kommt der Kohl, verspricht blühende Landschaften, und alles geht den Bach runter ..." Volker hatte sich inzwischen gefasst und dachte: Ist ja irre! Der Maria verbiete ich über diese ganze Ostpolitik zu reden, ich will nicht behelligt werden, da fällt dieser Kerl über mich her. Ich setze ihn in mein Haus, biete zu Trinken an, höre zu, statt ihm gleich an der Tür den rechten Weg zu weisen. Ist ja irre!

    Bruck musste zuhören. „Für mich sieht es jetzt ganz blöd aus, erklärte Peter, „ich bin jetzt sozusagen der Verlierer, wenn nicht ein Verfolgter, wenn man so will. Aber soweit lasse ich es nicht kommen. Ich bin weg. Er legte eine Pause in seine Rede, schaukelte die goldgelbe Flüssigkeit im Glas und gab dem Bruder Zeit zum Nachdenken. Der erinnerte sich: Der Peter, drei Jahre jünger als ich, hatte sich zum Landwirt ausbilden lassen und war dann zur Armee gegangen. Mehr wusste Volker nicht und mehr wollte auch gar nicht wissen.

    Peter kippte das Getränk runter, goss sich erneut das Glas voll und nahm den Faden wieder auf: „Da also die Siegerjustiz jetzt über unser Wohl und Wehe entscheidet, mein Lieber, suche ich das Weite. Und jetzt kommst Du ins Spiel: Da Du Dir jahrelang einen schönen Tag gemacht hast. Und ich betone: Dich verdrückt hast! - Volker hob abwehrend die schmalen Hände. Peter bekräftige: „Ja, verdrückt hast! - Jetzt bist Du also dran, Dich um Mutter und Vater zu kümmern. Volker Bruck saß wie mit einer Keule erschlagen im Sessel und hatte keinen Plan.

    Was soll das? Seine Gedanken irrten ab und noch ehe er etwas erwidern konnte, erhob sich der ihn um Haupteslänge überragende Peter, legte ein paar Zettel auf den Tisch und befahl: „Hier zur Auffrischung: Adresse, Telefonnummer und paar Daten, die Du brauchen könntest. Sieh‘ zu, dass Du den alten Herrschaften unter die Arme greifst! Schließlich log er: „Und glaube ja nicht, ich würde das nicht aus der Ferne überwachen können. Ich bin stets gut informiert und weiß Dich zu stellen. Volker Bruck blieb wie angewurzelt im Sessel sitzen. Peter Bruck verschwand wie von Geisterhand.

    Der Mann saß noch immer unverwandt vor sich hin starrend im Sessel, als die Maria gegen Abend in die Bibliothek lugte, um ihm zu bestellen, dass das Essen aufgetragen sei. „Um Himmels Willen, was ist Ihnen denn geschehen?, barmte Maria, schlug die Hände vorm Gesicht zusammen, eilte hinaus, kam mit einem kalt gewässerten Tuch und einem Glas Tee zurück. Vorsichtig balancierte sie die belebenden Mittel auf einem Tablett, stellte alles ab, befeuchtete Schläfen und Wangen des Mannes, und riet, langsam ein paar Schlucke Tee zu sich zu nehmen. Bruck erwachte aus seiner Erstarrung. „Es geht schon, versicherte er der sorgenvoll bemühten Maria. Die fragte wieder: „Um Himmels Willen, was ist denn geschehen? Sie sehen aus, als wäre Ihnen der Leibhaftige erschienen. - „Ist er auch, erklärte Bruck trocken, erhob sich und folgte der Frau in die Küche.

    Maria bereitete dem schweigend am Tisch hockenden Bruck ein Abendbrot aus mundgerechten Häppchen und wies streng an: „Es wird gegessen, Herr Doktor! Das fangen wir gar nicht erst wieder an." Volker Bruck würgte brav an den Happen. Mit Tee spülte er nach. Ist ja irre, resümierte er immer neu und wälzte seine Gedanken. Es lag ihm völlig fern, der Aufforderung des Bruders nachzukommen. Das zog er gar nicht in Betracht. Auch Drohungen konnten ihn nicht erschrecken. Brucks Ratlosigkeit und Betroffenheit resultierten allein aus der überwältigenden Macht, die von dem Bruder ausging. Binnen des Bruchteils einer Sekunde, hatte der andere ihn nachhaltig völlig aus der Bahn geworfen. Der mühsam über Jahre geschaffene Schutzwall war gebrochen.

    „Was ist passiert?, kam Maria unerbittlich auf ihre Frage zurück. Bruck gab betonungslos Auskunft: „Mein Bruder war da. Ich soll mich um die Eltern kümmern. Die Frau kannte seine Geschichte und ahnte, was in ihm vorging. Sie ließ ihm Zeit. Mochte er nachdenken. Er folgte ergeben den sich unweigerlich einstellenden Erinnerungen.

    Volker Bruck war in dem kleinen Ort Kerkow bei Berlin aufgewachsen. Zur Familie gehörten Vater, Mutter und Bruder Peter. Sie lebten von Landwirtschaft. Die Knaben wuchsen heran, besuchten die Schule, hatten Spielkameraden und ihre Hobbys. Die Welt war in Ordnung. Während der jüngste Sohn, der Peter, von Anbeginn eine große Affinität zur Arbeit auf dem Feld und im Stall hatte, war Volker eher den schönen Künsten zugetan. Er betätigte sich in einer Arbeitsgemeinschaft schreibender Pioniere, spann sich kleine Märchen aus, gewann auch Preise mit seiner Kunst, er malte und er las kunsttheoretische Abhandlungen. Volker war so gar nicht Bauer und wollte auch nie Bauer werden. Er erfüllte seine Pflichten im Haus und auf dem Hof so gut wie möglich und halbherzig. Die Eltern waren stolz auf die außergewöhnliche, feinsinnige, intellektuelle Begabung ihres Sohnes, ließen ihm so manche Nachlässigkeit bei der praktischen Arbeit durchgehen. Der Bruder nörgelte an Volker herum und machte dessen Ungeschicklichkeit zum Ziel von Spott und Hohn. Die Brüder lebten sich auseinander und gingen getrennte Wege.

    Volkers schulische Leistungen vermittelten ihm ein hohes Ansehen zu Hause, bei den Nachbarn, bei den Klassenkameraden und den Lehrern. Volker war was Besonderes. Er legte die Hochschulreife ab, und durfte dann doch sein Lieblingsfach, die Kunstgeschichte, nicht studieren. Ein Bruck müsse Landwirt werden, wurde ihm beschieden. Für ihn brach eine Welt zusammen. Sollte er ein Leben lang Erde schaufeln, Kuhställe ausmisten, Trecker fahren, eine Arbeit verrichten, die er weder beherrschte noch mochte? Da bot sich ihm ein Schlupfloch aus der Misere an: Schon lange hatte Volker eine freundschaftliche Beziehung zum Pfarrer des Ortes, dem alten Herrn Günzel. Als der das Unmögliche wahrnahm, wie hier eine erfolgversprechende Karriere verbaut werden sollte, engagierte sich der Mann und brachte den jungen Bruck in München an der hiesigen Universität unter. Das war im Herbst des Jahres 1960. Nicht für alle Zeit sollte Volker in den Westen gehen, sondern sich Qualifikation und Ruf erwerben und dann nach Hause zurückkehren. So war es eingefädelt und ging zunächst auch auf. Die Eltern berichteten den Nachbarn stolz von ihrem begabten Sohn, zeigten dessen Briefe herum, erzählten von den Telefonaten, man ließ Liebesgaben hin und her gehen, und die Leute bewunderten den hoffnungsvollen Spross der Bruck-Familie. Eines Tages knirschte es im Gebälk. Volker war vor die Wahl gestellt: Hals über Kopf die Koffer packen und heimfahren, um die Familie zu kitten, oder sich hier einrichten. Ohne Promotion wäre er daheim ein Blatt im Wind. Dazu kam die Frage: Wovon sollte er leben? Kuhställe ausmisten und Trecker fahren? Er blieb hier. Abbruch aller Kontakte. Keine Lebenszeichen mehr. Er richtete sich in der neuen Heimat ein. Er durchlebte Jahre schweren Heimwehs und klammerte sich an die letzten Worte der Mutter: „Versuche in der Fremde unterzukommen, mein Junge. Hier haben wir kein Glück gehabt." Diese Worte waren für ihn Rechtfertigung seines Handelns und Auftrag zugleich.

    „Eine gewissen Bequemlichkeit hat zur Entscheidung wohl auch beigetragen?, sagte Maria. Er stutzte ob der Punktlandung. Maria hatte ein bewundernswertes, sehr feines Gespür für sein Befinden. „Mag sein, gab Volker Bruck zu und bekräftigte: „Inzwischen hatte ich hier alles und dort nichts. Bedenken Sie, Maria, die anderen haben mich ausgestoßen. Ich war es nicht."

    Die Frau kannte seine Argumente. Widerspruch regte sich. Sie wollte ihn nicht brüskieren und dachte sich ihren Teil:

    Volker Bruck ist ein Schwächling. Er meidet jeden Kampf. Was als Zurückhaltung und Höflichkeit bei den Leuten gut ankommt, kann man auch als Bequemlichkeit verstehen. Ich will dem Bruck nicht unrecht tun, meinte die Frau bei sich, aber der strotzt nur so vor Bequemlichkeit. Vielleicht hat er einfach zu früh aufgegeben und jetzt holt ihn die Geschichte ein.

    Aufmerksam beobachtete sie, was und wie viel der Mann aß. Als sie sicher war, es genüge für heute, räumte sie den Tisch ab. Bruck stand auf, dankte und verabschiedete sich zur Nacht. Er stand schon in der Küchentür, da fragte Maria: „Und was werden Sie nun tun, Herr Doktor? - „Wahrscheinlich nichts, antwortete er. Maria missbilligend: „Wie immer." Darauf reagierte er nicht mehr. Den Einwand schob er weg. Er ging in sein Schlafzimmer. Maria beschloss, der Sache eine zuträgliche Wendung zu geben. Auch dem Volker Bruck war tief im Innern schon klar, dass dies nicht das letzte Wort war.

    Am nächsten Morgen traf er in der Küche auf eine völlig veränderte Situation. Der Tisch war nur für eine Person gedeckt. Bruck schaute sich um. Maria war weder zu sehen noch zu hören. Stattdessen fand er einen Zettel neben seiner Tasse: „Ich putze in den hinteren Räumen. Nicht vergessen: Die Mutter anrufen! Gruß Maria." Diese Einmischung in seine Angelegenheiten stieß dem Bruck gallig auf.

    Seine gewohnte Ordnung war empfindlich gestört. Er verzichtete auf das Frühstück und setzte sich in die Bibliothek. Das Telefon schwieg. Bruck schwieg auch. Maria sich ließ den ganzen Tag nicht blicken. Zum Mittag und zum Abendessen die gleiche Szene. Er aß widerwillig und wurde nervös. Sein häuslicher Friede geriet ins Wanken. Nach dem Abendbrot strich er durch die Räume und suchte die Frau. In der kleinen Einliegerwohnung, die ehemals der Hausmeister bewohnt hatte, fand er Maria.

    Sie hatte es sich bequem gemacht. Sie strickte an einem bunten Stück. Im Fernseher lief leise eine Unterhaltungssendung. Bruck schaute sich um: Sie hat offenbar ihr Zimmer im Vorderhaus geräumt. „Was soll das?, brach es heftig aus ihm heraus. Maria gelassen: „Ich wohne, wie es mir passt und wie es mir zukommt. - „Was ist denn los?", fragte der Hausherr um Nuancen milder. Maria deutete einladend auf die Couch. Er nahm Platz und hörte nun:

    „Ich habe mir mein Leben auch anders vorgestellt, als anderen Leuten den Dreck nachzuräumen. - „Das habe ich doch nie verlangt, rechtfertigte sich Bruck und sah gleich ein, wie unüberlegt der Einwand war.

    Na klar, am Anfang, als seine Frau ihren Stab an Dienstleuten hier einführte, war es ihm schon unangenehm aufgestoßen, sich bedienen zu lassen. Es war ihm peinlich, dass andere seine persönlichen Sachen pflegten und aufbereiteten. Helena fand das durchaus legitim. Sie war es nicht anders gewöhnt und redete ihrem Mann ein: „Wir können unsere Zeit nutzbringender anwenden, als uns um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Und denk mal, wovon soll denn der Hausmeister leben, wenn Du an seiner statt, die Wiese harkst oder die Wasserleitung reparierst? Diese Leute haben doch auch eine Daseinsberechtigung." Solche Erklärungen und sein beruflicher Erfolg gaben der Kräftekonstellation schließlich recht, bis er eines Tages nicht mal mehr darüber nachdachte, seine eigene Kaffeetasse in der Spüle abzustellen. Aber er hatte seine Maria doch immer gut behandelt, besonders in den letzten Jahren. Worauf lief ihre Betrachtung hinaus?

    „Meine Intention war wie die Ihre, eine gepflegte Akademikerlaufbahn hinzulegen und mich gemütlich zwischen Büchern und Vorträgen einzurichten. Ich hatte ähnliche Träume wie Sie. In der Schule bekam ich überall otlichno. Wir hatten zu Hause mehr Bücher über Geschichte, als manchmal Schuhe für den Winter oder so. Ich hatte sogar schon ein paar Artikel über Heimatgeschichte nach Moskau eingesandt. Die Antwort stand noch aus, als die Deutschen über uns herfielen und mich wegholten ..." Immer die gleichen Geschichten, vermerkte der Mann widerwillig und unterdrückte mühsam Einspruch. Er wusste, dass Maria in jungen Jahren in der Ukraine eingefangen und nach Deutschland zur Arbeit zwangsverpflichtet worden war. Doch was hatte das mit ihm zu tun?

    Maria referierte weiter: „Im fünfundvierziger Jahr war endlich Frieden. Ich konnte heimkehren. Aber wohin? Dort, wo ich früher lebte, war nichts mehr. Kein Mensch, kein Haus, kein Baum, nichts. Wissen Sie, was verbrannte Erde ist? Bruck schüttelte den Kopf. Maria vorwurfsvoll: „Dacht‘ ich mir. Nichts von dem, was an die hundert Kilometer jenseits der Isar geschieht oder geschehen ist, interessiert sie auch nur ein Gran. - „Das hat seine Gründe. Ich bin enttäuscht worden, quälte er sich ab. Maria: „Mann kann doch seine Enttäuschungen nicht ein Leben lang mit sich rumschleppen. Man muss doch verzeihen können. Er starrte missmutig vor sich hin. Sie nahm ihren Faden wieder auf:

    „Fünfundvierzig war ich siebzehn, viel zu jung, um alles zu überschauen. Eins war jedoch klar, auf verbrannter Erde neu anfangen, das konnte ich nicht. Ein Fehler? Vielleicht. Durch den Suchdienst hörte ich auch noch, dass kein Verwandter den Krieg überlebt hatte. Und hier, wenn auch alles Mögliche kaputt war, hier jedenfalls konnte man leben. Ich blieb und mit mir der Traum vom Studium der Historie. Aber wissen Sie, was man für Bildungschancen hat, wenn man die Landessprache nicht beherrscht und kein Geld hat? - „Kann es mir denken, pflichtete Bruck bei.

    Sie fuhr fort: „Aber ich bekam meine Chance. Ich büffelte deutsch, machte meine Qualifikation als Hauswirtschafterin, ich verdiente Geld, das Geld investierte ich in Bücher und von da an war ich zwar keine Akademikerin, aber als Heimatforscherin bekam ich Zuspruch." Sie stand auf, nahm aus einem Schrankfach einen Hefter und zeigte Handschriftliches und Gedrucktes vor.

    Bruck hatte Maria völlig verkannt. Es wohnen ja zwei Seelen in der Brust dieser Frau! Maria erläuterte dies und jenes. Er kam aus dem Staunen nicht heraus: Seine Haushälterin war Referentin auf den Heimatabenden der ukrainischen Landsmannschaft? Nervös schob Bruck die Brille zurecht. Maria ging auf dessen Verunsicherung ein: „Lieber Herr Doktor, wir sind alle nicht das, was wir scheinen oder vorgeben zu sein."

    Sie strahlte den Bruck an. Der stammelte ob der Wendung dumm: „Und nun? - „Was, nun?, äffte Maria, mäßigte sich und redete gewinnend: „Das erzähle ich Ihnen doch nicht, um vor Ihnen anzugeben, sondern um zu zeigen, dass man manchmal Umwege gehen muss, weil die Umstände es verlangen. Und ich möchte von Ihnen ernst genommen werden! Es wird einem doch niemals alles auf dem Silbertablett geliefert. Bruck stöhnte auf: „Als hätte ich es immer nur leicht gehabt. - „Ich respektiere Ihre Bemühungen. Nur jetzt betreiben Sie so eine Art Vogel-Strauß-Politik. Damit schaden Sie sich und schaden Ihrer Familie. Maria hob die Stimme: „Ihre Familie wartet!

    „Ja, klar, warf Bruck hin und fragte unbeholfen: „Wann ziehen Sie wieder nach vorne um? - „Wenn Sie die Mutter angerufen haben", sprach sie energisch.

    Das Telefonat mit der Mutter verlief einsilbig: „Wie geht es? - „Gut. - „Was macht der Vater? - „Ist alt geworden. - „Kommt Ihr zurecht? - „Geht schon." Volker Bruck plagte sich durch ein paar Minuten nichtssagender Floskeln, verabschiedete sich höflich und legte auf. Sein Resümee: Mutter und Sohn konnten nichts mehr miteinander anfangen. Die Trennung war absolut.

    Allein, Maria zog auch als Bruck mit der Mutter telefoniert hatte,

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