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Die Leute von nebenan: (An Author Bites the Dust)
Die Leute von nebenan: (An Author Bites the Dust)
Die Leute von nebenan: (An Author Bites the Dust)
eBook288 Seiten4 Stunden

Die Leute von nebenan: (An Author Bites the Dust)

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Über dieses E-Book

Wieded einmal übernimmt Inspektor Bonaparte, der berühmte »Bony«, einen Kriminalfall, über den bereits Gras gewaschen ist: den rätselhaften Tod des Schriftsellers Mervyn Blake.
Zum Glück hatte Blake eine sehr neugierige Nachbarin, deren scharfen Augen nur wenig entging…
Arthur W. Upfield: geboren 1888 in England, wanderte nach Australien aus und bereiste per Anhalter diesen Kontinent. Seine dabe als Pelztierjäger, Schafzüchter, Goldsucher und Opalschürfer gewonnenen Erlebnisse fanden Eingang in 30 Kriminalromane. Hauptfigur ist der sympathische Inspektor Bonaparte, der mit faszinierender Findigkeit verzwickte Situationen und menschliche Probleme zu entwirren versteht.
Upfield starb 1964, und »Reclams Kriminalromanführer« meint zu seinem schriftstellerischen Lebenswerk: »Seine Krimis gehören zum Besten, was die australische Literatur zu bieten hat.«
SpracheDeutsch
HerausgeberETT Imprint
Erscheinungsdatum1. Okt. 2023
ISBN9781923024397
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    Buchvorschau

    Die Leute von nebenan - Arthur W. Upfield

    1

    Der große Raum, in dem der Australische Schriftstellerverband alle zwei Monate eine Tagung hielt, war am Nachmittag des 9. November gut gefüllt. Die Mitgliederzahl des Verbandes war schon ganz beachtlich, denn in den literarischen Kreisen Australiens waren allmählich viele zu Ansehen gelangt. Präsident war der bekannte Romanschriftsteller und Kritiker Mervyn Blake.

    Er war auch der Hauptredner auf diesem Kongreß und trug seine Ansprache sehr selbstsicher vor. Die Rede begann kurz nachdem der Tee serviert war, um 15 Uhr 30, und endete gegen 17 Uhr unter höflichem Händeklatschen der Zuhörer. Um 17 Uhr verließ Blake das Gebäude zusammen mit Miss Nancy Chesterfield, Redakteurin der Spalte ›Aus der Gesellschaft‹ in der Zeitung ›The Recorder‹.

    Blake, ein Mann in den Fünfzigern, war groß und schlank, hatte eine blühende Gesichtsfarbe, aber durchaus nichts Weichliches. Sein Haar war noch immer so braun wie seine Augen, und für sein Alter wirkte er recht elastisch. Erfolg und wachsender Wohlstand hatten seine Haltung gestrafft.

    »Freut mich, daß Sie heute so gut abgeschnitten haben«, sagte er zu Miss Chesterfield, als sie durch die Collins Street zum Hotel Australia gingen. »Wollen wir Ihren Handkoffer bei der Redaktion abholen?«

    »Ja, bitte, Mervyn. Ich habe ihn beim Portier abgestellt, also brauchen wir gar nicht nach oben zu gehen. Mein Kompliment übrigens zu Ihrer Rede. Aber -«

    »Was, aber?«

    »Ich weiß nicht recht. Meinen Sie, daß moderne Romane, wenn der Verfasser sie in solcher Lange, solchem Umfang und mit so vielen Abschweifungen schriebe wie etwa Sir Walter Scott oder Thackeray, den Verlegern willkommen wäre?«

    »Nein, ganz bestimmt nicht. Der moderne Verleger muß dem Verlangen der heutzutage verhältnismäßig gebildeten Masse nachgeben, und er tut es auch. Früher waren die Verleger stolz, ihren Teil zur Schönen Literatur beizutragen, aber heute suchen sie nach Sensationen, weil die Aktionäre Dividenden sehen wollen. Doch der ganze Streit ist trockener Kram - außerdem habe ich auch gar keine Lust, gerade Ihnen zu erklären, wie Romane geschrieben werden müßten. Überhaupt habe ich die Literatur satt, und nicht zuletzt deshalb bat ich Janet, mir zu gestatten, daß ich Sie heute abend ausführe.«

    »Wird Ihnen die Geselligkeit in Ihrem Hause langweilig?« fragte sie, als sie im Gedränge auf dem Bürgersteig wieder zusammenkamen.

    »So langweilig, daß nicht einmal der Kognak dagegen hilft.«

    Sie sprachen nicht mehr, bis sie gemütlich in einem Vorraum des berühmten Melbourner Hotels sagen. Dort bestellte er Gin mit Vermouth für seine Begleiterin und für sich selbst Kognak und Ingwerbier. Ihr fiel auf, daß er gleich einen doppelten Kognak verlangte.

    »Aus welchen Gründen haben Sie eigentlich Janet gebeten, mich einzuladen?« fragte sie.

    Er kippte den Kognak hinunter wie leichtes Bier und winkte dem Kellner. »Schauen Sie nur in Ihren Spiegel, dann haben Sie einen der Gründe«, sagte er. »Ich wünschte, ich wäre jung und nicht verheiratet. Ich wünschte, so jung zu sein wie Sie und schon alle Erfahrungen und Erfolge zu haben, die ich jetzt habe! Verdammt, bis wir zu Erfolg kommen, sind wir alt und können uns nur noch mit Schnaps trösten. - Noch einen doppelten bitte, Kellner. Für die Dame im Augenblick nichts.«

    »Und die sonstigen Gründe?« drängte Nancy Chesterfield. Bei ihrer Erscheinung, in dem elegant geschneiderten schwarzen Kostüm, der blaßgrünen Bluse und dem modischen schwarzen Hut, der den Glanz ihres fast goldenen Haares noch betonte, wäre jeder Mann mit Stolz ihr Kavalier gewesen.

    »Ein weiterer Grund ist, daß ich Ihnen einen vollständigen Bericht von dem geben möchte, was ich heute nachmittag vorgetragen habe. Publizität, Bekanntwerden ist für den Schriftsteller lebensnotwendig«, sagte er mit brutaler Offenheit, die nur durch sein Lächeln gemildert wurde. Der zweite Kognak wurde serviert. Wieder trank er ihn in einem Zuge. »So ist's besser. Noch einen, Kellner, und noch einen Gin mit Vermouth. - Habe seit dem Vormittag noch keinen gehabt, Nancy. Eine Party zum Wochenende ist ja ganz schön, aber wenn sie sich über die ganze nächste Woche hinzieht, geht sie einem doch stark auf die Nerven. Ich bin froh, daß ich die anderen Gäste nicht extra aufzufordern brauchte, denn ich wollte sie hier nicht um mich haben. Marshall Ellis ist ein langweiliger Geselle, und ich kann einfach nicht begreifen, daß ihm noch keiner eine runtergehauen hat. Wilcannia-Smythe reizt mich manchmal zur Wut, Lubers ist ein humorloser Bilderstürmer, der mich nervös macht, und Elia wirkt nach vierundzwanzig Stunden furchtbar deprimierend. Bleibt noch Twyford Arundal, der wirklich amüsant sein kann, wenn er ordentlich einen gehoben hat. Janet wurde ein bißchen schwierig und ich habe zuviel getrunken.«

    »Eine sehr betrübliche Geschichte, armer Mervyn. Machen Sie sich nichts draus. Janet hat nun mal gern Leute um sich, und bald wird Ihre Party ja auch vorbei sein, nicht wahr?«

    »Ja. Natürlich bin ich mit ihr bis zu einem gewissen Grade durchaus einig. Man muß gesellig sein, muß die Menschen entsprechend ausnutzen, vor allem einflußreiche Leute, und der Held des Tages ist zur Zeit in London unbedingt einflußreich. Täuschen Sie sich bitte nicht: Ich nutze auch Sie aus, bin Ihnen aber auf meine Art zugetan, denn Sie werden mich, wenn Sie jetzt wieder mit mir nach Hause gehen, bei Verstand halten, Ihr Glas ist leer.«

    Sie verließen das Hotel fünf Minuten nach achtzehn Uhr und gingen zum Parkplatz, wo Blake seinen Wagen abgestellt hatte. Nancy Chesterfield wollte gern ans Steuer, doch Blake lehnte ab. Seinem Gang war nicht anzumerken, wie der Alkohol auf ihn gewirkt hatte, und auch beim Fahren fiel das anfangs nicht auf; man merkte es lediglich an seiner Stimme. Er sprach jetzt sehr langsam und deutlich, in einer Tonart, die er liebte, weil er sie für feinstes Englisch hielt.

    Nachdem er ihren Koffer abgeholt hatte, fuhr er mit äußerster Vorsicht, bis er die Endstation der Straßenbahn hinter sich hatte, schlug dann aber ein so beängstigendes Tempo an, daß sie ihm Vorwürfe machte.

    »Meine liebe Nancy, wir fahren ja auch keinen Ford vom ältesten Typ«, widersprach er. »Ich habe gute Nerven und weiß auch die Augen offenzuhalten.«

    »Aber meine Nerven sind heute nicht besonders gut. Ich hatte mit dem Chef einen ärgerlichen Vormittag«, erklärte sie.

    »Ach nein! Sie setzen mich in Erstaunen. Nur schöpferische Schriftsteller haben ein Recht auf Nervosität. - Wenn die alte Dame da vorn nicht in zwei Sekunden von der Straße weg ist, wird es sie erwischen, wie das Volk so schön schlicht sagt.«

    Immerhin fuhr er nun in gemäßigtem Tempo die nahezu sechzig Kilometer bis Wesburn und passierte ganz besonders vorsichtig einige Langholzwagen, die aus den fernen Bergen kamen. Kurz nach der Einfahrt in Wesburn bogen sie von der Chaussee auf einen Nebenweg und gleich darauf fuhren sie durch ein Doppeltor in einen großen Garten, der ein geräumiges Haus umgab.

    In der Diele wurden sie von Mrs. Blake und Mrs. Ella Montrose begrüßt. »Sehr nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Nancy!« rief Janet Blake herzlich. »Kommen Sie rein, Sie können mein Zimmer haben. Ella wird Ihnen eine Tasse Tee bringen, während Sie sich umziehen. Viel Zeit ist nicht mehr. Mervyn hätte Sie eigentlich schon ein paar Stunden früher herbringen sollen.«

    »Wir haben nach der Tagung ein bißchen geschwatzt«, erklärte Nancy, als sie ihrer Gastgeberin zur Treppe folgte. Hinter sich hörte sie, wie Mrs. Montrose zu Mervyn Blake sagte, seine Abendmilch stände bereits im Schreibzimmer, und sie erinnerte sich, daß Blake nach einem betriebsamen Nachmittag stets Milch trank, um den Abend besser durchzuhalten.

    Das Abendessen verlief ganz ungezwungen. Die Gäste kannten sich alle schon lange, mit Ausnahme von Marshall Ellis, dem Besucher aus England. Die Blakes waren für ihre Gastfreundschaft bekannt, die sich besonders auf Leute mit literarischen Neigungen erstreckte, zur Zeit hatten sie außerdem einen vortrefflichen Koch und ein gutes Dienstmädchen im Haus.

    Acht Personen saßen bei Tisch. Mervyn Blake, sehr gepflegt, nüchtern und geistig rege, am Kopfende. Zu seiner Rechten der Ehrengast, Marshall Ellis, einer der führenden Literaturkritiker Londons. Nancy Chesterfield mochte ihn nicht leiden, hütete sich aber, ihn wegen seiner Nachahmung G. K. Chestertons aufzuziehen. Schließlich beschränkte sich diese ja auch nur auf den Bauch, die Frisur und den Klemmer am breiten schwarzen Band. Sein Gesicht glich dem eines groggy geschlagenen irischen Hafenarbeiters, doch seine Stimme fand Nancy sehr wohltönend.

    Neben ihm saß Ella Montrose, eine Frau von fünfzig Jahren, dunkelhaarig, mit der Miene einer Tragödin. Sie hatte in jungen Jahren zwei Romane geschrieben und verdiente sich seitdem ihren Unterhalt durch Buchkritiken und Artikel für literarische Zeitschriften. Vielleicht hätte sie besser getan, eine Familie zu gründen, anstatt sich mit mystischen Kulten wie Odinismus und Voodooismus zu beschäftigen.

    Ihr Nachbar war Martin Lubers, ein kleiner, adretter Herr mit raschen, gewandten Bewegungen. Er war über vierzig,· hatte rehbraune Augen, braunes Haar und einen gestutzten Schnurrbart. Nancy fragte sich, wie er es fertiggebracht hatte, sich hier eine ganze Woche zu halten, denn er wurde immer gleich mächtig massiv gegen Leute, die seine Meinung nicht teilten.

    Es folgte Blake, dann Nancy; ihr zur Linken saß der zurückhaltende, höfliche, weißhaarige Wilcannia-Smythe, der in dem Ruf stand, die bestklingende Prosa in Australien zu schreiben. Schlank, stets elegant gekleidet, war er seit langen Jahren Konkurrent und zugleich Freund von Mervyn Blake. Danach folgte in der Tischordnung Twyford Arundal, klein, hager, kurzsichtig und mit schwächlichem Kinn, aber ein Dichter von Rang.

    Zuletzt, doch bei weitem nicht als die unwichtigste Persönlichkeit, sei Mrs. Janet Blake erwähnt, die am anderen Tischende saß. Nach der Prominentenliste des Landes war sie einundvierzig, was manche Leute gern bestritten hätten. Sie war vollschlank, aber nicht dick, ihre dunklen Augen waren unruhig, der Mund ließ trotz der festen Lippen auf Großzügigkeit schließen, ihr Kinn war kantig und kraftvoll. Sie lächelte selten, und Nancy Chesterfield hatte den Eindruck, daß die verlängerte Wochenendgesellschaft ihr sehr zugesetzt hatte.

    Im großen Ganzen verlief das Essen sehr harmonisch. Der Gastgeber verstand, über Nichtigkeiten interessant zu sprechen und seine Freunde in die Debatte zu ziehen. Marshall Ellis erzählte von einem berühmten Romancier, den er gut kannte, und wer die Augen schloß, konnte sich für den Klang seiner Stimme begeistern. Nach dem Essen, um neun Uhr, versammelten sich alle in der Diele, wo Mrs. Blake persönlich den Kaffee servierte. Dann ging man zu gehaltvollen Getränken über, nur Wilcannia-Smythe trank nicht. Alle rauchten Zigaretten, außer Ellis, der eine Zigarre nach der anderen qualmte, so daß die Luft, obwohl alle Türen und Fenster offenstanden, von blaugrauem Nebel erfüllt war.

    Das Gespräch kam auf den Vortrag, den Blake nachmittags beim Schriftstellerkongreß gehalten hatte: »Die Struktur des Romans«. Und schon mußte Martin Lubers einen seiner bissigen Einfälle dazwischen pfeffern, die Versuchung war allzu stark.

    Die Diskussion wurde mit aller Leidenschaft geführt, man redete sich in Hitze, die Meinungen prallten hart aufeinander. Und es kam dahin, daß Martin Lubers, der die exklusiven Ansichten der Leute um Blake und Wilcannia-Smythe über Literatur nicht teilen wollte, den Gastgeber sehr verärgerte.

    Die Peinlichkeit der Situation war erst um halb zwölf behoben, als Ella Montrose erklärte, zu Bett gehen zu wollen. Die Gesellschaft erhob sich, und man wünschte sich gegenseitig gute Nacht. Blake bat Wilcannia-Smythe, die Tür zum Garten hinter ihm abzuschließen, sobald er hinausgegangen sei, um sich in sein Arbeitszimmer in dem kleinen Nebengebäude zurückzuziehen.

    »Gehen Sie aber auch wirklich schlafen, Mervyn«, riet ihm Ella Montrose leise lachend. »Werden Sie nicht etwa noch am Zaun zärtlich mit der ungewöhnlichen Dame Pinkney!«

    »Viel lieber, verehrte Ella, möchte ich Miss Pinkney den dürren Hals durchschneiden«, entgegnete er.

    Nancy Chesterfield schlief die ganze Nacht fest, bis ihr früh um halb acht das Hausmädchen den Morgentee brachte. Als sie aus dem Badezimmer kam, begegnete sie Ella Montrose, die wie ein kleines Kind nach harter Bestrafung wimmerte. Da Nancy auf ihre Frage keine Erklärung bekam, bat sie Ella in ihr Zimmer und versuchte sie zu beruhigen. Mrs. Montrose stieg hervor: »Mervyn! Die Männer wollten ihn zum Frühstück rufen. Sie sagen, er - sei - tot. Liegt in seinem Schreibzimmer dicht hinter der Tür. Die Tür war zu, er hat nicht herauskommen können. Er griff noch nach ihr, um sie aufzumachen, aber er - er konnte - nicht hinaus ... «

    2

    Miss Priscilla Pinkney flatterte unruhig wie ein junger Vogel hin und her. Mit vor Aufregung bebendem Herzen trippelten ihre kleinen Füße von einem Zimmer der Villa ins andere. Einmal eilte sie auf die vordere Veranda, um mit kritischen Blicken den gepflasterten Weg zu betrachten, der zum Gartentor führte, dann wieder begab sie sich hinters Haus, wo sie den. gut gepflegten Gemüsegarten bis zu den Fliederbüschen überblicken konnte, die den Zaun an der Rückseite und zum Teil auch das gelblich gestrichene Gebäude dahinter verdeckten, das Häuschen, wo Australiens bekannter Schriftsteller und Kritiker Mervyn Blake eines plötzlichen Todes gestorben war.

    Miss Pinkney fand das Leben höchst interessant, hatte es schon interessant gefunden von dem Augenblick an, als sie erfuhr, daß Mr. Blake das benachbarte Grundstück gepachtet hatte. Seitdem kam in ihr ruhiges und ein bißchen langweiliges Dasein Bewegung, ein Höhepunkt folgte dem andern durch die Besucher, die bei den Blakes erschienen: berühmte Schriftsteller, Maler und Rundfunkgrößen.

    Und nun war Mervyn Blake tot in seinem Arbeitszimmer am Ende des Gartens gefunden worden, in dem kleinen Haus direkt hinter ihrem Gartenzaun. Tagelang liefen die Polizisten auf dem ganzen Grundstück herum, sie reckten sogar die Hälse, um über den Zaun hinweg Miss Pinkney zu beobachten, wenn sie mit hochgeschürztem Rock, alten Schuhen und Gärtnerhandschuhen ihre Gemüsebeete bestellte.

    Sie hätte der armen kleinen Witwe gern einen Beileidsbesuch gemacht, unterließ es aber, weil ein Gefühl ihr sagte, eine Frau, die nie auch nur angedeutet hatte, daß sie Freundschaft mit den Nachbarn wünschte, würde für diese Aufmerksamkeit gar kein Verständnis haben. Und das Seltsame an der Geschichte war, daß der Coroner sich nicht klar darüber zu werden schien, woran Mr. Blake gestorben war.

    Das lag schon Wochen zurück, doch jetzt, gerade als ihr Leben wieder in die übliche Eintönigkeit zurückzufallen drohte, hatte der nette Wachtmeister Simes sie auf der Straße angesprochen und ihr erklärt, er würde ruhiger schlafen, wenn er einen Mitbewohner in ihrem Hause wüßte, da zur Zeit in Melbourne und Umgegend massenhaft Verbrechen verübt würden. Sie hatte Simes auseinandergesetzt, daß sie weder Verwandte noch Freunde besitze, die es einrichten konnten, bei ihr zu wohnen, worauf der liebe Kerl ihr versprochen hatte, einen ruhigen, feinen Menschen als Pensionsgast ausfindig zu machen.

    Schon am folgenden Tag war Simes gekommen, um ihr zu melden, daß er genauso einen Herrn gefunden habe, wie er ihn sich dachte - ein wahres Ideal -, und Miss Pinkney hatte sich bereit erklärt, ihn als zahlenden Gast aufzunehmen. Jetzt gleich sollte er erscheinen! Sie hatte sich selbst und ihr Haus aufs schönste hergerichtet. Aber halt ... !

    Wo steckte Mr. Pickwick? Sie hatte doch tatsächlich vergessen, ihm ein frisches Halsband umzulegen. Ein Glück, daß ihr das jetzt noch einfiel! Sie eilte erst in die Küche, dann hinten in den Garten, und rief: »Mr. Pickwick! Lieber Pickwick, wo bist du?«

    Ein riesiger rabenschwarzer Kater tauchte aus dem Schatten eines Kamelienbusches auf und folgte Miss Pinkney ins Haus, wo sie ihm das fleckige blaue Seiden band abnahm, das ganz wie ein Hosenband aus der viktorianischen Epoche aussah, und ihm ein ähnliches orangegelbes umlegte. In diesem Moment klopfte jemand an die Haustür. »Miss Pinkney?« rief der Besucher.

    »Ja, ich komme schon! Sie sind ... ?«

    »Mr. Napoleon Bonaparte. Wachtmeister Simes hat mir von Ihnen erzählt und gesagt, Sie seien bereit, mir für ein paar Wochen eine ruhige, friedliche Unterkunft zu gewähren.«

    »Ja, das stimmt, Mr. Bonaparte«, versicherte sie hastig. »Oh, ich sehe, Sie haben Ihr Gepäck schon mitgebracht. Würden Sie es selbst hereintragen? Leider habe ich kein Personal, keinen Hausdiener oder sonst jemanden. Bitte treten Sie ein.«

    Inspektor Napoleon Bonaparte hatte seinen Hut abgenommen und lächelte Miss Pinkney zu, die auf der obersten der drei Verandastufen stand. Er sah eine schlanke, grau gekleidete Frau mit grauem Haar, deren kleines Gesicht vor Erregung ganz rot war. Ihre etwas vorstehenden grauen Augen glänzten freundlich.

    »Danke sehr«, sagte er, »ich trage meinen Koffer selbst. Ein entzückendes Haus haben Sie hier! Und der Garten, ganz prächtig, - Oh!«

    Der Kater kam die Vortreppe herunterspaziert, den Schwanz hochgereckt, die großen gelben Augen prüfend auf den Besucher gerichtet. Bony bückte sich und streichelte Mr. Pickwick, der behaglich schnurrte.

    »Ah, Sie lieben Katzen, das sehe ich gleich!« rief Miss Pinkney beglückt.

    Der zahlende Gast gab zu, daß er Katzen gern hatte, und als er sich umdrehte, um seinen Koffer vom Tor zu holen, trottelte Mr. Pickwick zutraulich hinter ihm drein.

    »Bitte näherzutreten«, wiederholte Miss Pinkney. »Ich werde Ihnen sofort Ihr Zimmer zeigen. Kommen Sie, in der Sonne ist es heute so schrecklich heiß.«

    Sie ging ihrem Gast voran in die Diele, wo an den getäfelten Wänden drei große Ölgemälde mit Segelschiffen hingen. Bonys Blick wanderte von den Bildern zu der Schiffslaterne, die in einem Halter an der Wand dicht neben der in die Wohnung führenden Tür hing. Miss Pinkney blieb im Flur vor einer Tür an der rechten Seite stehen, lächelte und machte eine kleine, zum Eintreten auffordernde Handbewegung.

    Bony murmelte seinen Dank und ging hinein. Die Wände waren mit naturfarbenem Mahagoni getäfelt. Das Bett glich einer Schiffskoje, breit, lang und einladend. Über der Koje saß ein richtiges Bullauge aus Messing, die Innenseite der Glasscheibe war hellblau gestrichen, um den Himmel vorzutäuschen. Der blank gebohnerte Fußboden nahm sich auch ohne Teppich oder Laufer schon aus. Ein großer Tisch und zwei Stühle, ein offener, voller Bücherschrank, eine gewöhnliche Petroleumlampe und ein Spucknapf aus Messing bildeten die Einrichtung. Helle Gardinen aus Kretonne schmückten die Fenster.

    Bony stellte den Koffer ab und ließ seinen Hut auf den Tisch fallen. Als er sich umdrehte, stand Miss Pinkney noch in der Tür. Sie sah ihn besorgt fragend an, indem sie die gefalteten Hände gegen ihren mageren Busen preßte. Er sagte: »Das Zimmer gefällt mir, sehr sogar.«

    Der Ausdruck ängstlicher Besorgnis wich aus ihrem Gesicht, und nun überstürzten ihre Worte sich förmlich. »Ach, da bin ich aber froh, Mr. Bonaparte! Es war früher meines Bruders Zimmer, in dem er sich sehr wohl gefühlt hat. Er war nämlich Seemann, Kapitän. Wir haben hier in Wesburn sehr glücklich zusammen gelebt, nur das Meer hat er vermißt, seitdem er in den Ruhestand getreten war. Der Ärmste ... vor vier Jahren ist er gestorben. Wenn's recht ist, zeige ich Ihnen jetzt das Badezimmer, das Eßzimmer und die Loggia, und dann bringe ich Ihnen den Nachmittagstee. Trinken Sie überhaupt um diese Zeit Tee?«

    Er strahlte sie mit seinen blauen Augen an und sagte, eine Verneigung andeutend: »Madame, Tee schmeckt mir zu jeder Stunde, tags wie nachts.«

    Im Eßzimmer sah Bony noch mehr Erinnerungen an den verstorbenen Kapitän, während die Loggia ganz nach Miss Pinkneys Geschmack ausgestattet war. Den Boden bedeckte ein chinesischer Teppich in Weiß und Gold. Überall standen oder lagen Bücher. Auf dem Kaminsims sah er eingerahmte Fotografien neben dem vergrößerten Porträt eines bissig dreinblickenden Mannes in der Sommeruniform der Handelsmarine. Sonst aber hatte der Raum eine betont weibliche Note mit den Schnittblumen, dem weichen Diwan und den gemütlichen Sitzkissen.

    Mr. Pickwick kam herein und machte es sich auf dem Läufer vor dem Kamin bequem. Miss Pinkney erschien mit einem Teewagen. Bony sprang auf, um ihr zu helfen. Trotz ihrer fünfzig Jahre und trotz der Einsamkeit, in der sie lebte, war sie nicht zur säuerlichen alten Jungfer geworden. Er hatte erwartet, eine verschrobene Alte zu finden, die ihr Leben mit einer Katze teilte, und spürte nun die Herzlichkeit eines Menschen, der sich von den Härten des Lebens nicht kleinkriegen ließ. Sie war aufgeregt wie ein zwölfjähriges Kind und gab sich gar keine Mühe zu verschleiern, wie sehr sie sich über sein Erscheinen freute.

    Der Kater schob sich an Bonys Füße heran. Bony setzte die zarte blauweiße Porzellantasse auf den Teewagen ab, um Mr. Pickwick zu streicheln, der laut schnurrte und sich an seiner eleganten Hose rieb.

    »Mr. Pickwick«, sagte Bony. »Sie besitzen, was den meisten Katzen fehlt: Persönlichkeit.«

    »Er ist Charakterleser«, bestätigte Miss Pinkney. »Sie mag er leiden, und so sind Sie hier doppelt willkommen. Glauben Sie bitte nicht, daß er sich jedem anschließt. O nein, bestimmt nicht. Und jetzt, Mr. Pickwick, zeig mal Mr. Bonaparte, wie du Pingpong spielen kannst.«

    Sie bewegte den Arm wie ein Baseballwerfer, und gemessen schritt der Kater aus dem Zimmer. Bony merkte, daß von ihm jetzt andächtiges Schweigen erwartet wurde. Miss Pinkney trank lächelnd ihren Tee. Schon kam Pickwick wieder herein, fast schwebenden Schrittes, als sei sein Körper gewichtslos. Er blickte zu Miss Pinkney auf, die jedoch mit betonter Gleichgültigkeit durchs Fenster

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