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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
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eBook464 Seiten6 Stunden

Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel

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Über dieses E-Book

Ein Roman über ganz unterschiedliche Menschen und die vielfältigen Gesichter der Liebe:
Inga fühlt sich vom Schicksal gebeutelt. Als sie aus einem vereisten Kirschbaum fällt, treten zwei besondere Männer in ihr Leben. Plötzlich sehnt sie sich nach einer Familie, nach Nähe zur Natur. Sie bekommt ein Baby von einem Liebsten, mit dem sie nie intim war, und einen Heiratsantrag vom bekanntesten Weiberhelden der Stadt. Obwohl das Glück so manche Haken schlägt, holt es sie schließlich ein.
Sabije, gläubige Muslima und erfolgreiche Rechtanwältin, ist Ingas beste Freundin. Stets bereit, ihr mit juristischem Beistand oder Curry aus der Patsche zu helfen.
Michael hat sich ganz dem Heilen verschrieben, kann jedoch eine alte Wunde in seiner eigenen Seele nicht schließen.
Robson leistet hundertfünfzig Prozent in allem, was er tut, und verbietet sich jegliche Schwäche. Ein Pulverfass.
Dann wären da noch Kumpel Jörg (Starfriseur mit großem Herzen und hässlichem Köter), die Belegschaft einer Klinik, Wendländer Imker und Schafzüchter sowie eine Rockband ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Jan. 2016
ISBN9783738055764
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    Buchvorschau

    Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp

    eins

    Der Arzt in der Unfallambulanz der Neuen Kliniken sah aus wie neunzehn, war offenbar frisch von der Uni und schien schon die Messer zu wetzen.

    „Ich würde so einen Bruch ja immer operieren. Macht man heutzutage so. Natürlich kann man das auch konventionell behandeln. Es gibt halt noch die Ärzte der alten Schule, er zuckte die Schultern, „die sagen wir haben das immer so gemacht ... Aber das hat der Oberarzt zu entscheiden. Er müsste jeden Moment hier sein.

    Inga lehnte sich vorsichtig in ihrem Stuhl zurück und stöhnte. Ihr linkes, dick geschwollenes Handgelenk pochte höllisch und nahm jede Bewegung übel. Nach dem Stirnrunzeln der Röntgenschwester hatte sie schon geahnt, dass sie nicht mit einem Verband davonkommen würde, und mit einem Gips gerechnet. Aber eine Operation? Das schien doch etwas übertrieben zu sein. Und ausgerechnet jetzt einfach zu viel für sie, da sie vollauf damit beschäftigt war, ihr Leben neu in den Griff zu bekommen. Was für eine Frau in ihrer Lage schon mit zwei gesunden Händen schwierig genug gewesen wäre. Oh nein, das ist nicht fair, wie soll ich das alles schaffen, überlegte Inga. Sie versuchte vergebens, an den Krankenhausgerüchen vorbeizuatmen, die sich in der klimatisierten Luft festgesetzt hatten wie schlechte Angewohnheiten. Ihr Magen begann zu flattern. Mit dem Druck, unter den sie sich gesetzt fühlte, lief wieder dieser Film vor ihrem geistigen Auge ab: Detlefs dunkelrotes Gesicht direkt vor ihrem, so dicht, dass Speicheltröpfchen, die er zusammen mit seinen Schmähworten ausspie, ihre Wangen trafen. Der plötzliche Sichtwechsel auf die neue Sofagarnitur, als ihr Kopf zur Seite flog. Die Flucht aus einer Wohnung, die nie etwas anderes gewesen war als ein bis ins Detail durchgestylter Selbstbetrug ...

    Ruhig bleiben, mahnte Inga sich, das ist seit Monaten vorbei, das hast du überstanden. Du wirst auch dies hier überstehen. Erstmal weiteratmen. Hören, was der Fachmann meint.

    Fünf Minuten später wehte der angekündigte Oberarzt, in modisch-teurer Freizeitkleidung und mit lässig übergeworfenem offenen Kittel, temperamentvoll in den Raum. Lange Beine in Jeans, die exakt die derzeit angesagte Waschung aufwiesen. Edle Lederschuhe, Designerbrille, Chronograph am Handgelenk. Er fuhr sich durch sein volles, gut geschnittenes schwarzes Haar und setzte sich rittlings auf einen Schreibtischstuhl, mit dem er im selbem Schwung direkt vor Inga zu stehen kam.

    „Na, was haben wir hier?"

    „Leicht dislozierte distale Radiusfraktur links."

    „Wie ist das passiert?"

    „Die Patientin ist aus einem Kirschbaum gefallen."

    „Sie wollen mich wohl verarschen. Hochsaison für Kirschbaumstürze ist im Juni. Jetzt haben wir Februar."

    „Es stimmt", mischte Inga sich ein. Beide Ärzte schauten sie an. Peinlich wurde ihr bewusst, dass sie ihre älteste Jogginghose und einen linksseitig ausgezogenen Fleecepullover trug, der voller Heuhalme hing und nach Pferd roch. Ihr Haar hatte sie unordentlich unter eine selbstgestrickte Mütze gestopft. Wie frau eben aussah, wenn sie nur kurz die Tiere versorgen und dann wieder zurück aufs Sofa wollte. Tatsächlich fühlte sie sich durchaus nicht passend angezogen, um sich mit einem irritierend gutaussehenden Oberarzt auseinanderzusetzen. Alles nur, weil diese blöde Nachbarskatze bei Glatteis in den Kirschbaum klettern musste, dachte Inga giftig. Was hatte eine Perserkatze mit etwas Grips im Kopf mitten im Winter in einem verschneiten Baum zu suchen?

    Miezi, der Name sagte alles, war allerdings unter normalen Umständen schon nicht die Hellste, und ohne ihr geliebtes Frauchen im Haus komplett unzurechnungsfähig. Inga mochte die schrullige Frau Reuter und tat ihr gerne den Gefallen, ab und zu ihre geliebte Katze zu versorgen, wenn sie ihre Schwester besuchte. Als das dumme Tier mittags kläglich von der Kirsche heruntergemauzt hatte und sich weder mit guten Worten noch mit Rinderhack locken ließ, blieb Inga zunächst unbeeindruckt. Doch die Stunden vergingen, es war kalt, und schließlich holte Inga die lange Leiter aus dem Schuppen und kam dem Vieh zu Hilfe. Ob die Leiter auf dem glatten Schnee oder vom vereisten Stamm abgerutscht war, konnte sie nicht sagen. Beide erreichten den Boden schneller als geplant, die Perserin unverletzt, Inga mit einem stechenden Schmerz im linken Handgelenk, das zusehens anschwoll. Sie biss die Zähne zusammen, fütterte Petersens Ponies und versorgte ihre eigenen Meerschweinchen. Als die Schmerzen immer heftiger wurden und eine zittrige Übelkeit hinzu kam, hatte Inga sich von ihrer Nachbarin Marianne ins Krankenhaus bringen lassen. Da saß sie nun, hin- und hergerissen zwischen Sorgen um ihren Arm und dem Wunsch, diese beiden schnöseligen Streithähne anzufauchen. Sie biss sich auf die Lippen.

    „Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Wir können eine Gipsschiene anlegen, die müssen Sie dann mindestens sechs Wochen tragen und in der Zeit die Hand schonen. Oder wir setzten da eine Metallplatte rein, dann können Sie sie bald wieder belasten."

    Ja - sollte sie das etwa selber entscheiden? Wie konnte sie wissen, was besser war? Eine Operation kam nicht in Frage, nicht mit all den Terminen, die sie wahrzunehmen hatte. Wenn aber der Knochen sonst womöglich nicht richtig zusammenwuchs ...? Wie sie es drehte und wendete, sie hatte ein echtes Problem. Auch mit einem Gips würde sie kaum arbeiten können. Inga starrte den Arzt verzweifelt an.

    „Wissen Sie was, wir versuchen es mit der Schiene, und Sie kommen in fünf Tagen zur Kontrolle. Wenn die Bruchstellen dann nicht gerade voreinander geblieben sind, können wir immer noch operieren. Es wäre für eine Operation sowieso besser noch zu warten, bis der Arm etwas abgeschwollen ist."

    Das klang vernünftig. Bevor er wieder verschwand, wies der Oberarzt seinen jungen Kollegen an, wie die Hand in dem Gips gewinkelt sein sollte.

    „Sie fassen hier an ... und hier ... und biegen dann so ..."

    „Ich weiß, wie ich das machen muss", entgegnete dieser pampig.

    Sieh mal an, dachte Inga, der Angriff des Jungvolkes auf die Vormachtstellung des alten Leithengstes lief in vollem Gange. So alt sah der allerdings gar nicht aus. Hinter dem Schickimicki-Outfit und dem weißen Kittel schimmerte noch etwas anderes durch. Da lag etwas in seinen Augen, in seinem Blick, das verriet, dass er nicht nur ein braver Chirurg war. Er hatte so etwas von ‚Bad Boy’ ... Wie er eben ‚verarschen’ gesagt hatte, das klang auch nicht gerade akademisch. Er nervt, aber er ist irgendwie ein echt cooler Typ, dachte Inga. Jetzt reichte ein scharfes Aufblitzen aus seinen dunkelbraunen Augen, um den Assistenzarzt verstummen und den Blick auf sein Clipboard senken zu lassen. Noch blieb die Macht des Alphawolfes unerschüttert. Er nickte Inga aufmunternd zu, dann war er schon wieder zur Tür hinaus.

    Draußen dämmerte es bereits, als der mürrische Jungdoktor mit dem Gips fertig war. Inga steckte den Kopf zum Wartezimmer herein und gab Marianne Bescheid.

    „Ich muss mir nur noch einen Termin für die Kontrolle geben lassen, dann können wir fahren." Das wurde auch Zeit, fiel Inga ein. Ihre Nachbarin war nachtblind.

    Entsprechend aufregend verlief die Rückfahrt. Marianne lehnte mit verkrampften Händen über dem Lenkrad und blinzelte hilflos durch die Windschutzscheibe, während Inga dirigierte: „Bisschen weiter rechts halten ... nein, nicht so weit ... jetzt genau geradeaus. Da kommt gleich eine Kurve nach links ..."

    Es war, fand Inga, genau wie in dem Roman ‚The Widows´ Adventures’ von Charles Dickinson, in dem zwei alte Damen quer durch die USA fahren, wobei die eine nicht autofahren und die andere nicht sehen kann. Immerhin waren die Straßen so verschneit und leer, dass ihnen nicht viel Schlimmeres passieren konnte, als in einer Schneewehe stecken zu bleiben.

    Früh am nächsten Morgen rief Inga die Werbeagentur an, in der sie arbeitete, und meldete sich beim Anrufbeantworter krank. Vor neun ließ sich dort nie jemand blicken. Auf ihre Nachricht hin (‚Arm gebrochen, mindestens sechs Wochen Gips’) würde ein mittleres Chaos ausbrechen, was ihr eine kleine Galgenfrist zu verschaffen versprach. Danach sollte sie sich lieber einen verdammt guten Plan zurechtgelegt haben, wie um Himmels Willen sie die neue Situation meistern könnte.

    Zum nächsten Quartal wollte Inga als Teilhaberin in die Firma einsteigen. Verträge mussten unterzeichnet, Zuständigkeiten neu verteilt werden. Sie befand sich in der Bewährungsphase, sollte ein umfangreiches Projekt für einen der größten Kunden fertigstellen und präsentieren. ‚Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt, dass es nicht der rechte Arm ist’ hatte dieser dämliche Arzt gesagt. Ja, ganz toll. Inga schnaubte. Sie war Linkshänderin. Schreiben und vor allem Zeichnen würde ein Problem werden. Abgesehen davon ließ sich das Schonen und Hochlegen eines frisch gebrochenen Knochens nicht mit dem hektischen zehn-Stunden-Tag in der Agentur vereinbaren. Sie gab sich keinerlei Illusionen hin: Die Werbebranche glich einem Haifischbecken, in dem ein gnadenloser Konkurrenzkampf herrschte. Inga fielen auf Anhieb mehrere Kollegen ein, die nur auf ein Zeichen von Schwäche bei ihr lauerten. Diese dürre Zicke mit den grell orangerot lackierten Fingernägeln zum Beispiel und nicht zuletzt Detlef.

    Detlef, der die Trennung und Ingas Auszug aus der gemeinsamen Wohnung nicht wie ein Gentleman aufgenommen hatte. Er würde der Erste sein, der an ihrer Position in der Agentur und anstehenden Teilhaberschaft rüttelte. Sie hätte sich niemals mit ihm einlassen dürfen. Sechs Jahre harter Arbeit, hastige Kurztrips an Stelle von richtigem Urlaub, dauernde Verfügbarkeit per E-Mail und Handy ... sollte dies nun alles vergebens gewesen sein? Beim Stichwort ‚Trennung und Auszug’ fiel Inga siedendheiß ein, dass sie im April ihre neue Wohnung beziehen wollte. Und bald, im Grunde nächste Woche, damit beginnen musste, die Wände zu streichen. Der Fußboden im Schlafzimmer musste ausgetauscht werden ... Wie, um alles in der Welt, sollte sie jetzt mit einer Hand renovieren und packen? Vom Möbelschleppen gar nicht zu reden ...

    Bevor ihr vor lauter Panik noch übel wurde, ging sie lieber hinaus an die frische Luft. Die privaten Pflichten würden sich hoffentlich leichter erfüllen lassen. Als Inga sich einhändig in Schuhe und Jacke wurschtelte, klingelte das Telefon.

    „Immeli, Süße, was ist dir passiert? Ya salam - O Gott ..."

    „Morgen, Sabe. Woher weißt du denn so früh schon Bescheid?"

    „Marianne hat mir alles erzählt. Ich muss gleich in eine Verhandlung, aber in der Mittagspause komme ich zu dir. Hast du starke Schmerzen?"

    „Nö, eigentlich nicht."

    „Das glaube ich dir erst, wenn ich dir dabei ins Gesicht sehen kann. Also - bis später. Wenn du etwas brauchst, sende mir eine SMS. Allah sei mit dir."

    Sabije war Ingas beste Freundin. Seitdem die Albanerin damals mit ihren Eltern und vier Brüdern über Italien nach Deutschland und in Ingas Kindergartengruppe gekommen war, hingen die beiden aneinander wie die Kletten. Zum Erstaunen und Befremden der Familie war Sabije, sich von klein auf über alle kulturellen und sozialen Grenzen hinwegsetzend, nach der Hauptschule auf das Gymnasium gewechselt. Sie hatte ihr Abitur mit dem besten Notendurchschnitt ihres Jahrgangs bestanden und in Berlin und Brüssel Jura studiert. Mit dem Doktortitel in der Tasche hatte sie sich bei renommierten Anwaltskanzleien in Boston und New York einen Namen gemacht. Ihre Eltern und drei Brüder waren mittlerweile zurück nach Albanien gegangen, der vierte Bruder nach Italien. Sabije dagegen hatte es wieder nach Lüneburg gezogen. Um ihr Talent in hinterwäldlerischen Amts- und Landgerichten zu begraben, murrte ihr alter Tutor noch heute. Um ihren Traum zu leben, hielt Sabije dagegen und warf sich mit Elan und Kompetenz in die Verteidigung von Atomkraftgegnern. Nun würde sie zwischen zwei Gerichtsterminen nach Marunthien hetzen, um ihrer Freundin einen großen Topf Suppe zu kochen und sie zu trösten.

    Grinsend öffnete Inga die Haustür, um ihre Runde durch die Ställe zu beginnen und zumindest alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Fast wäre sie mit Marianne zusammengestoßen, die vor Ingas Haustür Schnee schippte.

    „Morgen, Inga. Wie geht`s? Tut es noch sehr weh?"

    „Nö, geht so. Vielen Dank, Janne, das ist aber lieb von dir."

    „Ach, ist doch selbstverständlich. Geert hätte auch geholfen, aber den muss ich gleich zum Flughafen bringen. Zum Füttern heut abend bin ich wieder da, und inzwischen ..."

    „Sabe hat eben angerufen, sie kommt mich versorgen. Euer Buschfunk klappt wie am Schnürchen. Ich will gerade die Tiere füttern gehen."

    „Den Ponies hab ich schon Heu gegeben und das Wasser aufgefüllt. Deinen Meerschweinchen auch. Nur bei Miezi kam ich ja ohne Schlüssel nicht rein."

    Auweia. Wenn Marianne die Ponies gefüttert hatte, sollte sie besser schnell nach dem Rechten sehen. Inga lief durch Frau Reuters Obstgarten, stieg durch die Lücke im Zaun und betrat den gemütlichen kleinen Offenstall. Wie erwartet standen die Shetties bis zu den Bäuchen in einem großen Berg Heu und mampften genüsslich. Inga warf mit der gesunden Hand große Büschel voll über die Trennwand zurück, bis ein angemessener Rest übrig blieb. Der Wasserbottich war bis zum Rand gefüllt, das Eis entfernt, und auch das Treibholz hatte Marianne nicht vergessen. Es sorgte dafür, dass das Wasser in Bewegung blieb und nicht so schnell wieder zufror. Gute Janne, dachte Inga gerührt, sie ist einfach ein Schatz.

    Bis zum Mittag hatte Inga gelernt, mit einer Hand ihr Frühstück zuzubereiten, Wäsche aufzuhängen und Staub zu saugen. Dabei hatte sie höllisch aufgepasst, den verletzten Arm nicht zu benutzen, damit er nur ja heilte. Schwitzend und triumphierend war es ihr gelungen, einhändig das Bett neu zu beziehen. Erstaunlich, was man alles improvisieren konnte, indem man seine Zähne und Knie zu Hilfe nahm. Doch jeden Augenblick befürchtete sie einen Anruf von ihrem Chef, immer noch unschlüssig, was sie in ihrer verzwickten Lage tun sollte. Wie eine Maus in der Falle huschten Ingas Gedanken hin und her, ohne den erlösenden Ausweg zu finden.

    Sabije tauchte wie versprochen auf, ließ zwei Taschen voller Lebensmittel auf Ingas Küchentisch plumpsen und kochte einen leckeren Eintopf. Während sie gemeinsam den Tisch deckten, fiel Sabije die nervöse Unruhe der Freundin auf.

    „Sage einmal, was für eine Art Drogen hat man dir im Krankenhaus verabreicht? Ich hätte gedacht, dass du wesentlich erschöpfter sein müsstest von dem Unfall, Schmerzmitteln und allem. Stattdessen springst du umher wie ein vom Hund gefallener Floh."

    „Ach Sabe ... du weißt doch, was in der Agentur für mich auf dem Spiel steht! Jeden Moment kann mein Chef anrufen und ich hab nicht den leisesten Schimmer was ich ihm sagen soll und ..." Inga sprudelte ihre ganze Not heraus.

    Gelassen zog Sabije den Telefonstecker aus der Wand, schaltete Ingas Handy aus und schöpfte Eintopf in zwei tiefe Teller.

    „So. Sie stellte die dampfende Suppe auf den Tisch. „Du bist erst wieder erreichbar, nachdem du dein Inneres sortiert hast. Allah segne unsere Mahlzeit.

    Satt und zufrieden saßen die beiden Frauen sich nach dem Essen bei einer Tasse Kaffee gegenüber.

    „Ah, das tat gut. Inga legte ihren verletzten Arm auf dem Tisch ab und griff nach einem der beiden dampfenden Kaffeebecher. „Danke, dass du hier bist und mich bekochst, und dir mein Gejammer anhörst ...

    „Sei nicht so hart gegen dich. Schließlich macht dein Leben es dir gerade wirklich nicht leicht. Sabije schob ein gefaltetes Küchenhandtuch zu Inga hinüber. „Du hast dir Kinder gewünscht, eine eigene Familie. Stattdessen ging die Beziehung auseinander, mit einem so furchterregenden Knall, dann noch der Unfall und vielleicht Probleme in der Werbeagentur ... Es ist doch völlig normal, wenn du für eine Weile den Mut verlierst.

    Inga hob den Gipsarm an, so dass Sabije das Handtuch darunter zurechtlegen konnte, und senkte ihn dann auf den Stoff. „Immer, wenn ich denke es geht aufwärts, passiert irgend ein Mist. Ich hatte so gehofft, den Mann fürs Leben gefunden zu haben - plötzlich bin ich Single, gehe auf die vierzig zu, und meine berufliche Existenz hängt an einem dünnen Stück Verbandmull. Inga fuhr sich mit der gesunden Hand durchs Haar und seufzte. „Warum kann ich mich nicht einfach auf meine Karriere konzentrieren, auf die nächste schicke Wohnung und ein teures Auto? Wer bekommt heutzutage noch Kinder? Meine Vater-Mutter-Kind-Denke ist doch wohl oberpeinlich ...

    „Im Gegenteil. Es ist die älteste und natürlichste Sehnsucht der Menschheit." Sabije stellte ihren Kaffee ab und strich Inga aufmunternd über den Oberarm. „Auch wenn du es noch nicht einsehen magst: Nach der Trennung von Detlef stehen die Chancen, deinen Familienwunsch zu realisieren, besser als vorher. Nicht schlechter."

    „Ich fürchte, dazu wird es allmählich zu spät. Mir ist schon ewig kein interessanter Mann mehr begegnet. Außer diesem Oberarzt in der Ambulanz vielleicht ... aber der ist erst recht kein Familientyp."

    „Von dem Arzt hast du noch gar nichts erzählt. Was für ein Mensch ist er?"

    „Sehr gutaussehend, sehr eilig, sehr kompetent. Dr. Oliveira. Total arrogant, aber ..."

    Sabije lachte, doch dann beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Lass dir nichts anmerken, ermahnte sie sich, es ist viel zu früh, um die Rechtsanwältin hervor zu kehren. Sollte Inga ruhig ein bisschen schwärmen, das würde sie von ihrem gebrochenen Arm ablenken. Bis jetzt klang es schließlich ganz harmlos. Aber sie würde die Freundin bremsen müssen, falls diese Sache sich in eine ungute Richtung entwickeln sollte.

    Dr. Robson Oliveira stand mit einem Becher Kaffee in der Hand im Innenhof der Klinik und atmete tief die kalte Winterluft ein. Er war seit zwanzig Stunden im Dienst. Drinnen herrschte Hochbetrieb, kein Wunder bei diesem Wetter. Zunächst angetauter, dann neu überfrorener Schnee hatte Gehwege und Straßen in spiegelglatte Eisflächen verwandelt. In der Notaufnahme gaben die Sanitäter sich die Klinke in die Hand, brachten rund um die Uhr neue Knochenbrüche. Das Klinikpersonal hastete im Slalom durch die Gänge, um Krankenbetten herum, die in den überfüllten Zimmern keinen Platz mehr gefunden hatten. Über allem klang das Dröhnen an- und abfliegender Rettungshubschrauber. Fast wie 2003 in Kabul, dachte Robson. Immerhin gab es hier rund um die Uhr Strom, und sie mussten nicht befürchten, beschossen zu werden. Er betrachtete den stahlgrauen Himmel und trank einen Schluck Kaffee. Eigentlich hätte er sich etwas zu essen holen sollen, doch er brauchte dringend ein paar Minuten Ruhe.

    Die hellblonde Frau mit der Radiusfraktur und den stinkenden Klamotten von gestern Nachmittag fiel ihm wieder ein. Eine ziemliche Kratzbürste ... aber verdammt hübsch. Sie hatte die Frage des jungen Rettig, wie alt sie sei und was sie beruflich mache, in den falschen Hals bekommen und ihn zornig abgekanzelt: ‚Ich möchte schon, dass Sie meine Hand wieder richtig hinbekommen, statt sie einfach so zu lassen weil sich`s eh nicht mehr lohnt’. Rettig, dieser kleine Wadenbeißer, war rot angelaufen, hatte verlegen etwas wie ‚Jaja, natürlich, Sie sind ja noch jung’ gestammelt und sie damit natürlich erst recht in Rage gebracht. Robson hatte später das Geburtsdatum in ihrer Akte nachgeschlagen und war überrascht gewesen. Er hätte sie auf Anfang dreißig geschätzt, höchstens, doch sie war neununddreißig. Acht Jahre jünger als Melissa ...

    Rob schüttelte energisch seine verjährten Erinnerungen ab, stürzte den restlichen Kaffee hinunter und ging zurück an die Arbeit.

    Fünf Tage später wirbelten Schneeflocken vom Himmel und überstäubten Marunthien wie mit Puderzucker. In diesem Jahr ist der Winter ganz schön hartnäckig, dachte Inga. Oder nehme ich ihn erst richtig wahr, seit ich so weit draußen wohne? Sie schaute immer wieder aus dem Fenster, um ihre Mitfahrgelegenheit nach Lüneburg nicht zu verpassen. Heute sollte sie zum Gipswechsel ins Krankenhaus kommen. Die öffentlichen Verkehrsmittel im Dorf beschränkten sich auf einen Minibus für die Schulkinder und die Bahnstrecke für Castortransporte, deren nächster Haltepunkt fünf Kilometer entfernt lag. Früher hätte Inga eine Handvoll im lockeren Kreis angeordneter Häuser kaum als ‚Dorf’ bezeichnet, eher als ‚menschenleere Gegend’. Der unberührte Schnee auf der einzigen Straße bewies, dass in den letzten Stunden kein Fahrzeug vorbeigekommen war.

    So lästig ein Armbruch auch sein konnte, er hatte Inga in den vergangenen Tagen viel über die Menschen in ihrem Leben gelehrt. Da waren ihre Freunde und Nachbarn, unter denen sich der Unfall herumgesprochen hatte wie ein Lauffeuer. Innerhalb kürzester Zeit waren die nötigsten Arbeiten in Haushalt und Stall verteilt, Mitfahrgelegenheiten und Einkaufsdienste organisiert worden. Ihre Heinzelmännchen riefen an oder standen spontan vor der Tür mit den Worten: ‚Ich komm’ gerade vom Einkaufen und dachte, ich miste mal eben bei den Ponies aus’. Sie brachten Lebensmittel und Bücher oder holten Inga zu allen Veranstaltungen ab, die Spaß und Abwechslung versprachen. ‚Herumsitzen und deinen Gips hochlegen kannst du dort auch’ sagten sie fröhlich und sorgten dafür, dass sie den bequemsten Sessel bekam und ein Kissen für ihren verletzten Arm. Inga war glücklich und gerührt über all diese Hilfsbereitschaft und Wärme.

    Sicherlich gab es Menschen, die sich auf dem Lande eingeengt fühlten, wo man so viel voneinander wusste und kein Ehestreit, keine neue Waschmaschine den anderen verborgen blieb. Doch Inga war heilfroh, nach ihrer Flucht aus der Beziehung zu Detlef diese Wohnung in einem alten Bauernhaus gefunden zu haben. Die Besitzer befanden sich auf einer neunmonatigen Wanderung durch Südeuropa und vermieteten ihre vier Wände für diese Zeit unter. Ohne hinzusehen hatte Inga zugegriffen, um erst einmal ein Dach über dem Kopf zu haben und in Ruhe eine neue Bleibe zu suchen. Vom ersten Tag an war sie überall mit offenen Armen empfangen worden, hatte neue Freundschaften geschlossen. Manchmal fand sie es direkt schade, dass sie bald wieder in der Stadt wohnen würde. Sie liebte das kleine Rundlingsdorf am Rande des Wendlandes und fühlte sich wunderbar geborgen.

    Auf der anderen Seite war da die Werbeagentur. Sabijes Lösung mit den gekappten Telefonverbindungen hatte genau vierundzwanzig Stunden gewirkt. Danach fuhr ein Wagen vor Ingas Tür vor. In einer kurzen Nachricht, die der Fahrer ihr überreichte, wurde sie mit eher deutlichen als höflichen Worten angewiesen, umgehend in der Agentur anzutreten, um ‚die neue Situation zu besprechen’. Inga sah sich gezwungen, hastig umgezogen und mit ungewaschenen Haaren an ihren Arbeitsplatz zu eilen, sich den missbilligenden Mienen der Chefs und den abschätzenden, lauernden Blicken der Kollegen zu stellen. Kein zuvorkommend zurechtgeschobener Sessel. Keine Kuschelkissen. Inga kam sich vor wie ein angezählter Boxer im Ring. Beim nächsten Schlag würde sie zu Boden gehen.

    Ohne befriedigendes Ergebnis, aber mit einer Menge Druck im Nacken, wankte Inga nach Hause. Solange der Fahrer sie noch sehen konnte, hielt sie ihre mühsam bewahrte Fassung aufrecht. Dann fütterte sie mit letzter Kraft die Tiere und brach auf ihrem Bett zusammen. Vollständig angezogen, mit schmerzendem Arm und verzweifeltem Herzen.

    Ralfs gelber Bulli bog in den Hof ein, und Inga lief rasch hinaus. Ralf und Hilke Drossel züchteten Schafe und betrieben eine Imkerei. Sie hatten Inga bei ihrem Sprung ins Landleben unter ihre Fittiche genommen und hielten immer ein offenes Ohr und ein Mittagessen für sie bereit. Sie waren zwei der warmherzigsten und großzügigsten Menschen, die Inga kannte. Jetzt lief Ralf im Schneetreiben um das Auto herum, um die Tür aufzuhalten und ihr auf den Beifahrersitz zu helfen.

    „Kommst du einigermaßen zurecht?"

    „Ja, alles in Ordnung, danke dir, lächelte Inga. „Es ist enorm, was man mit einer Hand hinbekommt. Nur Dosen öffnen ging gar nicht. Janne ist am ersten Abend mit rüber gekommen, hat fünf Dosen Katzenfutter auf Vorrat aufgemacht und sie mit Frischhaltefolie bedeckt in den Kühlschrank gestellt.

    Was eine enorme Leistung gewesen war. Marianne fand den Geruch von Dosenfutter schier unerträglich. Sie hatte die ganze Zeit mit ihrem Brechreiz zu kämpfen gehabt und nach jeder Dose den Kopf zum Küchenfenster hinaus stecken müssen.

    „Diese verdammte Katze. Das nächste Mal sagst du mir Bescheid, und ich schieße sie runter."

    Inga grinste. Nach aussen hin gab Ralf sich stets bärbeißig, doch er würde nicht mal eine Mücke erschlagen. Alles, was atmete, drückte er liebevoll an seine breite Brust.

    „Miezi kann ja im Grunde nichts dafür. Aber ich bin froh, dass Frau Reuter heute zurückkommt."

    Ein hektischer Dr. Rettig nahm Inga die Gipsschiene ab, testete ihre Reflexe und schickte sie zum Röntgen. Auf dem Rückweg kam ihr der gutaussehende Oberarzt entgegen. Er stutzte und warf einen Blick auf ihren linken Arm. „Wo ist denn Ihr Gips?"

    „Doktor Rettig hat ..."

    „Einen Moment." Mit beherrschter Miene und langen Schritten verschwand er in Richtung der Röntgenabteilung.

    Inga schwante nichts Gutes. Zwar hatte sie sich flüchtig gewundert, als ihre Hand ohne die Schiene bewegt und zurechtgelegt wurde, aber alles war so schnell gegangen. Und die Ärzte hier mussten doch wohl wissen, was sie taten?

    Dr. Oliveira kehrte zurück und blieb mit ernstem Gesicht vor Inga stehen. Sie wusste es, bevor er es aussprach.

    „Tja, der Bruch ist verrutscht. Ich habe mir Ihre Bilder angesehen. Wir könnten das theoretisch nochmal richten und es mit einer neuen Schiene versuchen, aber ..."

    Inga fühlte sich wie betäubt. Also doch eine Operation. Dieser blöde Pfuscher! Ob sie gleich hierbleiben musste? Wie sollte sie das alles organisieren? Ihr Job, die Kunden ... völlig unmöglich. Sie hatte nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln dabei. Die Ponybesitzer waren zum Glück wieder zu Hause, aber da blieben immer noch ihre Meerschweinchen ... Andererseits - was, wenn sie aus reiner Ungeduld einen bleibenden Schaden riskierte? Und mit der operierten Hand würde sie mehr arbeiten dürfen als mit dem Gips ...

    Dr. Oliveira stand abwartend da, die Hände in die Taschen seines weißen Kittels vergraben, und schaute auf sie herunter. Lächelte dieser schreckliche Mensch denn nie? Inga riss sich zusammen und nickte stumm.

    „Gut. Sie sind wahrscheinlich am späten Nachmittag dran, je nachdem, wie viele Notfälle dazwischen kommen. In drei Tagen können Sie wieder nach Hause. Eine Schwester holt Sie ab und bringt Sie auf Ihr Zimmer."

    Inga stand mit zitternden Knien auf und atmete tief durch. Im Hintergrund schlich Dr. Rettig über den Flur, nicht ganz so selbstbewusst wie zuvor. Blitzschnell drehte sie sich zum Oberarzt herum, hätte am liebsten mit beiden Händen den Kragen seines Kittels gepackt und sich an ihm festgeklammert.

    „Dieser Rettig operiert mich aber nicht!"

    Dr. Oliveira sah Inga fest in die Augen. „Ich operiere Sie selbst."

    Kurz vor Mitternacht schob eine betont muntere Krankenschwester Ingas Bett in den Operationbereich und half einer Kollegin, die Patientin auf einen OP-Tisch umzulagern. Inga konnte beim besten Willen nicht begreifen, wozu das gut sein sollte. Schließlich hatte sie sich nicht die Beine gebrochen. Von dem Moment an, als sie auf die Station gekommen war, hatte man sie wie ein schwachsinniges Kind behandelt. Da sie privat versichert war, hatte die Dame in der Aufnahme suggeriert:

    „Sie haben doch sicher Anspruch auf Chefarztbehandlung und Einzelzimmer?"

    Nach einem Blick durch die Glastür in die überfüllte Station überschlug Inga die Konsequenzen. Man würde kurzerhand drei andere Patienten auf den Flur schieben, um ein Zimmer für sie frei zu machen. Außerdem wollte sie überhaupt nicht vom Chefarzt operiert werden. Womöglich war der so mit dem Schütteln von Privatpatientenhänden beschäftigt, dass er über weniger Routine verfügte als sein Fußvolk. Jedenfalls stellte er eine unbekannte Größe dar. Inga fühlte sich nicht mehr in geneigter Stimmung für unbekannte Größen. Sie blieb lieber bei dem Oberarzt. Der benahm sich zwar nicht übermäßig freundlich, doch er schien wenigstens seinen Job zu beherrschen.

    „Nein, habe ich nicht", log sie.

    Nun teilte sie ein enges Zimmer mit einer jungen Frau aus Russland, die wegen zweier angebrochener Wirbel ein Korsett trug, einer reizenden kleinen Omi mit gebrochener Schulter und einer mürrischen Dicken, die kein Wort sagte.

    Der entsetzliche Dr. Rettig traute sich tatsächlich noch einmal zu ihr hinein und nahm ihr etliche Röhrchen Blut ab, wobei er ununterbrochen redete und einen aufdringlichen Geruch nach Aftershave verbreitete. Inga begann sich gerade zu fragen, warum ein Arzt sich mit einer solchen Arbeit aufhielt - da machte er sie wortreich darauf aufmerksam, dass der Knochen sich vermutlich bereits vorher verschoben habe und sie niemandem ein Verschulden würde nachweisen können. Aha. Nach dem Einlauf, den dieses Frettchen zweifellos von Dr. Oliveira empfangen hatte, wurde nun die Gelegenheit genutzt, um sich wieder in eine günstigere Position zu manövrieren. Nun fing Rettig auch noch mit bissigen Bemerkungen über den Oberarzt an. Er glaubte doch nicht im Ernst, dadurch besser dazustehen? Inga wäre es lieber gewesen, wenn der Arzt seine Energie auf die Heilung ihrer Hand gerichtet hätte.

    Sie rief Hilke an, die zum Glück sofort ans Telefon ging. Hilke zeigte sich voller Mitgefühl und bereit, Rettig bei nächster Gelegenheit zu verhauen. Eine Aufgabe, der die kräftige Hilke im Gegensatz zu ihrem friedfertigen Mann durchaus gewachsen schien. Vorerst jedoch würde sie die Fütterung der Meerschweinchen organisieren und dafür sorgen, dass jemand die notwendigsten Sachen zu Inga ins Krankenhaus brachte.

    Das Erste, was Inga im Operationssaal auffiel, war ein dicker, alter Mann, der zusammengesunken auf einem Drehstuhl mitten im Raum hockte und von der OP-Pflegerin durch leichtes Rütteln an der Schulter geweckt wurde.

    Um Himmels Willen, dachte Inga und schoss in die Senkrechte, nun hab ich doch den Chefarzt erwischt, und der ist schon völlig fertig.

    Da beugte sich eine andere grüne Gestalt über sie, drückte ihren gesunden Arm und sagte:

    „Ich bin da. Es ist alles gut."

    Gerettet. Zutiefst erleichtert sank Inga wieder zurück. Seine dunkelbraunen Augen über dem Mundschutz schauten sie beruhigend und ein wenig spöttisch an. Dann tat das Narkosemittel seine Wirkung, der Anästhesist rückte ihre Sauerstoffmaske zurecht und die grün gekachelten Wände verschwammen im Nebel.

    Inga verschlief den gesamten folgenden Tag. Sie nahm undeutlich wahr, wie man ihr Medikamente verabreichte, weiße Kittel ein und aus gingen und eine große Tasche neben ihrem Bett abgestellt wurde. Als sie jemanden sagen hörte, sie könne voraussichtlich am Freitag entlassen werden, wachte sie kurz auf und protestierte.

    „Am Donnerstag! Drei Tage, hat Dr. Oliveira gesagt."

    „Na, wenn Dr. Oliveira das gesagt hat ...", murmelte einer der Ärzte der Visite ironisch.

    Inga hörte ihn nicht mehr. Sie war schon wieder eingeschlafen.

    Robson Oliveira betrat mit einer Brötchentüte in der Hand und der taz unter dem Arm seine Penthauswohnung in der Ilmenaustraße. Wenn sein Dienst erst am Nachmittag begann, gönnte er sich eine Stunde mehr Schlaf, joggte zwölf Kilometer und lief auf dem Rückweg beim Bäcker vorbei. Er warf seine verschwitzten Sportklamotten in die Ecke, aus der seine Putzfrau sie später aufsammeln würde, und stellte sich unter die Dusche. Aah, das tat gut. Bei dieser Kälte war er keinem einzigen anderen Läufer begegnet. Doch Rob ließ sich weder durch glatten Schnee, noch durch Regen oder drückende Hitze von seinem Training abhalten. Nächstes Jahr wurde er fünfzig, und er war stolz darauf, dass man es ihm bei Weitem nicht anmerkte. Teufel, er konnte es locker mit den meisten Vierzigjährigen aufnehmen. Einen Bandkumpel hatte er letztens beim Squash in Grund und Boden gespielt, und der war erst fünfunddreißig.

    In der Klinik waren sie jetzt mit der Visite durch. Wie es wohl der hellblonden Frau ging, die er als Vorletzte operiert hatte? Die OP war reine Routine gewesen, für die drei-Loch-Platte und sechs Schrauben hatte er neunundvierzig Minuten gebraucht. Aber er hatte ihr Gesicht mit den kornblumenblauen, vor Angst geweiteten Augen nicht vergessen können und zum Feierabend heimlich nach ihr gesehen. Rob war froh gewesen, dass es ihr offensichtlich gut ging. Und dass ihn niemand bemerkt hatte. Wenn er mit dem Chef über diesen Schwachkopf Rettig sprach, würde er verdammt vorsichtig sein müssen. Er wusste nur allzu gut, dass er auf dem besten Wege war, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Wieder einmal. Hatte er denn gar nichts aus dem Spießrutenlaufen gelernt, den inquisitorischen Befragungen vor der Ärztekammer, der Gerichtsverhandlung? Mittlerweile sollte er doch alt genug sein, sich wenigstens neue Dummheiten auszudenken anstatt dieselben zu wiederholen.

    Junge, reiß dich bloß zusammen, mahnte er sich und stellte den Hebel der Duscharmatur auf ‚kalt’.

    Am Morgen ihres zweiten Krankenhaustages wachte Inga davon auf, dass jemand einen Strauß Moosröschen und Statice auf ihrem Nachttisch arrangierte. Rosa-pink-blau leuchteten die Blumen im Sonnenlicht.

    „Hallo, du kleine Schlafmütze. Sabije stupste die Freundin an, damit sie ihr Platz machte, und hockte sich auf die Bettkante. „Wie geht es dir? Du siehst furchtbar aus.

    „Ich fühl mich wie etwas, das die Katze ins Haus geschleppt hat. Aber ich glaub, mir geht’s ganz gut. Musst du nicht arbeiten? Was für ein Tag ist heute?"

    „Es ist zwanzig vor neun am Mittwochmorgen, und ich bin schon so gut wie weg. Ich war gestern kurz hier und habe dir diese Blumen gebracht, aber du hast geschlafen wie ein Murmeltier."

    „Sie sind wunderschön. Danke, Sabe."

    Sabije verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung und stöckelte hinaus. Wenn sie so aufgebrezelt auftrat, musste es sich um einen wichtigen Termin handeln. Inga überprüfte ihre eigene Aufmachung und stöhnte. Sie trug immer noch das lächerliche, hinten offene Hemdchen und den schrecklichen Einwegslip. Die grüne Kopfbedeckung hatte ihr eine barmherzige Seele abgenommen, doch ihr Haar hing ungepflegt herunter. Was von ihrer linken Hand aus dem Verband herausschaute, war jodverschmiert, auch die Vorderseite ihres Nachthemdes wies orangefarbene Schlieren auf. ‚Furchtbar’ schien noch stark untertrieben. Inga schwang ihre Beine aus dem Bett und bemerkte die Tasche. Darin fand sie ihr Waschzeug, Kleidung zum Wechseln, Bücher und einen Zettel:

    ‚Gute Besserung und alles Liebe,

    Hilke + Ralf’

    Lächelnd tappte sie unter die Dusche. Was für eine Erleichterung! Den linken Arm hoch über ihren Kopf gereckt schaffte sie es, sich die Haare zu waschen und ihre eigene Kleidung anzuziehen. Hilke hatte nicht zusammen passende Unterwäsche herausgesucht, ein langärmeliges Ringelshirt und eine bequeme Cordjeans. Inga fühlte sich wie neu geboren als sie wieder auf ihrem Bett saß, die langen hellblonden Haare frisch gekämmt, und nach einem Buch griff.

    So fand Robson sie vor, als er wenig später mit dem üblichen Tross zur Visite herein platzte. Hellwach, gut gelaunt und leicht nach einem blumigen Duschgel duftend. Wäre der Verband nicht gewesen, hätte man sie für kerngesund halten können. Vergnügt lächelte sie ihn an.

    „Sie sind doch die Dame mit der Hand ...?" Er konnte kaum die Augen von ihr lassen. Rasch brachte er sich hinter geschäftsmäßigen Themen in Sicherheit. Operationsverlauf, Nachuntersuchungen, Krankengymnastik ... Während Rob mit seinen Kollegen von einer Patientin zur anderen ging, schielte er unauffällig zu ihr herüber. Doch sie, in ihre Lektüre vertieft, schaute nicht hoch. Im Hinausgehen warf er einen Blick auf die Bücher auf ihrem Nachttisch. ‚The Audacity of Hope’ von Barack Obama und eine Gandhi-Biografie.

    „Mann, die ist echt Wahnsinn", kam es von einem der Medizinstudenten, als sie wieder auf dem Flur standen.

    „Wen meinen Sie?" fragte Robson betont gleichgültig und wandte sich dem nächsten Raum zu.

    Da schlenderte ihnen Dr. Rettig entgegen. Rob behielt seinen Weg und das Tempo unverändert bei, so dass Rettig gezwungen war, ihm auszuweichen. Statt jedoch empört oder zumindest irritiert zu wirken, grinste Rettig ihn höhnisch an. Fast so, als ob er etwas wusste, was Robson erst noch erfahren - und nicht mögen würde.

    Mit einem großen Pott heissem Kakao saß Inga im alten Lehnsessel vor dem Ofen. Draussen peitschten Sturm und Regen um das Haus, drehten die Pferde ihre Hinterteile gegen den Wind. Die Katzen staksten mit hochgezogenen Pfoten und missbilligenden Gesichtern durch die nassen Wiesen, bemüht, so schnell ins Trockene zu gelangen, wie eine würdevolle Haltung es zuließ. Umso gemütlicher war es im warmem Haus. Nach

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