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Lupenrein: Ein Frankfurt-Krimi
Lupenrein: Ein Frankfurt-Krimi
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eBook384 Seiten5 Stunden

Lupenrein: Ein Frankfurt-Krimi

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Über dieses E-Book

Eine grausam arrangierte Leiche im Frankfurter Filmmuseum ruft Kommissar Schreiner und Staatsanwalt Schultz auf den Plan. Doch das ist noch nicht alles: Ehrgeizige Politiker, die für die Karriere (fast) alles tun würden, ein vorwitziger Sensationsjournalist, Zarenjuwelen, der russische Geheimdienst und Ehefrauen mit Doppelleben trüben die Aufklärung der Tat. Nichts ist, wie es scheint. Denn lupenrein sind bei diesem Krimi nur die authentische Schilderung der Ermittlungsarbeit und die Beschreibung der Frankfurter Tatorte. Udo Scheu, schafft es auch in seinem dritten Frankfurt-Krimi, Insiderwissen geschickt zu einem spannenden Rätselraten um Täterschaft und Personenverstrickungen zu verarbeiten. Seite für Seite versenkt er den Leser immer tiefer in Frankfurts Unterwelt und in die faszinierende Psyche von Tätern, Opfern und Ermittlern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Aug. 2011
ISBN9783942921626
Lupenrein: Ein Frankfurt-Krimi

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    Buchvorschau

    Lupenrein - Udo Scheu

    Udo Scheu

    Lupenrein

    Ein Frankfurt-Krimi

    Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

    © 2011 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

    Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag

    Umschlagabbildungen: © fotolia: DayWalker, Zolthar, Gregor Buir

    Umschlaggestaltung: Nicole Proba, Societäts-Verlag

    eBook: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

    ISBN 978–3–942921–17–6

    Die Personen dieses Romans hat der Autor ins Leben gerufen, die Handlungsabläufe hat er frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit der Lebenswirklichkeit wäre rein zufällig.

    Es ist nur allzu wahr, dass der Großteil der Menschen sich gleicht, wenn auch nicht in den Begabungen, so doch wenigstens in den Untugenden.

    (Voltaire – Friedrich der Große, Briefwechsel, Haffmans Verlag, 1992. Schreiben von Voltaire an Friedrich vom 21. November 1770)

    Stuck around St. Petersburg when I saw it was a time for a change.

    Killed the Tzar and his ministers; Anastasia screamed in vain.

    (The Rolling Stones, Mick Jagger and Keith Richards, Sympathy for the devil, Copyright 1968 ABKCO Music, Inc.)

    Prolog

    „Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein …"

    Die in einen langen dunklen Mantel gekleidete Frau brach ihren krächzenden leisen Gesang abrupt ab. Sie schüttelte sich, beugte den Rücken nach vorn und setzte sich gekrümmt auf die Parkbank. Mit der einen Hand hielt sie den Mantelkragen eng an ihren Hals gepresst. Die andere Hand schaukelte den vor ihr stehenden Kinderwagen, dessen verblichene Stoffbespannung noch Reste der zarten Rosafärbung aufwies. Im Takt ihrer Handbewegung nickte sie kaum merklich mit dem Kopf.

    Das Gesicht der Frau folgte dem Rhythmus des übrigen Körpers nicht. Es schien leblos. Auffällig starr blickten die Augen zu Boden, wie in ein Nichts. Sie vermittelten eine beängstigende Leblosigkeit.

    Plötzlich schaute sie auf. Ihr Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. Sie lächelte und klatschte in die Hände. Ihr Blick heftete sich auf den geschwungenen Giebel des wenige Meter entfernt liegenden herrschaftlichen Altbaus der Villa Manskopf. Er wanderte weiter nach vorn zu dem stehenden Wasser eines liebevoll angelegten kleinen Teichs und verharrte dann auf dem hellen Putz des dahinter gelegenen Zweckbaus. Die leeren Pupillen der Frau verrieten, dass sie gar nicht wahrnahm, was sie fixierte.

    Von der Treppe des Neubaus aus beobachteten zwei Männer in weißen Kitteln das Geschehen. Sie verhielten sich völlig ungezwungen. Mit lockeren Schritten bewegten sie sich in Richtung der Parkanlage.

    Langsam näherten sich die beiden Pfleger auf einem der Parkwege der fröstelnden Frau, die soeben unvermittelt in den Kinderwagen schaute und dabei unaufhörlich winkte. Sie mussten keine Sorge haben, dass ihr Gespräch von ihr mitgehört würde. Dazu war die Entfernung zu der Parkbank noch zu groß. Außerdem blies von dem gegenüber gelegenen Oberforsthaus ein kräftiger Wind herüber, der die Wortfetzen nach hinten in Richtung Flughafenstraße davontrug.

    Der ältere der beiden Weißkittel mit dunkelbrauner Elvis-Frisur stieß seinem Kollegen leicht mit dem Ellbogen in die Seite und machte eine Kopfbewegung zu der Parkbank hin. „Da vorne. Das ist sie. Frau Gabriele Engler. Sie sah einmal sehr gut aus. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger leicht über seinen kurz getrimmten Schnauzer und lachte auf. „Du verstehst, was ich meine, Jürgen? Du heißt doch Jürgen, oder? Ich habe alte Fotos von ihr gesehen, die sie auf ihrem Zimmer liegen hat. Super sieht sie darauf aus. Die hätte ich gern mal vernascht. Früher natürlich. Mit einem kräftigen Schnalzen der Zunge unterstrich er seine Bemerkung. Sein erhobener Zeigefinger vertrug sich nicht mit der Gleichgültigkeit seiner Stimmlage. „Sie ist noch gar nicht so furchtbar lange hier. Am Anfang sah sie längst nicht so schlimm aus wie heute. Sie hat sich in der kurzen Zeit wahnsinnig verändert. Jetzt wirkt sie viel älter. Ihr Gesicht ist maskenhaft starr, als hätte sie die Parkinson-Krankheit. Die Wangenknochen treten stark hervor. Sie wirkt so unnahbar, so seltsam unerreichbar."

    Sein Kollege blieb stehen, schaute ihn an und zuckte mit den Schultern. „Das ist jedenfalls nicht meine Kragenweite. Schon von der ganzen Haltung her nicht. Übrigens stimmt es. Ich heiße Jürgen. Steht ja auf dem Namensschild an meinem Kittel. Sein Finger tippte auf das Plastikschild. Dann sah er wieder auf. „Und du bist der Andreas. Er griff sich mit der Hand in den Nacken und straffte das rote Gummi um seinen blonden Pferdeschwanz. „Erzähl mal. Wieso wird denn um die Madame da drüben so viel Aufhebens gemacht? Ich bin zwar erst den dritten Tag hier. Trotzdem habe ich schon gemerkt, dass die Tussi hier aus dem Raster fällt. Jedenfalls reden alle viel von ihr. Warum eigentlich? Ist sie so reich oder etwas Besonderes? Hochadel oder so?"

    „Weder noch. Als du dich hierher beworben hast, wusstest du doch, dass du in einem Zentrum für körperlich Schwerstbehinderte arbeiten wirst. Frau Engler hat aber kein körperliches Problem. Bei ihr ist der Fall anders. Sie tickt nicht richtig. Kapierst du? Er tippte sich an die Stirn. „Sie hat sie nicht alle, wie man so sagt.

    Der junge Mann trat von einem Fuß auf den anderen und zog sich den Kittel enger um den Körper. „Na und? Wo ist der Unterschied? Einige hier können nicht laufen, und sie hat halt nichts im Hirn. Weshalb ist das ein Thema? Und was ist eigentlich mit dem Baby? Wohnt das ebenfalls hier im Heim? Wer ist denn sein Vater? Es muss ja wohl einen dazu geben, oder?"

    „Alles der Reihe nach. Warte, bis du alles gehört und gesehen hast. Pass auf! Ich erzähle dir, was ich weiß. Danach stelle ich dich ihr vor. Er macht eine Kunstpause. „Weshalb sie eines Tages ausgerechnet zu uns kam, kann ich dir nicht sagen. Eigentlich haben wir hier keine geistig Behinderten und sind nicht darauf eingerichtet. Du verstehst? Vielleicht hat sie Beziehungen. Egal! Das muss uns nicht stören. Aber ... es gibt ein Geheimnis um sie. Hörbar sog er die Luft ein. Seine buschigen Augenbrauen erreichten dabei fast den Haaransatz mit der Tolle. Er setzte eine Miene von höchster Wichtigkeit auf.

    „Mach es nicht so spannend. Leg endlich los!", sagte Jürgen.

    „So viel kann ich dir verraten. Als sie hier einzog, brachte sie nichts mit außer einem Samowar. Das sind diese Dinger, mit denen die Russen ihren Tee zubereiten. Sie streichelt ihn manchmal und hütet ihn wie einen Augapfel. Vor ihrer Aufnahme hier bei uns soll sie völlig normal gewesen sein. Ganz plötzlich hat sie sich an nichts mehr erinnert. Sie hat praktisch ihr Leben vergessen. Nicht einmal ihren Namen wusste sie noch."

    Der Blonde runzelte die Stirn. „Wodurch ist sie denn so anders geworden? Hat sie irgendeine spezielle Krankheit?"

    Andreas schnellte mit einem Ruck die Elvis-Tolle nach hinten. Er streckte eine erhobene Hand aus, als wollte er sich gegen Zudringlichkeiten wehren. „Das weiß ich nicht. Den Auslöser für ihren Gedächtnisverlust kennt niemand. Es ist ein Geheimnis, haben die Typen gesagt. Niemand weiß etwas darüber. Ich glaube, nicht einmal unser Chef."

    „Welche Typen? Waren das Besucher von ihr?"

    Der Elvis-Verschnitt winkte ab. „Blödsinn! Sie kriegt keinen Besuch. Als einzige Patientin in unserem Haus."

    „Woher nimmst du deine Weisheiten?"

    „Von den Leuten, die sie damals brachten. Von wem sonst? Wer die waren, weiß ich nicht. Sie haben sich mir nicht vorgestellt und kamen nie wieder hierher."

    Jürgen trat vor Andreas und richtete erneut seinen Pferdeschwanz. „Du hast mir noch nicht erzählt, was mit dem Vater ihres Kindes los ist. Wo lebt der? Kommt er Frau Engler und sein Kind auch nicht besuchen?"

    Andreas hob die Schultern. „Wenn ich das alles wüsste. Keiner kennt ihn. Er war nie hier. Post bekommt sie auch keine von ihm."

    „Und das Kind? Ist es vielleicht so krank oder so entstellt, dass sie davon einen Schock bekommen hat?"

    Der falsche Elvis schüttelte den Kopf und forderte mit einer Handbewegung zum Weitergehen auf. „Ohne Worte! Schau dir selbst an, wie die Dinge liegen."

    Die beiden Pfleger näherten sich der Parkbank. In diesem Moment beugte sich Gabriele Engler über den Kinderwagen und versteckte rasch einen Zeitungsausschnitt in einem Seitenfach. Anschließend griff sie unter den Baldachin. Ihre Hand machte Streichelbewegungen. Andreas zog Jürgen am Ärmel des Kittels ganz nahe vor die Bank. „Guten Tag, Frau Engler! Darf ich Ihnen unseren neuen Mitarbeiter vorstellen? Das ist der Jürgen. Sie dürfen ihn ebenfalls beim Vornamen rufen."

    Ein breites Lächeln des jüngeren Pflegers unterstrich sein Einverständnis. Jürgen streckte Frau Engler seine rechte Hand entgegen. Er betrachtete ihr auffallend schönes Gesicht, das von einer dunkelbraunen Kurzhaarfrisur umrahmt wurde, die feine Nase und die dunkelroten vollen Lippen. Einige Kummerfalten auf der Stirn und um die Mundwinkel schienen neu zu sein und passten so gar nicht zu den ansonsten ebenen Gesichtszügen. An ihren großen hellblauen Augen blieb sein forschender Blick länger haften. Auch sie waren wunderschön. Trotzdem irritierte ihn etwas. Es lag nicht an der rötlichen Narbe, die bis zur linken Augenbraue reichte. Er musste einen Moment überlegen, bis es ihm klar wurde.

    Diese Augen strahlten nicht. Sie hatten allen Glanz verloren.

    Trotzdem zog ihn irgendetwas an Gabriele Engler magisch an und machte ihm zugleich Angst. Da stand so ein merkwürdiger Widerspruch in ihren Gesichtszügen. Einerseits eine greifbare Verletzlichkeit, dann aber wieder eine fast erotische Ausstrahlung. Etwas Eroberndes, das seine Begehrlichkeit weckte.

    Für einen Augenblick beneidete Jürgen den ihm unbekannten Mann, der Gabriele Engler hatte so nahe sein dürfen, dass aus der Beziehung ein Kind hervorgegangen war. Gleichzeitig konnte er jedoch die Bemerkung seines Kollegen nachvollziehen, der vorhin mehr oder weniger von einem abgeblätterten Charme gesprochen hatte. Die Spuren ihres Lebens hatten Gabriele Engler viel früher gezeichnet, als es von ihrem Lebensalter her zu erwarten gewesen wäre.

    Plötzlich wurde Jürgens Interesse durch eine Körperbewegung von Frau Engler gestört. Gabriele Engler richtete sich auf, schaute an den beiden Männern vorbei und blieb reglos auf der Bank sitzen. Ihr zitternder Blick verlor sich irgendwo in der Ferne.

    Mit einer vorsichtigen Drehbewegung wandte sich Jürgen dem Kinderwagen zu. „Darf ich mir das Kleine mal ansehen?"

    Als Frau Engler nicht reagierte, schaute er hinein. Im gleichen Augenblick gefror sein Lächeln. Sein Gesichtsausdruck wies Ratlosigkeit und Erschütterung zugleich auf.

    Der Kinderwagen war leer.

    So leer wie Gabriele Englers Augen.

    1. Kapitel

    D

    er Mann schaute sich nach allen Seiten um. Sein Blickfeld war durch die Sturmhaube über seinem Gesicht stark eingeschränkt. Er drückte sich in den Schatten vor dem mächtigen Eckhaus. Die halbhohen Sandsteinsäulen in geringer Entfernung von der Eingangstür gaben ihm zusätzlichen Sichtschutz. Zudem bewahrten ihn die sternenlose Nacht und seine matte schwarze Bekleidung davor, entdeckt zu werden.

    Für wenige Sekunden schloss er die Augen und atmete tief durch. Das gleichförmige Geräusch der rollenden Wellen auf dem Main beruhigte ihn. Dafür hatte offenbar der erhebliche Tiefgang von zwei Schleppern gesorgt, deren Wasserverdrängung das rhythmische Klatschen gegen die Ufermauer verursachte. Oder gab es einen anderen Grund? Fuhren überhaupt zu dieser Zeit noch Schiffe? Er entschied sich, diesen Fragen nicht weiter nachzugehen.

    Die Konzentration bei der heimlichen Annäherung an das Museum auf dem Schaumainkai hatte ihn angespannt. Ihm war entgegengekommen, dass die Straße zu dieser späten Zeit unbelebt war. Die angrenzenden Wohngebiete Sachsenhausens lagen einige Schritte weiter weg.

    Er bückte sich nach einer Segeltuchtasche, die geöffnet vor ihm auf dem Boden lag. Ohne jede zusätzliche Lichtquelle fanden seine Finger das Werkzeug.

    Mit einer geübten Bewegung setzte er das Stemmeisen zwischen der Eingangstür und ihrem Rahmen an. Obwohl er etwas Kraft aufwenden musste, verursachte er keinen Laut.

    Der Mann lauschte, als wartete er auf etwas. Dann zog er den Türgriff an sich heran. Es lag nicht an der Außentemperatur, dass er schwitzte. Mit einem unterdrückten Grunzen presste er sich gegen die Tür.

    Sie gab nach. Er ließ sie einen Spalt offen stehen. Sein Werkzeug legte er wieder zurück in die Tasche. Er nahm diese an sich und klemmte sie unter den Arm.

    Ein weiteres Mal wanderte sein Blick zu den Nachbarhäusern. Alles blieb dunkel. Es hätte auch mit dem Teufel zugehen müssen, wenn sich zu dieser späten Stunde noch jemand in einem der Museen aufgehalten hätte. Aufgereiht wie an einer Perlenkette verjüngten sich die prachtvollen Gebäude entlang des Mainufers und verloren sich im Nichts.

    Wie eine Katze schob sich der Mann durch die Eingangstür in das Haus. Die Tür lehnte er von innen an.

    Um ihn herum war es stockdunkel. Trotzdem wagte er es noch nicht, seine Mini-Taschenlampe anzuschalten. Er verharrte, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

    Mit den Händen tastete er sich zügig an der Wand entlang. Ein Beobachter hätte keinen Zweifel gehabt, dass der Mann die Aufteilung der Räume des Hauses kannte. Seine Bewegungen zeigten, dass er sogar mit den Abmessungen vertraut war.

    Nach wenigen Metern glitt er nach rechts in einen größeren Raum. Durch die bodentiefen Fenster fiel eben noch so viel schwaches Licht von außen hinein, dass die Konturen der Inneneinrichtung zu erahnen waren.

    Als der Mann die jeweils an beiden Seiten der Fensterflügel herunterhängenden Zugleinen betätigte, schlossen sich die schweren Lodenvorhänge und dichteten die Fensterscheiben weitgehend ab. Ihm fiel an der Führungsschiene des äußeren Fensters ein Defekt auf, der dort ein nahtloses Zusammengehen der Vorhänge verhinderte. Mehrmals zerrte er noch an der Zugleine, ohne das Problem beheben zu können. Er quittierte es mit einem Schulterzucken. Es gab eben Dinge, die selbst der höchsten Perfektion bei der Vorbereitung widerstanden. Vorsorglich würde er darauf achten, die Deckenlampe so bald wie möglich wieder auszuschalten.

    Erst jetzt knipste er seine Taschenlampe an und nahm die Sturmhaube ab. Der schmale Lichtkegel wanderte zu einer flachen Deckenleuchte und anschließend zu dem zugehörigen Wandschalter. Nachdem er ihn betätigt hatte, verbreitete sich ein schummriges Licht. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der schwache Lichtschein würde kaum wahrnehmbar nach draußen fallen.

    Mit ein paar Schritten war er bei einem Wandregal. Dort betrachtete er das in mehreren Etagen ausgelegte Informationsmaterial. Er sichtete in schneller Abfolge einige Exemplare.

    Die längste Zeit hielt er sich mit den Fotos auf. Seine Suche schien erfolgreich verlaufen zu sein. Er brach sie ab. Einige aussortierte Exemplare legte er obenauf.

    Danach wandte er sich einem kleinen Nebenraum zu, dessen Tür offen stand. Durch eine schmale Öffnung in der Wand schob sich das Objektiv eines Filmvorführgeräts.

    Gegenüber hing im Nachbarraum eine große weiße Leinwand von der Decke herab. Seitlich davon prangte eines der Werbeplakate mit dem Leitmotiv des Themas der Woche. Es zeigte das Foto eines Mannes mit langem schwarzem Bart im Kreise seiner Familie. Die Bekleidung der Personen wirkte antiquiert. Die Fotoaufnahme war verblichen und vergilbt. Sie erinnerte an die Anfänge der Fotografie.

    Der Mann schaltete das Vorführgerät ein. Ein flimmernder Lichtstrahl verbreitete sich auf der Leinwand in dem Vorführraum nebenan. Er betätigte die Funktionstasten, ohne lange zu suchen.

    Die ersten schwarz-weißen Bildsequenzen erschienen auf der Leinwand. Als er die abgehackten Bewegungen der gezeigten Personen sah, musste er lachen. Es handelte sich unverkennbar um sehr alte Aufnahmen.

    Die Personen in dem Film stimmten mit der auf dem Werbeplakat abgebildeten Familie überein.

    Er spulte den Film im Schnelllauf weiter. Als die Motive, die er suchte, auftauchten, drückte er die Stopptaste. Dann huschte er zurück in den Vorführraum.

    Der kleine Saal war teilweise wie ein Kino bestuhlt. Von einer der Wandseiten verlief ein halbkreisförmiges Podest in das Zimmer hinein. Drei Treppenstufen führten zu dieser Bühne hinauf.

    Mit einem ansatzlosen Sprung nahm der Mann die Treppe. Er arrangierte auf der Mitte des Podests einen Tisch und stellte einen hölzernen Stuhl dahinter. Anschließend holte er seine Segeltuchtasche. Seine Hand glitt hinein. Zuerst zog er ein goldenes Osterei hervor, das zahlreiche Verzierungen aus bunten Steinen aufwies. Sie waren mit Gold- und Silberdrähten befestigt. Vorsichtig legte er es wieder zurück. Im Anschluss daran ertastete seine Hand einen Hammer und eine Schachtel mit langen Nägeln.

    Danach öffnete er den Reißverschluss zum Vorderfach der Tasche. Mit einer behutsamen Handbewegung fuhr er hinein.

    Er grunzte. Sie war da. Die Pistole fühlte sich kalt an. Er empfand ihre Temperatur als angenehm. Das würde jedenfalls ihrer Funktionsfähigkeit nicht entgegenstehen.

    Seiner Erinnerung nach hatte die Waffe ihm noch nie das Gefühl von Wärme vermittelt. Er entsicherte sie und steckte sie griffbereit ein.

    Noch einmal spielte er sein Vorhaben in Gedanken durch. Sein prüfender Blick ging in die Runde. Er war sicher, an alles gedacht zu haben.

    Mit einiger Mühe zog er den Ärmel seines eng anliegenden schwarzen Trikots zurück. Seine Armbanduhr verriet ihm, dass er die Vorbereitungen innerhalb der geplanten Zeit abgeschlossen hatte.

    Nun blieben ihm noch fünfzehn Minuten, sein Äußeres so zu verändern, wie es sein Besucher erwarten würde. Schließlich durfte er bei seinem Vorhaben kein Misstrauen erwecken.

    Als er fertig war, drehte er den Dimmer für die Raumbeleuchtung auf die minimale Stufe. Sie ließ nicht viel mehr als schemenhafte Wahrnehmungen zu. Angesichts der Legende, die er aufgetischt hatte, würde dies nicht auffallen.

    Er bewegte sich zurück zur Eingangstür. Sein Gast konnte kommen. Er würde einen anderen Vorschuss erhalten, als er erhoffte.

    2. Kapitel

    A

    ls Dennis Hauschild mit gemessenen Schritten das in der Schönen Aussicht am nördlichen Mainufer gelegene neue Literaturhaus über die Außentreppe verließ und auf die Ignatz-Bubis-Brücke zuging, war der Abend schon fortgeschritten. Auf der Mitte der Brücke drehte er sich noch einmal um und sah, wie gerade die Außenbeleuchtung an dem Gebäude erlosch. Sofort wurde die eben noch strahlend weiße Fassade von dem Dunkel der Nacht verschluckt. Er mochte diesen Bau, dessen neoklassizistisches Portal Urlaubserinnerungen in ihm wachrief. Deshalb war er heute auch wieder dort gewesen, um sich eine Autorenlesung anzuhören. Die Präsentation war nicht allzu überzeugend ausgefallen, aber die anschließenden Gespräche mit einigen Besuchern bei dem einen oder anderen Gläschen Wein hatten ihn entschädigt. Dabei war er nach seinem Verständnis anständig genug gewesen, sich mit seiner Kritik zurückzuhalten. Als studierter Kunsthistoriker fühlte er sich auf dem Gebiet der anspruchsvollen Literatur nicht ausreichend kompetent. Hinzu kam, dass er gegenwärtig mangels einer adäquaten Anstellung sein Geld mehr schlecht als recht mit Sensationsjournalismus als freier Mitarbeiter bei einer Boulevard-Zeitung verdiente.

    Ein Anflug von Müdigkeit ließ ihn lauthals gähnen. Peinlich berührt schaute er sich um. Erleichtert stellte er fest, dass er alleine auf der Brücke war. Mit beiden Händen hielt er sich am Brückengeländer fest und schaute auf das monoton gegen den Brückenpfeiler schlagende Wasser. Langsam ließ er seinen Blick mit der Strömung des Flusses zu den hell beleuchteten Türmen der Großbanken jenseits vom Eisernen Steg wandern.

    Hauschild seufzte. Ohne Zweifel wurden dort gerade wieder Szenarien durchgespielt, die Stoff für mehrere brisante und damit für ihn einträgliche Presseberichte abgeben würden. Realistisch gesehen gab es für ihn nicht den Hauch einer Chance, an irgendeine einschlägige Information zu kommen. Wenn nur die Eintönigkeit des Abends von irgendeinem vergleichbaren Ereignis durchbrochen würde, das ihm eine Geschichte liefern und damit ein paar Scheine in sein angespanntes Portemonnaie spülen würde.

    Irgendwann wollte er zurück in seinen erlernten Beruf. So viel stand für ihn fest. Davon versprach er sich die Sicherung seiner Existenz. Endlich ein festes Gehalt einplanen können. Dann könnte er auch an eigene Kinder denken. Vorher nicht! Wenn nur die Lage am Arbeitsmarkt eine hoffnungsvollere Entwicklung erwarten ließe. Die vor nicht allzu langer Zeit erfolgte Hochzeit mit seiner Frau Susanne hatte schwere Spuren in seiner Brieftasche hinterlassen. Die Einrichtung einer neuen Wohnung im Herzen von Sachsenhausen, ein kleines Zweitauto und die aufwändige Hochzeitsfeier hatten Löcher in seine Kasse gerissen. Seine Frau hatte sich mangels Ersparnissen nicht viel an den Kosten beteiligen können.

    Als Hauschild seinen Nachhauseweg in Richtung Museumsufer fortsetzte, wusste er noch nicht, dass sich sein heimlich gehegter Wunsch nach einer satten Sensationsreportage in Kürze erfüllen und er in wenigen Minuten dem zynischen Versuch gegenüberstehen würde, ein Mordopfer als Kunstwerk zu präsentieren.

    Kurz vor dem Filmmuseum hielt er inne. Irgendetwas Unbestimmbares hinderte ihn weiterzugehen. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Fetzen Helligkeit in der Fensterscheibe neben dem Eingang des Gebäudes nicht durch die Spiegelung einer äußeren Lichtquelle hervorgerufen wurde. Der kaum wahrnehmbare, diffuse Schein verlor sich nach wenigen Sekunden wieder im Innern des Raumes. Hauschild starrte gebannt die nun wieder ins Dunkle gehüllte Scheibe an. Nach nicht einmal einer halben Minute gewahrte er dasselbe Schauspiel. Erneut huschte offenbar ein Lichtkegel durch das Zimmer und traf für einen winzigen Moment so auf das Fenster, dass ein hauchdünner Strahl nach außen gelangte.

    Hauschild stand wie angewurzelt da. Krampfhaft dachte er darüber nach, ob er näher auf das wieder ins Dunkel getauchte Haus zugehen sollte. Er war unentschlossen.

    Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Hauschild war außerstande, die Flut seiner Wahrnehmungen in eine Reihenfolge zu bringen. Ein markerschütternder Schrei zerriss die Stille der Nacht. Er ging mit einigen dumpfen Geräuschen einher, als wäre gerade jemand dabei, einige schwere Holzklötze zu spalten. Die infernalische Geräuschkulisse wurde noch durch einen Laut ergänzt, der Hauschild an das Entkorken einer Sektflasche erinnerte. Oder hatte er diesen dumpfen Ton zuerst vernommen? Alles war so schnell gegangen.

    Hauschild fröstelte. Er gestand sich ein, dass er Angst hatte. Es war die Furcht vor etwas Unbekanntem. Seine Phantasie reichte nicht hin, sich auszumalen, was in diesem Museum gerade vorging.

    Unvermittelt lächelte er vor sich hin. Was war er doch für ein Angsthase! Und das nannte sich Sensationsreporter. Einer wie er, der zusammenschrak, wenn nur ein paar schaurige Geräusche auf ihn einströmten. Er reckte sich zu seiner vollen Größe auf, strich sich mit einer Hand über seine kurz geschnittenen dunkelblonden Haare und stellte fest, dass seine Therapie zur Bekämpfung seiner Ängstlichkeit nicht funktionierte. Es führte kein Weg daran vorbei, dass seine Hand unkontrollierbar zitterte. Regelmäßige Besuche im Fitnessstudio und diverse Tätowierungen auf den muskulösen Armen und dem gesamten stämmigen Oberkörper hatten zu seinem Bedauern bislang nicht dazu beigetragen, einen Helden aus ihm zu machen.

    Er atmete mehrmals tief durch. Es half nicht. Noch immer klopfte sein Herz so stark, dass er den Widerhall an seinen pochenden Schläfen und am Klopfen in den Ohren bemerkte. Er presste seine verschwitzten Handflächen zusammen und schimpfte sich einen Jammerlappen.

    Plötzlich kam ihm eine Idee, die sich beruhigend auf sein Nervenkostüm auswirkte. Natürlich! Der Bau da drüben war schließlich das Filmmuseum. Es konnte nur so sein, dass dort ein Film lief. Das erklärte sowohl den Lärm als auch die gelegentlichen Beleuchtungsfetzen. Mochte es für eine Vorführung auch schon ungewöhnlich spät sein. Vielleicht war es irgendein Themenabend mit Überlängen. Wahrscheinlich gab das Plakat, das am Eingang angebracht war, darüber näheren Aufschluss.

    Er überquerte den Schaumainkai und näherte sich dem Gebäude. Ein anderer Gedanke schoss ihm durch den Kopf und ließ ihn mitten auf der Straße verharren. Wieso war es auf einmal mit der Geräuschkulisse vorbei? Warum gab es keinen einzigen Lichtstrahl mehr? Weshalb wurde die Raumbeleuchtung nicht eingeschaltet, wenn jetzt die Vorführung beendet sein sollte?

    Hauschild kam nicht mehr dazu, Antworten auf seine Fragen zu finden. Plötzlich flog mit einem Ruck die Eingangstür auf. Seine Augen wurden vom Strahl einer Taschenlampe getroffen. Er war sofort geblendet und konnte deshalb das weitere Geschehen nicht beobachten. Auch seinem Drang, wegzulaufen und sich damit aus der Gefahr zu begeben, konnte er nicht folgen. Mit beiden Händen rieb er sich die Augen, weil er glaubte, dadurch wieder sehen zu können. Enttäuscht registrierte er, dass sich sein Sehvermögen nicht besserte. Er zwinkerte mehrfach und formte die Augen zu Sehschlitzen.

    Da traf ihn von der Seite ein harter, kräftiger Schlag in die Magengrube. Hauschild ging stöhnend zu Boden und spürte einen stechenden Schmerz, der ihm das Atmen erschwerte. Der Stoß zwang ihn, nach Luft zu schnappen. Gleichzeitig meinte er, mit jedem Atemzug einen Messerstich in die Brust zu erhalten.

    Vorsichtig stemmte er sich vom Boden ab und zog seine Knie nach vorn. Als er sich gänzlich aufrichten wollte, drehte er sich instinktiv zum Main hin. In der spärlichen Beleuchtung der Straßenlampen sah er in einigen Metern Entfernung dort gerade noch einen Mann nach unten zum Fluss gehen. Der Mann war zu weit weg, als dass Hauschild ihn noch hätte genauer erkennen können. Auch die Farbe seiner Kleidung hatte die Nacht schon verschluckt. Es war lediglich eine Auffälligkeit, die er sich einprägte. Das Licht von oben reflektierte auf einer hellhäutigen Glatze. Dann war der Schemen verschwunden.

    Hauschild überlegte, was zu tun sei. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Das mochte eine Folge des Schlages in den Bauch sein. Er meinte, auf einem Karussell zu sitzen, das sich in rasender Geschwindigkeit drehte. Seinem Gefühl nach klopfte jemand mit einem harten Gegenstand rhythmisch gegen seine Schläfen. Das monotone Pochen verursachte ihm Übelkeit. Er wünschte sich, sofort etwas dagegen tun zu können, doch ihm fehlte jede Phantasie für eine geeignete Behandlung. Jedenfalls würde er seinen Zustand zu Hause mit einer Kopfschmerztablette bekämpfen. Für den Augenblick galt es, sich zusammenzureißen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielt er den Schlüssel für eine ungewöhnliche Story in den Händen. Er war nur noch unschlüssig, wie er diese Erkenntnis konkret umsetzen sollte.

    Sollte er die Gelegenheit nutzen und durch die offen stehende Eingangstür in das Filmmuseum gehen? Vielleicht bot sich ihm dort der Stoff für eine aufsehenerregende Reportage. Zudem führte er eine kleine Digitalkamera mit sich. Für alle Fälle. Andererseits war er sich darüber im Klaren, dass er mit dieser Vorgehensweise etwas Unerlaubtes tun würde. Außerdem war nicht gesagt, dass er in dem Gebäude nicht noch weitere Personen antreffen würde. Eine solche Begegnung könnte für ihn gefährlich sein.

    Als Alternative bot sich nur an, die Polizei anzurufen. Mit der Folge, dass seine Story vielleicht nur noch mit gefilterten Informationen aus deren Hand geschrieben werden könnte. Das erschien ihm längst nicht so verlockend.

    Seine Neugier und der Hunger nach einer Sensationsgeschichte kämpften mit seiner Angst. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Nichts! Alles blieb still. Im Schatten, den die spärliche Straßenbeleuchtung hinterließ, schlich er sich an den Eingang des Gebäudes heran. Die Tür war aufgebrochen und nur angelehnt. Er schlüpfte in das Haus. Die Innenräume lagen vollständig im Dunkeln. Hauschild wagte nicht, das Licht einzuschalten. Er benötigte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann tastete er sich zum Vorführsaal heran. Mit dem Rücken glitt er an der Wand bis zur Fensterseite entlang. Er fühlte die herabhängenden Vorhänge und schlug sie vorsichtig zurück. Etwas Außenlicht der Laternen drang nun in den Raum.

    Jetzt drehte sich Hauschild um. Er zuckte zurück. Der Anblick des gegenüberliegenden Podests überstieg alle seine Vorstellungen. Was sich ihm hier bot, war ein inszeniertes, nicht

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