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Das blaue Licht: Ein Frankfurt-Krimi
Das blaue Licht: Ein Frankfurt-Krimi
Das blaue Licht: Ein Frankfurt-Krimi
eBook300 Seiten4 Stunden

Das blaue Licht: Ein Frankfurt-Krimi

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Über dieses E-Book

Udo Scheu, lange Jahre Präsident des hessischen Landeskriminalamtes und davor Staatsanwalt in Frankfurt, kennt das Verbrechen wie kaum ein anderer. Sein erster Roman ist geprägt von diesem Blick eines Insiders: Schnörkellos beschreibt er die Arbeit der Polizei, die Psyche der Verdächtigen und das Leiden der Opfer. Ein Buch, das ins Zentrum des Verbrechens führt.

Am Beginn der Ermittlungen stehen grausame Morde: Ein Rentner wird tot aufgefunden, einem ermordeten Künstlerpaar wurden die Augen verstümmelt. Die Polizei steht vor einem Rätsel, ein Zusammenhang zwischen den Taten fehlt ebenso wie ein Motiv. Erst die Entführung eines Kindes führt die Beamten auf die richtige Spur – so glauben sie es jedenfalls.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2015
ISBN9783955421366
Das blaue Licht: Ein Frankfurt-Krimi

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    Buchvorschau

    Das blaue Licht - Udo Scheu

    Licht

    E

    s hatte aufgehört zu regnen. Nach wie vor blies ein kräftiger Wind und trieb eine dunkle Wolkenfront vor sich her. Am westlichen Horizont zeigte sich für kurze Zeit ein aufkommender hellblauer Streifen fahlen Lichts, der wie von schwefelgelben Fäden durchzogen war. Nach wenigen Augenblicken schluckte die einbrechende Dunkelheit nahezu alle Konturen und hinterließ einen sternlosen Himmel. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr sieben Mal.

    Manfred Hübner war auf die Terrasse seiner Wohnung herausgetreten. Er mochte diese Lichtverhältnisse, die ihn stark an seine Kindheit in Norddeutschland erinnerten. Noch heute verspürte er gelegentlich Heimweh, obwohl er dort keine Verwandte oder Freunde mehr hatte. Aber in ihm war die Überzeugung wach geblieben, dass er dort hingehörte. Vielleicht hätte er doch vor Jahrzehnten seine Freundin und spätere Frau überreden sollen, zu ihm nach Husum zu kommen. Aber er hatte sich nicht durchsetzen können und war ihr nach Frankfurt gefolgt. Dort war er dann geblieben, auch nachdem sie vor sechs Jahren plötzlich gestorben war.

    Als er das Läuten der Kirchenuhr hörte, griff er in die Brusttasche seines dunkelroten Flanellhemdes und zog eine rot-weiße Packung Zigaretten heraus. Sein Blick huschte über die Aufschrift, die besagte, dass Rauchen tödlich sein könne. Aber seine Gedanken waren noch bei seiner verstorbenen Frau. Was sie wohl sagen würde, wenn sie ihn wieder rauchen sehen würde? Wie viel Kraft hatte sie vor Jahren darauf verwendet, ihn davon abzubringen! Unzählige Argumente hatte sie angeführt, die alle mehr oder weniger zutrafen. Aber das Aufhören mit dem Rauchen war nicht nur eine Sache des Kopfes. Das hatte er ihr immer gesagt. Und dann hatte er schließlich doch aufgehört. Sie war so glücklich darüber, dass sie ihm eine Uhr zum Geschenk gemacht hatte. Als Erinnerung an gewonnene Lebenszeit, hatte sie auf einem Begleitkärtchen vermerkt.

    Und nun sah er auf eben diese Uhr, verglich die Zeit mit dem Schlag der Kirchturmuhr und nahm langsam eine Zigarette aus der Schachtel. Er setzte sich auf einen der beiden Holzstühle, die er sich vor zwei Wochen im Sonderangebot zusammen mit einem passenden Tischchen gekauft hatte. Warum er zwei Stühle erworben hatte, wusste er nicht mehr. Einer hätte genügt. Schließlich lebte er allein, und mit seinen siebenundsechzig Jahren sollte sich dies nicht mehr ändern. Er hatte keine Freunde oder Bekannte. Gerade deshalb liebte er diese Wohnung so sehr. In den Wohnungen über ihm lebten ein Flugbegleiter und ein Handelsvertreter, die beide so gut wie nie zu Hause waren. Außerdem wohnte im Dachgeschoss noch ein junges Paar mit einem quirligen Rauhaardackel, der den Tag über gelegentlich jaulte.

    Gegenüber von seinem Garten schloss sich ein weiteres kleines Wohnhaus an. Dort sah er ständig einen Mann aus dem Fenster schauen, der offensichtlich die Vögel beobachtete oder vor sich hin träumte.

    Er nahm einen Lappen vom Fensterbrett, wischte einige Regentropfen vom Stuhl und legte sich ein Sitzkissen unter. Aus seiner Hosentasche kramte er ein Wegwerffeuerzeug hervor und zündete sich eine Zigarette an.

    Nachdem er aufgehört hatte, als Sicherheitsbeauftragter zu arbeiten, hatten sich mehrere Vertreter von Sicherheitsunternehmen bei ihm gemeldet, um ihm einen Job anzubieten. Darüber hatte er sich sehr gewundert. Ihm war nicht klar, welchen Vorteil sie aus seiner Beschäftigung ziehen konnten. Seine Leistungsfähigkeit schätzte er nicht sehr hoch ein. Sein erworbenes Fachwissen enthielt nach seiner Einschätzung keine unverzichtbaren oder wichtigen Informationen.

    Seit zwei Jahren war Manfred Hübner nun Rentner, und er kam gut damit zurecht. Anfangs hatte ihn die Sorge beschlichen, dass er nicht wissen würde, wie er den Tag ausfüllen sollte. Aber er hatte sich endlich den Traum erfüllt, eine leistungsstarke Kamera mit allem nur vorstellbaren Zubehör zu kaufen. Die ständige Motivsuche, insbesondere nach ungewöhnlichen Szenen im Bereich des Frankfurter Flughafens, machte ihm Spaß. Er konnte selbst entwickeln und Abzüge herstellen, sogar in Farbe. So hatte er immer gleich die Ergebnisse seiner Ideen vor Augen und freute sich daran. Vom Kauf einer dieser modernen Kameras, deren Bilder man sofort auf dem Computer betrachten konnte, hatte er bewusst abgesehen. Das war nichts für ihn.

    Manfred Hübner zog an seiner Zigarette, etwas missmutig, weil er sah, dass sie schon fast bis zur Hälfte heruntergebrannt war. Er hatte sich gestattet, jede Stunde zwei Zigaretten hintereinander zu rauchen. Und manchmal wurden aus den zwei Zigaretten drei. Dabei war es gar nicht immer so genussvoll, wie er sich das erhoffte. Am meisten liebte er die ersten Züge, die ihm, wie er das nannte, den Kopf leer machten. Manchmal wurde ihm dabei schwindlig. Gerade dieses Gefühl liebte er. Doch oft waren die restlichen Züge eher von einem trockenen Hals begleitet. Und auch die Tasse Kaffee, die er sich gelegentlich mit in den Garten nahm, änderte daran nicht viel.

    Die Glut seiner Zigarette hatte jetzt fast den Filter erreicht. Er drückte sie aus und griff automatisch wieder nach der Schachtel. Sie war leer.

    Auf der Schwelle der Terrassentür fiel ihm ein, dass er nach dem Einkaufen die neue Zigarettenstange entgegen seiner Gewohnheit nicht im Küchenschrank abgelegt hatte. Er hatte sie gleich im Flur deponiert.

    Als er durch das Wohnzimmer ging und vor der Tür zum Flur stand, klingelte das Telefon. Zwischen dem Zweisitzer und dem Dreisitzer hatte er einen Beistelltisch aus Acrylharz aufgestellt, auf dem er den Telefonhörer abgelegt hatte. Er nahm ihn rasch an sich, da der Anrufer nach dem vierten Klingeln schon auf die Mailbox umgeleitet würde und er nicht wusste, wie er sich dann in das Gespräch einschalten konnte. Er drückte den grünen Knopf.

    „Hier Hübner", meldete er sich.

    Am anderen Ende der Leitung folgte keine Reaktion.

    „Hallo", rief er in den Hörer. Wieder nichts. Er wollte schon auflegen, als plötzlich eine stakkatoartige Abfolge von Tönen in sein Ohr drang, die ihn an Morsezeichen erinnerte.

    „Hallo!", rief er erneut. Schließlich drückte er entnervt den roten Knopf zur Beendigung des Telefonats und legte den Hörer zurück auf den Beistelltisch.

    Seit einigen Wochen ging das nun schon so. Manchmal mehrmals am Tag. Aber irgendetwas war heute anders gewesen.

    Die Tonfolge war in der Vergangenheit eine andere gewesen. Immer hatte es sich um lang gezogene Töne gehandelt. Heute war es nun zum ersten Mal eine Kurztonfolge.

    Am Anfang hatte er noch an eine versehentliche Umstellung der Technik auf ein Faxgerät geglaubt. Aber dann wiederholten sich die Anrufe zu oft und waren zu gleichförmig, als dass man von einem Zufall hätte ausgehen können. Auch einen Defekt seines Anschlusses schloss er aus.

    Er ging wieder in den Flur, holte sich eine neue Schachtel Zigaretten und öffnete sie. Vorsichtig nahm er eine Kippe heraus, steckte die Schachtel in die Brusttasche seines Hemdes und zog das Feuerzeug aus der Hosentasche. Noch im Zimmer, aber auf der Schwelle zur Terrassentür, zündete er sich die Zigarette an. Dann warf er einen Blick auf das gegenüberliegende kleine Haus. Es war etwa zwanzig Meter weit entfernt, von einem Jägerzaun von den anschließenden Grundstücken abgetrennt, dazwischen ein schmaler Kiesweg. Der Weg war zwar öffentlich zugänglich, aber nur selten verirrte sich dorthin ein Spaziergänger. Im linken Fenster der Erdgeschosswohnung brannte Licht. Ein unangenehmes gleißendes Licht. Es erinnerte ihn an das Flutlicht in Sportstadien.

    Er setzte sich wieder auf seinen Lieblingsplatz und streckte die Beine aus. Von hier konnte er über große Teile des Gartens schauen. Den im Dunkel liegenden linken Teil behielt er dabei im Rücken. Gierig sog er an der Zigarette.

    Wie mochte es jetzt mit ihm weitergehen, dachte er. Er hatte keine Vorstellung. Was war das für ein Lebensabschnitt, in dem er sich nun schon seit zwei Jahren befand? Würde es noch einmal Veränderungen geben? Oder wenigstens über den Alltag hinausgehende Neuigkeiten? Er war sich gar nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Solange es nichts Neues gab, gab es auch nichts Schlechtes. Aber war das nicht trostlos? Wenn jeder Tag in seinem Verlauf absehbar war, war das dann wirklich eine erlebenswerte Zukunft? Es war der letzte Lebensabschnitt!

    Sollte er reisen? Aber das war teuer. Gut, er hätte sich in einem einfachen Rahmen die eine oder andere Reise leisten können. Aber ob dies die immer wieder auftretende Leere in seiner Gefühlswelt schließen und ihm rundum das Bewusstsein der Zufriedenheit geben würde?

    Er würde diese ganzen Fragen auch heute Abend nicht abschließend beantworten können. Zu oft schon waren seine Gedanken um diese Themen gekreist und immer wieder war er dabei an seine Grenzen gestoßen. Er war nicht das, was man im Geschäftsleben einen Entscheider nannte.

    Immer hatte dies versteckt in seinen Zeugnissen und Beurteilungen gestanden: Dass er zu wenig Selbstvertrauen habe, zu zögerlich sei, um rasch gebotene Entscheidungen zu treffen. Nur einmal war ihm dieser Charakterzug positiv ausgelegt worden. Das hatte seine frühere Freundin und spätere Frau so schön formuliert. Gerade seine besonnene, differenzierte und abwägende Art sei es, die sie so sehr an ihm liebe.

    Er drückte seine zweite Zigarette aus und überlegte, ob er sich noch eine dritte gönnen sollte. Der Wind hatte etwas nachgelassen, und er liebte diese Stimmung der Stille, die beruhigende Dunkelheit.

    Unverhofft fiel ihm etwas auf, kroch in seine Gedanken – das Fenster in der gegenüberliegenden Erdgeschosswohnung war leer gewesen, als er nach dem Telefonat wieder in den Garten gegangen war. Dort, wo sonst immer dieser Mann gestanden und emotionslos in seine Richtung geschaut hatte, war der Fensterrahmen unausgefüllt gewesen.

    Manchmal glaubte Hübner sogar, dass sein Nachbar seinetwegen am Fenster stand und ihn beobachtete.

    Aber warum sollte er das tun? War er möglicherweise ein wenig eigenwillig oder schrullig, vielleicht sogar etwas impertinent? Oder war er nur neugierig?

    Hübner stutzte. War da nicht ein Geräusch gewesen, seitlich von ihm?

    Er lauschte in die Stille.

    Nichts. Kein Laut.

    Oder? Vielleicht war es nur eine streunende Katze oder eine Maus?

    Da! Wieder war es ihm, als ob sich in der Hecke zum linken Nachbargrundstück etwas bewegt hätte.

    Als Manfred Hübner zum dritten Mal aufhorchte, hatte er das Gefühl, dass sich irgendetwas unmittelbar hinter ihm mit rascher Geschwindigkeit auf ihn zu bewegte. Plötzlich spürte er einen Schlag auf dem Kopf – oder im Kopf! Er fühlte, wie eine grelle weiße Rakete in seinem Schädel gezündet wurde, die in seinem gesamten Gehirn hellweiße Sterne versprühte. Vor seinem geistigen Auge sah er stakkatoartige Morsezeichen, bevor sich alles in einem weißen Licht auflöste. Unvermittelt kippte Manfred Hübner vom Stuhl.

    Als er auf dem Boden aufschlug, war er schon tot.

    Langsam frischte der Wind wieder auf. Der Regen setzte erneut ein. In dem Aschenbecher auf dem Terrassentisch sammelte sich schnell das Wasser. Von der Kirchturmuhr schlug es zur halben Stunde.

    Es war Montag, der 15. März 2004, 19.30 Uhr.

    ***

    Hanspeter Schultz saß gemütlich in seinem mit braunem Leder ausgeschlagenen Ohrensessel, dem Geschenk seiner Frau zur vergangenen Weihnacht. Ordnungsliebend, wie er war, hatte er sämtliche Gegenstände, die er innerhalb der nächsten zwei Stunden für unentbehrlich hielt, auf den kreisrunden kleinen Holztisch neben sich gelegt. Nachdem er einen nachdenklichen Blick auf die Übergardinen geworfen hatte, strich er sich bedächtig über seinen grau melierten Vollbart, sein ganzer Stolz und ständiges Objekt seiner aufmerksamen Pflege. Sein Bart war üppig, ebenso wie sein Haar, das er als Bürste geschnitten trug.

    Seine rechte Hand fuhr langsam über seinen unter der dunkelblauen Weste kugelförmig gespannten Bauch und entnahm der kleinen Seitentasche eine goldene Uhr, deren Kette sich irgendwo unter der Weste verlor. Er klappte den Deckel auf und stellte mit befriedigtem Grunzen fest, dass es erst 21.47 Uhr war. Er nahm es immer genau mit der Feststellung der Uhrzeit. Das glaubte er seinem Image als Staatsanwalt schuldig zu sein.

    Vorsichtig schloss Schultz den Uhrendeckel wieder und schob die Uhr zurück in seine Westentasche.

    Tatsächlich war er bei einer Körpergröße von 1,72 Meter mit seinen 98 Kilo einfach zu dick. Aber es störte ihn nicht wirklich. Nur die 100-Kilogramm-Marke wollte er nicht überschreiten. Sonst würde es Ärger mit seiner Frau geben. Und den fürchtete er wie der Teufel das Weihwasser. Seine Frau war resolut und durchsetzungsfähig. Sie war in der Ehe wohl das, was man in Karikaturen gelegentlich als den eigentlichen Mann im Haus darstellte.

    Und nun war sie, wie so oft, nicht zu Hause. Als einzige Tochter eines lange und gut eingeführten Frankfurter Kaufhauses hatte sie Volks- und Betriebswirtschaft studiert, um irgendwann das Unternehmen weiterzuführen. Da aber ihre Eltern noch vergleichsweise jung waren und sie wiederum keine Lust hatte, unter deren Oberhoheit in dem Geschäft zu arbeiten, hatte sie sich um eine Stelle in der Abteilung Geldhandel einer Frankfurter Großbank beworben. Dort hatte sie eine herausragende Karriere gemacht. Dies führte aber immer wieder zu Auslands- und anderen Ortsabwesenheiten.

    Mit andächtigem Lächeln dachte Hanspeter Schultz, dass er seine Frau nach wie vor liebe.

    Er warf seinen Blick auf das runde Holztischchen neben sich und stellte zufrieden fest, dass er an alles gedacht hatte. Dort befanden sich seine goldgefasste Lesebrille mit halben Gläsern, das Magazin „Der Spiegel" von dieser Woche, die Fernbedienung für den Fernseher, eine Teetasse mit japanischem Muster samt der dazugehörigen kleinen Teekanne, aus deren Ausguss es leicht dampfte, eine bleistiftlange metallene Hülse, in der sich eine Zigarre befand, eine Schachtel Streichhölzer und seine geliebten belgischen Pralinen.

    Auf den Abend hatte er sich besonders gefreut, weil um 22.20 Uhr ein klassischer Wildwestfilm im Fernsehen lief. Er liebte dieses Genre. Schon als kleiner Junge hatte er gerne nach den Karl-May-Bänden gegriffen. Bevorzugt hatte er die aus seiner heutigen Sicht vielleicht etwas romantisierten Indianergeschichten gelesen. Zu gerne hatte er sich an Karneval als Cowboy kostümiert, obwohl er ein Indianerkostüm noch vorgezogen hätte. Doch mit seiner schon damals merklichen Pummeligkeit und seinem trotz seiner dunkelbraunen Haare sehr hellen Teint hätte er keinen überzeugenden Indianer abgegeben.

    Er griff nach der Metallhülse und entnahm ihr die Zigarre. Natürlich war es eine „Partagas". Diese Sorte schätzte er am meisten.

    Aus der Hosentasche zog er ein kleines Taschenmesser und kerbte das Mundstück der Zigarre sorgfältig ein. Dann riss er ein Streichholz an, entzündete feierlich die Zigarre und paffte die ersten Rauchschwaden in das Zimmer. Die Schwaden bewegten sich langsam auf den gewichtigen Kristalllüster an der Decke zu und umkreisten ihn wie schwere Wolken. Er beobachtete es für einen kleinen Moment ganz gefällig, bevor er nach der Teekanne griff und sich seinen Lieblingstee, einen Jasmintee, eingoss.

    Der siebentägige Sonderdienst verlangte Tag und Nacht die telefonische Erreichbarkeit. Insbesondere in Fällen von besonderer Bedeutung, wie es in Amtsdeutsch hieß, war sicherzustellen, dass die Beamten der Polizei auf einen staatsanwaltschaftlichen Dienst zurückgreifen konnten. Das war beispielsweise dann der Fall, wenn nach einer gerade begangenen Straftat Haftbefehle zu beantragen oder etwa Durchsuchungs-, Telefonüberwachungs- oder Beschlagnahmebeschlüsse bei Gericht zu erwirken waren. Derartige Aufgaben waren vom Gesetz her der Staatsanwaltschaft und nicht der Polizei zugewiesen. Auch ansonsten hatte die Polizei bei wichtigen Straftaten die Staatsanwaltschaft zu unterrichten, da dieser gesetzlich die Führung von Ermittlungsverfahren übertragen war und die Polizei ihren Weisungen unterstand.

    Jede Woche waren zwei Staatsanwälte zum Bereitschaftsdienst eingeteilt, um auf jeden Fall die Erreichbarkeit zu gewährleisten. Da Schultz an erster Stelle auf der Liste stand, würde man sich wohl in dieser Woche im Bedarfsfall zuerst an ihn wenden.

    Er schlürfte genüsslich seinen Tee. Die letzten Wochen waren ruhig gewesen. Warum sollte sich das also gerade jetzt ändern?

    In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Schultz verfluchte sich. Mit seinen Gedanken über die ruhige Vergangenheit hatte er am Ende einen Anruf heraufbeschworen. Verärgert stellte er fest, dass er vergessen hatte, den Telefonhörer zu den Gegenständen auf das Tischchen zu legen. Er stand auf, ging über den schweren handgeknüpften Perserteppich zur Bibliothek und nahm von der dort angebrachten Basisstation den Hörer ab.

    „Schultz", meldete er sich knapp, mit kräftiger Stimme.

    „Gott sei Dank sind Sie zu Hause, schallte es ihm im nicht minder lauten Tonfall entgegen. „Hier ist Schreiner vom K 11. Es gibt Arbeit.

    Staatsanwalt Schultz mochte Schreiner, der dem für Kapitaldelikte zuständigen Kommissariat des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main seit vielen Jahren angehörte. Er hatte seine fantasievolle Ermittlungsarbeit in einem früheren Verfahren kennengelernt und schätzte seitdem seine große Erfahrung.

    „Was, Herr Kriminaloberkommissar Schreiner, veranlasst Sie zu der Bemerkung, dass ich ›Gott sei Dank‹ zu Hause bin? Wo soll ich sonst sein, wenn ich Dienst habe? Was hatten Sie denn befürchtet?"

    „Na ja, druckste Schreiner herum. „Ich hatte gesehen, dass an zweiter Stelle der Liste eine Dame steht. Deshalb hatte ich gebetet, dass Sie da sind.

    „Sollte das wieder der Beginn einer Ihrer gerichtsbekannten frauenfeindlichen Äußerungen sein?, fragte Schultz. „Sie sollten zur Kenntnis nehmen, mein Lieber, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert Frauen längst ihren Einzug in die Amtsstuben genommen haben und bei gleicher Qualität wie die Männer Leistung bringen. Oder zweifeln Sie daran? Schultz wusste, dass Schreiner mit diesem Thema Probleme hatte.

    „Nein, nein, gab Schreiner kleinlaut bei. „Aber Spaß beiseite! Ich glaube, dass Sie sich das ansehen müssen.

    „Dann schießen Sie mal los!"

    „Also, wir haben einen Mord in Frankfurt-Praunheim, im Messelweg."

    „Tötungsdelikt sollten Sie sagen, Verehrtester, meinte Schultz. „Ob es ein Mord ist, wird sich zeigen. Das ist eine juristische Bewertung!

    „Dann eben Tötungsdelikt, fuhr Schreiner unbeeindruckt fort. „An dem Umstand, dass wir einen Toten haben, ändert das erst einmal nichts! Zum Sachverhalt: Der Messelweg ist eine reine Wohnstraße mit kleineren Wohneinheiten, meistens kleine Einfamilienhäuser oder vermietete Objekte mit jeweils bis zu vier Partien. Tatort ist vermutlich die Terrasse oder der Garten hinter dem Wohngebäude Nummer 117, das von vier Mietparteien bewohnt wird.

    „Ich kenne die Gegend, unterbrach Schultz und überlegte, ob er den Hinweis geben sollte, dass die Terrasse oder der Garten wahrscheinlich noch gar nicht als Tatort feststanden, sondern Schreiner wohl eher den Ort der Auffindung der erwähnten Leiche meinte. Dann entschied er sich aber, die neuerliche Belehrung zu unterdrücken und sagte schlicht: „Machen Sie weiter!

    „Die oberste Wohnung des Hauses Nummer 117 hat ein jüngeres Pärchen mit einem Hund gemietet. Sie waren den ganzen Tag außer Haus, arbeiten. Als sie nach Hause kamen, sind sie erst einmal mit dem Hund spazieren und unmittelbar im Anschluss daran in eine nahe gelegene Pizzeria gegangen, um etwas zu essen. Wieder zu Hause angekommen, machten sie wie gewöhnlich vor der Haustür den Hund von der Leine ab. Der schoss dann in den Garten davon, bellte wie verrückt und kam auch auf mehrfaches Zurufen nicht wieder. Als die beiden jungen Leute ihren Hund schließlich im Garten einfangen wollten, sahen sie die Bescherung."

    „Falls Sie mit ›Bescherung‹ das Vorhandensein einer Leiche meinen, wäre es angebrachter, Ihren Formulierungen dem Ernst der Lage entsprechend etwas mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden."

    „Na schön, im Garten trafen die beiden jungen Leute auf den am Boden liegenden Mieter der Erdgeschosswohnung, fuhr Schreiner fort. „Sie müssen furchtbar erschrocken sein. Sie stellten erhebliche Kopfverletzungen bei dem Mann fest und riefen uns sofort an. Das ist erst einmal alles.

    „Wie, alles?, fragte Schultz. „Wo bleiben denn Ihre Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine nicht natürliche Todesursache handelt?

    „Ich hatte schon gesagt, dass es sich um ein Tötungsdelikt oder einen Mord handelt", gab Schreiner schroff zurück.

    „Woraus schließen Sie das denn? Gibt es dafür Erkenntnisse? Gibt es eine Tatwaffe, oder ist das Opfer erwürgt worden?"

    „Er hat, wie bereits erwähnt, eine schwere Kopfwunde. Es sieht nicht so aus, als hätte er sich die selbst beigebracht. Er ist erschossen worden, führte Schreiner geduldig weiter aus. „Den Rest erzähle ich Ihnen, sobald Sie hier sind.

    „Wann sind Sie unterrichtet worden?", fragte Schultz.

    „Das muss so gegen 21.00 Uhr gewesen sein. Genauer wird das im Bericht festgehalten."

    Schultz ärgerte sich ein bisschen über die unpräzise Zeitangabe, bemängelte dies aber nicht. Stattdessen sagte er: „Gut, ich komme."

    „Soll ich Ihnen einen Streifenwagen vorbeischicken, oder kommen Sie mit Ihrem eigenen Auto?"

    „Um Gottes Willen, wehrte Schultz ab, „nur keinen Streifenwagen. Bis Sie Ihre uniformierten Kollegen mobilisiert und die mich aufgenommen und nach Praunheim gefahren haben, ist niemand mehr am Tatort.

    „Gut. Geben Sie mir bitte noch Ihren Wagentyp und Ihr Kennzeichen durch. Ich gebe es dann den Kollegen vor der Tür weiter, die zurzeit ein Stück der Straße absperren. Dann werden Sie problemlos durchgelassen."

    „Das würde mir sicher auch mit dem Dienstausweis gelingen, aber Sie haben recht. So ist es einfacher. Übrigens, ist denn schon Presse vor Ort?"

    „Bis jetzt noch nicht. Also, bis gleich."

    „Bis gleich."

    ***

    Von seinem Haus auf dem vornehmen Lerchesberg im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen zum mutmaßlichen Tatort in Praunheim benötigte Hanspeter Schultz mit seinem schwarzen Mercedes 230 E eine knappe halbe Stunde. Praunheim lag fast am anderen Ende Frankfurts, und er achtete grundsätzlich peinlich auf die Einhaltung der Geschwindigkeitsbestimmungen.

    Als er in den Messelweg einbog, glitt sein Blick auf der Suche nach den Hausnummern an den wie aneinandergereihte Schuhkartons dastehenden Reihenhäusern entlang. Kurz bevor er die dreistelligen Hausnummern erreichte, griff er noch einmal nach dem Knoten seiner Krawatte, um zu prüfen, ob sie richtig saß. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, dass er sich rasch in einen Anzug gekleidet hatte, bevor er losgefahren war. Dienst verband er mit Korrektheit und dazu gehörte für ihn ein gepflegtes Äußeres.

    Das Haus mit der Nummer 117 musste er nicht lange suchen. Schon bald hatte er die blinkenden Blaulichter gesehen und war direkt darauf zugefahren. Seinen Dienstausweis hatte er bereits vor Fahrtantritt griffbereit neben sich gelegt, um nicht in seinen Taschen herumhantieren

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