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FUGUE: oder Die Frau mit dem roten Koffer
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FUGUE: oder Die Frau mit dem roten Koffer
eBook343 Seiten4 Stunden

FUGUE: oder Die Frau mit dem roten Koffer

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Über dieses E-Book

Der spätabendliche Anruf eines angeblich alten Schulkameraden wirft Thomas Bühlers Leben kräftig aus der Bahn.
Der arbeitslose Journalist und Trinker wird von dem Anrufer für einen Privatdetektiv gehalten. Und so nimmt er den Auftrag an, dessen Frau zu observieren. Kurze Zeit später wechselt er die Fronten. Schnell stellt sich heraus, dass er in eine Art überaus gefährliches wie raffiniert gestricktes Katz-und-Maus-Spiel geraten ist. Was ist dabei Realität, was Fiktion? Was hat das Ehepaar mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun? Immer tiefer gerät er in einen Strudel voller mysteriöser und nur auf den ersten Blick scheinbar zufälliger Ereignisse.
Und so muss Bühler letztlich erkennen, dass man nicht ewig vor seiner eigenen Geschichte flüchten kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. Jan. 2018
ISBN9783746054544
FUGUE: oder Die Frau mit dem roten Koffer
Autor

Christoph Thomas Trick

Christoph Thomas Trick, geboren im Dezember 1961, verfasste unter anderem die Romane „Der Mann mit dem blauen Hut“ und „Fugue“, veröffentlichte zudem Kurzgeschichten. Der Autor ist Kommunikationswissenschaftler, arbeitete unter anderem als PR-Berater und in der Marktforschung, danach viele Jahre als Chefredakteur einer Zeitschrift. Heute ist der Münchner als freier Journalist tätig. Seinem Lieblingshobby Ski Alpin geht er nebenberuflich als Skiguide in der Schweiz nach.

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    Buchvorschau

    FUGUE - Christoph Thomas Trick

    „Moral ist ein privater und teurer Luxus."

    Henry Adams (1838 bis 1918)

    Die Moral ist mitunter so unmoralisch,

    wie nur die Unmoral moralisch sein kann.

    Der Verfasser

    Meiner geliebten Frau Monica gewidmet.

    Dank meiner Schwiegermutter für ihre großartige Unterstützung.

    Inhaltsverzeichnis

    Eigentlich wollte er nichts

    Am nächsten Morgen schreckte

    In jenen Augenblicken, in denen

    Am nächsten Morgen stand Bühler um

    Stuttgart also. Das erschien ihm besser

    Am darauffolgenden Tag

    Einige Stunden später

    Es war bereits früher Abend

    Keine zwei Minuten später

    Bühlers Leben hatte eine Wendung

    So also passierte es

    Kemmler kam schneller als erwartet heraus

    Eine Woche später folgte

    Rom funkelte. Es war ein einziges

    Während der darauffolgenden Tage

    Dem nächsten Tag maß Bühler

    Es war bereits spätabends

    Nichts war somit vorbei, und einiges

    So löschte also ein Mord gleich

    Eine knappe halbe Stunde später

    Gut zwei Monate später

    Eigentlich wollte er nichts mehr oder zumindest nicht mehr viel von dieser Welt wissen. Er war das, was man landläufig als gescheiterte Existenz bezeichnet, und in seinem Innern war schon nahezu kein Aufruhr mehr. Aber dann klingelte eines späten Abends sein Telefon, weit nach dreiundzwanzig Uhr, ein für ihn eigentlich untragbarer Zustand, solch ein unverschämt später Anruf. Aber so nahm eine Geschichte ihren Lauf, seine Geschichte, und sie würde ihm zeigen: Alles folgt einer stringenten Ordnung, einem vorgegebenen Faden, der dennoch Chaos und Zufall zugleich ist. Oder gaukelt er uns dies bloß erfolgreich vor? Für ihn jedenfalls war das so.

    Bühler stand gerade vor dem Badezimmerspiegel und schob sich Zahnseide zwischen die Zähne. Verwundert über den späten Anruf eilte er aus dem Bad hinaus und ins Wohnzimmer hinein, wobei er beinahe über einen vergilbten, staubigen Läufer gestolpert wäre. Hektisch hob er den Hörer ab, aber niemand meldete sich oder wollte sich melden. Er dachte, jemand habe soeben festgestellt, es sei die falsche Nummer. Er schritt somit leicht verärgert zu seiner Zahnpflege zurück. Mühsam zog er den Faden durch enge Zahnzwischenräume, freute sich auf seine Gute-Nacht-Lektüre, etwas Philosophisches, etwas über den Unsinn der Moral und den Sinn der Unmoral, darüber, wie beide einer stringenten Ordnung folgen. So ganz verstand er es nicht. Doch interessierte ihn, was dahinterstecken mochte, und er war fasziniert von dem Gedanken, dass die eigentliche Moral im Leben die Unmoral sei. Dass aus dem unmoralischen Tun das fruchtbare Chaos erwachse. Solche wirren philosophischen Gedanken schwirrten gerade durch seinen Kopf, als es erneut läutete.

    Bühler bekam zu jener Zeit nur selten Anrufe. Wenn überhaupt, rief seine Mutter und noch seltener als diese sein Verlegenheitsverhältnis Jutta an. Allerdings nie zu solch später Uhrzeit. War somit etwas Schlimmes passiert?

    Er zögerte. Doch dann trieb ihn die Neugierde. Instinktiv spürte er, dass ihn dieser Anruf aus seiner momentanen Agonie holen könnte. Denn er war bereits seit längerem arbeitslos, ihm fehlte jede Perspektive oder auch nur ein entschlossener Blick in eine andere Zukunft. Mit anderen Worten: Er schlitterte gerade durch eine handfeste Identitätskrise. Dank der Arbeitslosigkeit, die ihm mehr zusetzte, als er sich selber gegenüber zugab, hatte er mit dem Trinken begonnen, vorwiegend Rotwein und Bier, das erste Glas trank er stets nahezu auf Ex, noch zitterten die Hände dabei nicht. Nie hätte er zuvor gedacht, dass ihm eines Tages das schäbige Verlies von einem Büro einmal abgehen würde. Ein kaum acht Quadratmeter großer Raum mit angeschimmeltem grauem Teppich und nach Plastik stinkenden Resopalmöbeln. Auf dem Schreibtisch seiner kümmerlichen Arbeitsstätte vegetierte ein Gummibaum vor sich hin. Ein ganz erstaunliches Gewächs, denn weder wuchs noch schrumpelte das Bäumchen, egal ob er ihn goss oder düngte oder nicht. Diese Pflanze erschien ihm wie eine Analogie zu seinem Leben. Er verharrte auf der Stufe eines Lokaljournalisten, in einem Büro, welches dazu geeignet war, auch im Hartgesottensten irgendwann einmal Depressionen auszulösen. Er hielt dem stand wie sein Ficus elastica, den ihm seine Mutter einst zum Bezug dieser Zelle geschenkt hatte. Er hielt dem so lange stand, bis sie ihm seinen knarzenden Stuhl vor die Tür setzten. Den Gummibaum nahm er mit, stellte ihn zu Hause auf das Fensterbrett im Wohnzimmer. Für immer Schicksalsgenossen.

    Nun hob er den Hörer ab und blickte dabei in schlechte Gedanken an diese Vergangenheit versunken auf die robuste, scheinbar so gleichgültige Pflanze mit den ledernen, wie gewachst glänzenden dunkelgrünen Blättern.

    „Hallo, hier Thomas Bühler." Es klang wenig selbstbewusst, eher verunsichert, beinahe wie eine Frage sprach er diese Worte aus. Er bekam erneut keine Antwort. Er war wohl einem dieser Spaßvögel aufgesessen, die Freude daran haben, harmlose Bürger mit Hilfe nächtlichen Telefonterrors zu drangsalieren. Verärgert sah er aus dem Fenster, blickte auf die Straße hinunter. Dort stand auf der anderen Seite im zylinderartigen, spärlichen gelben Lichtkegel einer Laterne ein rauchender Mann. Der Regen perlte sanft an ihm herab. In der linken Hand hielt er ein Handy, und er trug einen Trenchcoat unbestimmbarer Farbe, hatte dazu einen etwas antiquiert wirkenden Borsalino auf, von dem das Wasser in dünnen Rinnsalen herunterlief. Dass er und sein feiner Hut nass wurden, schien ihm nichts auszumachen, als sei etwas anderes wichtiger. Der Typ strahlte, solchermaßen aufgemacht und nachts im Regen stehend, etwas Humphrey-Bogart-mäßiges auf ihn aus. Bogi schien ihm somit zum Greifen nah, und Bühler meinte, der Typ stecke in seinem eigenen Trenchcoat, der jedoch im Kleiderschrank in seinem Schlafzimmer hing. Gerade als Bühler das Fenster öffnen und herausrufen wollte, ob er womöglich der lästige Störenfried sei, schmiss der Mann mit einer lässigen Handbewegung, einer, als wolle er eine Fliege verscheuchen, die Kippe in den Rinnstein, steckte das Mobiltelefon ein und marschierte in moderatem Tempo davon. Er tauchte jedoch kurz darauf unter der nächsten Laterne auf, wurde wiederum eine Sekunde später endgültig von der Dunkelheit verschluckt. Bühler schloss leicht besorgt wie irritiert das Fenster, ging zurück ins Bad, beendete endlich seine Dentalpflege und setzte sich auf die Toilette. Es plätscherte munter auf die Porzellanschale, als das Telefon zum dritten Mal klingelte.

    Er hätte nicht hingehen sollen. Auch wenn es ihn aus seiner Apathie reißen sollte. Denn so begann eine ganz und gar mysteriöse Geschichte. Eine, die sein bisheriges, zugegebenermaßen nicht sonderlich aufregendes oder erfolgreiches Leben aus der Bahn brachte. Genauer überlegt war es somit richtig, dass er hinging. Alles ist letztlich ein zweischneidiges Schwert.

    Ob dies gut oder schlecht war, steht nicht zur Debatte. In jedem Fall jedoch sollte sich ihm fortan die Kernfrage des Buches auf seinem Nachttisch stellen: Wie moralisch oder wie unmoralisch muss oder darf man sich als Mensch verhalten?

    Bühler eilte also verärgert ins Wohnzimmer zurück. Auf dem eingeschalteten Mobiltelefon versuchte es dieser ominöse Plagegeist erst gar nicht. Seine Handynummer besaß er somit wohl nicht. Also sicher ein Unbekannter. Kurz überlegte Bühler, ob er aufgeben würde, wenn er einfach nicht mehr an den Apparat ginge. Doch siegte die Neugierde, er hob ab – und stürzte damit in ein Labyrinth ihm nicht klarer Ereignisse.

    „Thomas Bühler, hallo?"

    Ein Knacken in der Leitung. Gerade, als er wieder einhängen wollte, ertönte eine krächzende Stimme: „Thomas, alter Knabe!"

    Eine ihm unbekannte Stimme sprach ihn so vertraut an, als kenne sie ihn seit früher Kindheit.

    „Entschuldige bitte, ich habe schon einige Male angerufen, und wieder aufgelegt, weil … nun, weil ich unsicher war, ob ich …", die unbekannte Stimme duzte ihn vertraut, sie klang souverän, irgendwie gut vorbereitet, sie machte den Anschein, als kenne sie ihn tatsächlich.

    „Thomas, nach so langer Zeit, da habe ich eben ein paar Anläufe gebraucht. Meine Güte, ich habe dir ja nicht mal meinen Namen genannt, oder habe ich das?" Der Mann sprach monoton, er modulierte in keinster Weise. Für Bühler wohnte dieser Stimme etwas Bedrohliches inne.

    Habe ich nicht, was? War diese Zerstreutheit gespielt? „Entschuldige, Kemmler, Ulrich Kemmler. Na, geht dir ein Licht auf, erinnerst du dich jetzt?"

    Er hatte keine Ahnung.

    Eine sonore, monotone, ihm durch und durch unsympathische Stimme.

    „Mensch, Thomas, die Schulzeit! Das Theodolinden-Gymnasium!"

    Weiterhin keinen blassen Schimmer.

    „Thomas, dein Sitznachbar aus den stinklangweiligen Stunden im Fach Wirtschaft. Weißt du das nicht mehr?"

    Ihm fiel dazu ein: Er war wohl tatsächlich auf diesem Gymnasium gewesen. Eine Erinnerung, die er am liebsten verdrängte. Woher wusste dieser Kemmler das?

    „Wirtschaft habe ich als Wahlfach gar nicht belegt."

    „Meine Güte, kann sein. Dann war es Biologie, ist ja so lange her, beim alten Pauker Rainald. Die Stimme klang nach wie vor metallisch oder blechern, wie von sehr weit entfernt. Bühler dachte: Wer, bitte schön, war dieser Rainald? Und er schloss endgültig daraus, dieser Anrufer sei ein Verrückter. Einer, der sich einen Spaß daraus macht, unbescholtene Bürger nach elf Uhr abends mit erfundenen Anekdoten aus der Schulzeit zu verunsichern. Wie lange war das her, das Abitur? Fast fünfunddreißig Jahre. Womöglich erinnert man sich da nicht mehr an alle Namen, und schon gar nicht an alle Stimmen. Das beruhigte ihn für den Moment. Wieder krachte und knackste es in der Leitung. Blechern. Weit weg, als würde jemand aus dem Äther zu ihm sprechen. Geradezu unheimlich. Sicherlich war dafür die Telefongesellschaft verantwortlich, sie rissen womöglich in der Nähe mal wieder Straßenbeläge auf, verlegten neue Glasfaserkabel. Und so klang dieser merkwürdige Typ wie aus einer anderen Welt. Kannte er ihn doch? Hatte er da etwas verdrängt? Bisweilen tun wir Menschen dies gerne, warum sollte Bühler da eine Ausnahme sein. Er hielt den Hörer in der Hand und wusste nicht, was tun. Kemmler sagte nichts mehr. Gerade als er zu einigen Worten ansetzte, kam ihm sein angeblicher Schulkamerad jedoch zuvor. „Thomas, über die alten Zeiten sollten wir mal in Ruhe reden, auf ein Bier. Aber weshalb ich nach so vielen Jahren bei dir anrufe, hat einen anderen Grund.

    „Ja?"

    Wieder eine ausgedehnte Pause. Gerade als er dachte, der Anrufer wäre aufgrund der vorgerückten Stunde eingeschlafen oder habe für ihn unhörbar aufgelegt, sprach dieser scheppernd durch den Äther weiter: „Thomas? Bist du noch dran?"

    „Ich kenne Sie nicht. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen." Seinen Worten fehlte die Überzeugungskraft. Er klang unentschlossen und unsicher zugleich – aber auch neugierig. Für ihn besaß die Szene etwas Lemurenhaftes, das Ganze war für ihn noch gespenstischer als der Mann kurz zuvor unter der Laterne, dessen Stimme er jetzt womöglich hörte.

    „Also, wir könnten uns, finde ich, ruhig duzen", nahm sich die Stimme nun heraus. Eine Anmaßung. Bühler konnte förmlich das spöttische Lächeln im Gesicht des Typs mit der tiefen Bassstimme sehen.

    „Hör mal, Thomas, ich habe Bernd angerufen und ihn gefragt, ob er einen guten Privatdetektiv kennt. Bernd sagt dir jetzt vermutlich auch nichts? Der war in unserer Abiturklasse, in Biologie war er mit uns zusammen. Das Sportass Bernd Meier, der schnellste Schüler, den es je auf unserer Penne und überhaupt in ganz Bayern gab. Die hundert Meter ist der unter elf Sekunden gelaufen, du warst auch nicht gerade langsam, daran musst du dich doch erinnern!"

    Bühler hatte keinen Schimmer. War Biologie eines seiner Leistungsfächer gewesen? Nicht mal das war ihm in diesem Moment klar. „Nein, der Name Bernd Meier sagt mir nichts, tut mir leid."

    „Gut, lassen wir das. Wusste allerdings nicht, dass die Schulzeit für dich derart schlimm gewesen ist. Du leidest ja diesbezüglich an einer partiellen Amnesie. Wahrscheinlich treibst du aber deinen Spaß mit mir. Soll mir egal sein. Skurriler Humor gefällt mir."

    Bühler hielt den Hörer fest umklammert. Er fühlte sich schwach und übertölpelt. Er brachte gar nicht die Energie für die Frage auf, wieso ausgerechnet er ein Privatdetektiv sein sollte. Sein Blick fiel auf die Hausbar, doch wagte er nicht, mit dem Hörer in der Hand dorthin zu gehen, als würde ihn dieser Fremde so auf der frischen Tat des Süchtigen ertappen, als wäre es eine Schwäche, sich in Anbetracht solch eines spätabendlichen Gespräches einen zu genehmigen.

    „Ich kenne keinen Detektiv, und schon erst recht keinen, der auf den Namen Bühler hört."

    „Das ist lustig, wirklich lustig. Und herrlich ironisch." Es folgte ein ganz und gar metallisches Lachen, das genau zu den akustischen Störungen passte.

    „Was ist so lustig?" Bühler fühlte sich zunehmend unbehaglich. Da die Antwort auf sich warten ließ, blickte er jetzt, statt zur Hausbar, gedankenverloren an sich herunter. Was er sah, missfiel ihm: einen kleinen, dem Alkohol geschuldeten Bauchansatz, den dunkelbraunes Haar überwucherte, darunter ein eingeschrumpeltes Glied. So bemerkte er gleichzeitig auch: Er stand vollkommen nackt im Wohnzimmer, während er mit einem offensichtlich Irren sprach. Das schuf eine merkwürdige Art von Intimität zwischen seinem Gesprächspartner und ihm. Irgendwie kam ihm die ganze Szene schlicht grotesk vor.

    „Also, Thomas, er hat mir gesagt, wenn du einen guten Privatdetektiv suchst, dann weiß ich einen. Einen, den du bereits kennst. Und er nannte mir deinen Namen, gab mir deine Nummer."

    Es ging auf Mitternacht zu. Bühler pflegte sich zu dieser Uhrzeit bereits nach einem letzten Schlummertrunk dem Dämmerschlaf hinzugeben. Das Gewohnheitstier war todmüde. Er wollte nicht mehr mit diesem Spaßvogel sprechen. Und nicht im Mindesten hatte er Lust auf umständliche Erklärungen. Er sollte ihm besser mit Nachdruck erklären, er wäre bedauerlicherweise kein Detektiv, sondern vielmehr ein redlicher Journalist. Bühler hatte schließlich viele Jahre bei einer namhaften Münchner Tageszeitung als Lokalredakteur und eine Zeit lang in der überregionalen Redaktion geschuftet, bevor man ihn einfach mitsamt seinem Gummibaum an die Luft gesetzt hatte. Davon wenigstens verstand er etwas. Aber Privatschnüffler? Von diesem Metier hatte er keine Ahnung. Aber eigentlich ging das diesen Kemmler rein gar nichts an.

    Also besser wieder Schweigen.

    „Na, keine Antwort ist auch eine Antwort, meldete sich prompt die Stimme aus dem Äther. „Egal, ich will deine Dienste in Anspruch nehmen.

    Ganz allmählich sah er eine Angel mit einem Köder. Womöglich hing sogar ein fetter Köder daran, warum sollte er nicht anbeißen? Schließlich hatte er ja viel Zeit – und wenig Geld.

    „Ja, und in welcher Angelegenheit?" Das war unverfänglich und somit keine direkte Lüge. Von Kriminellen, von Mord oder Totschlag, von Diebstahl oder Betrug, ja nicht einmal von Ehebruch (Bühler lebte aus Überzeugung heraus ledig) hatte er eine Ahnung. Aber man würde ja sehen. Mit eigenwilligen, ein wenig verrückten Menschen hatte er schon eher Erfahrungen gemacht, angefangen bei seiner Mutter, die fast ihr ganzes Leben lang trotz zuweilen massiver Depressionen wie besessen geschuftet hatte. Im Akkord gewaschen, gebügelt, gemangelt hatte sie, so lange, so intensiv, bis nicht nur ihr Äußeres, vielmehr auch ihr Inneres buchstäblich abgeschmirgelt war. Das hatte sie krank gemacht. Und er durfte sich ihre zuweilen regelrecht irren Gedanken anhören.

    „Thomas. Wie gesagt, sorry, dass ich so spät noch bei dir angerufen habe. Aber es ist dringend, die Sache erlaubt keinen Aufschub."

    Die Sache erlaubt keinen Aufschub? Nun wurde ihm doch unbehaglich zu Mute. Nicht zuletzt, weil sein ganzes bisheriges Leben ihm wie ein einziger Aufschub vorkam.

    „Hör mal, also, wenn du keine Zeit hast, an einem anderen Fall arbeitest oder gerade morgen in Urlaub fahren willst, sag es ruhig. Ich zahle allerdings gut. Nein, ich muss sagen, sehr gut."

    Ein Spinner, der vorgab, er kenne ihn von der Schule, und der sehr gut bezahlen wollte. Wo sollte das hinführen? Oder kannte er ihn womöglich doch, nun fiel ihm der Name schon nicht mehr ein … Er vergaß schnell in letzter Zeit, sein Kurzzeitgedächtnis lief unrund, doch wollte er dies nicht auf den offensichtlich momentan viel zu großen Alkoholkonsum schieben. „Wie sagten Sie, heißen Sie gleich noch?"

    „Wirklich lustig. Das Kerlchen hat Humor. Ulrich Kemmler, und dies seit meiner Geburt, also hör schon auf damit", die Stimme tönte jetzt ein paar Oktaven höher und zudem leicht verärgert.

    „Thomas! Komm doch bitte morgen Nachmittag zu mir nach Hause. Wäre dir fünf Uhr recht? Ginge das? Es ist mir wirklich wichtig."

    Somit eben ab sofort Privatdetektiv. In Gedanken schnalzte er förmlich mit der Zunge, denn er sah das Geld vor sich, der Rest würde sich schon ergeben, er würde die plötzliche Metamorphose hin zum Detektiv schon meistern.

    „Gut, genug der Scherze. Deine Adresse bitte."

    „Authierstraße 28 in Harlaching, nicht weit von unserem Gymnasium. Das Haus kennst du doch noch, du warst einige Male bei mir. Damals hat es noch meinen Eltern gehört. Gott, du weißt das wirklich nicht mehr … na gut, ist lange her, inzwischen sind sogar schon unsere beiden Kinder ausgezogen", die Stimme klang nun statt gereizt eher konsterniert, als sei er erschöpft von den umständlichen Ausführungen und genervt von den Gedächtnislücken (dieses Mal betreffend das Langzeitgedächtnis seines Mitschülers von einst).

    Was hatte es mit dieser Sache auf sich? Er könnte einfach auflegen und bis auf Weiteres nicht mehr an den Apparat gehen. Warum unterdrückte der angebliche alte Schulkamerad seine Rufnummer (auf dem Display erschien „Unbekannt)? Unbekannt. Das passte. Obwohl er grollendes Unbehagen darüber verspürte, sagte Bühler: „Gut, in Ordnung, ich werde pünktlich da sein, wartete erst gar keine Antwort ab und hängte ein.

    Er stand splitternackt in seinem Wohnzimmer und glaubte, gerade habe jemand eine lediglich oberflächlich verheilte Wunde aufgerissen. Es blutete, doch Bühler wusste solche Wunden schnell zu schließen.

    Zuweilen geschehen merkwürdige Dinge mit uns. Jeder kennt so etwas. Wir alle sind eben bloß ein Staubkorn im Universum, wir alle wissen nicht, was man warum mit uns vorhat oder nicht. Ein ominöser Anruf wie dieser ist da keine Ausnahme.

    Bühler stand also vor seinem Schreibtisch und massierte seinen zart gewölbten Bauch. Die Schulzeit und das Abitur. Das war erledigt. Und niemals war er danach zu einem dieser peinlichen Klassentreffen gegangen. Er dachte immer, so etwas würde ihn nur langweilen. Kein Bedürfnis, ehemalige Mitschüler, denen langsam die Haare ausgingen, oder Mitschülerinnen, die ihre schwangeren Bäuche triumphierend zur Schau stellen würden, zu umarmen und mit ihnen über dämliche Streiche, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht oder sadistische Lehrer zu reden. Sein eher mittelmäßiges Abiturzeugnis einmal in Händen, war für ihn das Kapitel Schulzeit abgeschlossen. Die daraufhin auf ihn einprallenden, zahllosen Möglichkeiten des Lebens hatten ihn erschreckt. Er wusste weder, was tun, noch wohin. Schließlich leistete er seinen fälligen Wehrdienst bei einem Sanitätsbataillon ab, es folgte eine todlangweilige Lehre als Verlagskaufmann, gefolgt von einem Volontariat bei einer bekannten Münchner Tageszeitung. Wenigstens das gefiel ihm. Er liebte die Recherche, gleich worum es ging, gerne steckte er seine Nase in Dinge, die ihn sonst eigentlich nichts angingen. Vielleicht lag darin nun der Schlüssel für einen erfolgreichen Hobby-Privatschnüffler.

    Bühler stand in diese Gedanken verloren vor seinem Wohnzimmertisch, betrachtete ein weiteres Mal sein schlaffes Glied, und bei diesem deprimierenden Anblick entschloss er sich zum Rückzug ins Schlafzimmer. Dort zog er sich Boxershorts an, schlurfte zurück ins Wohnzimmer, schaltete seinen auf einem kleinen Glastisch stehenden Computer ein und googelte unter Privatdetektiv. Er las zuerst über einen angeblich total abenteuerlichen Beruf, doch an anderer Stelle stand genau das Gegenteil, erfuhr danach etwas über spezielle Einsatzmittel, über Teamobservationen, über die Suche nach vermissten Personen, über Schutz vor Erpressung, effektive Abschreckung bei Stalking, Beweissicherung durch modernste Methoden … Doch half ihm das alles wenig. Wie sollte er da bis zum Nachmittag des darauffolgenden Tages einigermaßen glaubhaft einen Privatdetektiv spielen können? Enttäuscht fuhr er den Computer herunter, zündete sich eine Zigarette an. Da fiel ihm der Name Kemmler wieder ein. Rauchend ging er zum Einbauschrank und fischte das Münchner Telefonbuch „A–K aus dem Regal. Fieberhaft suchte er unter „K, fand einige Kemmlers, darunter jedoch keinen Anton, bis Asche auf den Teppich fiel und er seinen Irrtum bemerkte. Ulrich, nicht Anton hatte dieser sich genannt. Und tatsächlich fand er einen Ulrich Kemmler, genauer gesagt einen Doktor Ulrich Kemmler und eine Patricia Kemmler, Authierstraße 28, Rufnummer 6402379.

    Er existierte also. Die so sparsam modulierende Stimme besaß sogar einen Doktortitel, während er selbst nicht einmal studiert hatte. Sein Leben kam ihm wieder einmal mehr so nutzlos vor. Diesen Kemmler redet man respektvoll mit Herr Doktor an! Sicher ist er vermögend, wenn nicht sogar reich, er jedoch nur ein armer Schlucker. Er hatte eben einfach zu wenig aus seinem Leben gemacht. Doktor also – vermutlich der Ökonomie, der Betriebs- oder der Volkswirtschaft. Kemmler hatte ja am Telefon über den angeblich gemeinsam absolvierten Leistungskurs Wirtschaft gesprochen. Ein Schulkamerad also, seinetwegen. Einer, der nach fünfunddreißig Jahren plötzlich aus der Versenkung auftaucht und ein Leben im Superlativ führt. Ein Karrierist, während er es gerade einmal zum Lokalredakteur gebracht hatte.

    Er würde am nächsten Tag zu ihm fahren. Er würde pünktlich auf die Minute erscheinen und sich als der gewünschte Privatdetektiv ausgeben. Welch eine Posse, eine Scharade würde das werden. Nun, man würde ja sehen. Der Doktor würde ihm stolz sein Haus und Fotografien seiner wohlgeratenen Kinder sowie von seiner sicher adretten Frau zeigen und sich danach lachend auf die Schenkel klopfen, einen regelrechten Lachanfall bekommen, ihm glucksend sagen, nun sei es aber gut, genug gescherzt. Er sei informiert über ihn, den nutzlosen Schreiberling, arbeitslos und unverheiratet. Nicht einmal ein Kind habe er in die Welt gesetzt. Und so habe er sicher Zeit genug, denn er plane eine große Jahrgangsfeier der Schulklasse, und die solle er für ihn organisieren. Bloß: Bühler kannte keinen Kemmler, und dabei blieb es.

    Bei diesen Gedanken fröstelte ihn plötzlich, er trug ja bloß Boxershorts. Bühler ging ins Schlafzimmer, zog sich ein Unterhemd über und schlurfte zurück. Er entflammte eine weitere Zigarette und glaubte im Widerschein der bituminösen Flamme für einen winzigen Moment, eine Art Nanosekunde, er sehe tatsächlich eine Gestalt über den Flur huschen. Kein Zweifel, jemand war in seiner Wohnung. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, löschte das Licht, stand hinter der Tür und lauschte in den Flur hinaus. Das konnte nur der Kerl in dem Trenchcoat sein. Was, wenn er dieser Kemmler wäre, und jetzt stand er auf dem Flur, sah die vergilbte Tapete, die nur noch eine Ahnung von einstiger Farbe trug, verblasst und solchermaßen passend zu Bühlers Leben, und genau dort stand dieser Fremde jetzt, denn er besaß die Angewohnheit, unbemerkt in Wohnungen einzudringen und genüsslich abzuwarten, wann man ihn entdeckt. Ein Verrückter, ein Psychopath. Oder war es womöglich gar kein Fremder, vielmehr jemand, mit dem er eine Rechnung offen hatte? Doch nicht das leiseste Geräusch ließ sich vernehmen. Bühler wartete noch ein Weilchen, bis er sich auf den Gang hinaus und von diesem ins Badezimmer traute. Dort war offensichtlich auch niemand, und so knipste er das Licht aus. Deprimiert wie erleichtert zugleich ging er in sein Schlafzimmer, schlüpfte aus den Shorts und zog das Unterhemd aus, denn er war es gewohnt, gänzlich unbekleidet zu schlafen. Das Buch mit der Moral oder der Unmoral, denn beides lief dem Inhalt zufolge ja quasi auf dasselbe hinaus, es war eben nur eine Frage der Betrachtung, des Standortes, lag auf dem Nachttisch bereit, forderte ihn zum Lesen auf. Aber nach Schlaflektüre war ihm jetzt nicht mehr zu Mute. Er genehmigte sich lieber seinen Schlummertrunk in Form eines doppelten Magenbitters, denn auch diese Flasche stand auf dem Nachttisch, ein allzeit bereites Barbiturat für die schwarze, die einsame Nacht. Bühler schlürfte langsam die bittere Essenz hinunter, zog dann die Tür zu und stellte erleichtert fest, dass außer ihm offensichtlich niemand im Raum war. Er schaute dabei sogar unter sein Bett und kam sich prompt lächerlich vor.

    Die Nachttischlampe erlosch, er drehte sich nach rechts zur Wand hin, fingerte nach seiner Schlafbrille (da er sehr lichtempfindlich war, trug er nachts stets eine). Schlaf war zweifellos das, wonach er sich jetzt am meisten sehnte. Doch wie er sich auch im Bett

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