Der Schoppenfetzer und der Tod des Nachtwächters: Erich Rottmanns zweiter Fall
Von Günter Huth
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Jetzt war der Nachtwächter tot - und Erich Rottmann, pensionierter Kommissar und Weinliebhaber, einer mysteriösen Geschichte auf der Spur.
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Buchvorschau
Der Schoppenfetzer und der Tod des Nachtwächters - Günter Huth
PROLOG
Es waren drei Männer mittleren Alters, die sich, zitternd vor Angst, hinter die dichten Büsche drückten. Mit Verzweiflung im Herzen verfolgten sie die Szene, die sich nur einen Steinwurf von ihnen entfernt im unwirklichen Licht des halben Mondes abspielte. Sie beobachteten die Bewegungen der vier Schergen, die dabei waren, ein ausreichend großes Erdloch auszuheben, um die Leichen der drei Gottesmänner zu verscharren, die sie vor wenigen Minuten erschlagen hatten. Die Mörder waren offenbar angetrunken. Ihre Reden waren unflätig und ihre Motorik grob und fahrig. Es handelte sich um einfache, ungebildete Waffenknechte im Dienste des Herzogs, die ihre grausige Arbeit unberührt ließ. Rohe Gesellen, denen man für diese Mordtat eine für ihre Verhältnisse großzügige Entlohnung gezahlt hatte. Diese Kerle waren es von Jugend an gewohnt, das Schwert todbringend einzusetzen und fühlten keine Gewissensbisse. Im Gegenteil, sie prahlten voreinander mit der Wirkung ihrer Schwerthiebe. Zwischendurch nahmen sie immer wieder Schlucke aus einem Tonkrug, den sie neben dem ausgehobenen Erdhaufen abgestellt hatten. Er enthielt sicher kein Wasser. Fluchend über den steinigen Boden trieben sie die Grube immer tiefer.
Die Zeugen des Geschehens waren bis tief in ihr Innerstes aufgewühlt. Die Todesschreie der drei Erschlagenen hallten noch immer in ihren Köpfen wider. Im Mondlicht konnten sie die gekrümmt auf der Erde liegenden Körper der Ermordeten erkennen. Zutiefst schämten sie sich ihrer Feigheit, die sie daran gehindert hatte, diesen Männern zu Hilfe zu kommen. Aber sie waren keine Kämpfer, nur einfache Bürger, die sich vor nicht allzu langer Zeit durch die Taufe zu der neuen Lehre bekannt hatten. Die Überzeugungskraft der drei irischen Mönche hatte ihrem Leben einen völlig neuen Sinn gegeben, und mit Begeisterung hatten sie den dreien Unterkunft und Nahrung geboten.
Oftmals hatten sie die Iren vor dem Zorn und der Heimtücke der Herzogin gewarnt, deren Ehe mit Gosbert die drei Mönche in aller Öffentlichkeit als gotteslästerlichen Zustand angeprangert hatten. Doch sie hatten sich nicht beirren lassen.
Die Schergen hatten mittlerweile tief genug gegraben. Sie warfen ihre Grabwerkzeuge zur Seite und zerrten die drei Leichen zur Grube, wobei sie über die schweißtreibende Arbeit fluchten. Die Angelegenheit, so hatte man ihnen eingeschärft, musste vor der Morgendämmerung erledigt sein. Niemand am Hofe sollte wissen, was mit den drei Mönchen geschehen war. So konnte die Herzogin behaupten, sie seien bei Nacht und Nebel abgereist.
Nachdem die Männer den Tonkrug ein weiteres Mal hatten kreisen lassen, warfen sie das Erdloch wieder zu und traten den Aushub fest. Als sie eine halbe Stunde später fertig waren, war außer einer frischen Grabstelle und einigen Blutspuren auf der Erde kein Hinweis auf die Mordtat mehr zu erkennen.
Die Mörder wechselten noch einige grobe Worte über die zurückliegende Arbeit, dann schnappte sich einer die Bibel, die sich der Anführer der Mönche vor seinem Tod schützend über den Kopf gehalten hatte. Drei gingen gemeinsam in eine Richtung, einer schlug einen anderen Weg ein.
Die drei Männer hinter den Büschen unterhielten sich flüsternd, dann fassten sie trotz ihrer Angst einen Entschluss. Vorsichtig folgten sie dem einzelnen Waffenknecht, der in Richtung Main marschierte. Sein Gang war der breitbeinige Schritt eines Angetrunkenen.
In einer dunklen Baumgruppe, in deren Schutz ihre Gesichter nicht zu erkennen waren, holten sie ihn ein und umringten ihn überraschend. Der Mann, dessen trainierte Kampfinstinkte durchaus noch funktionierten, griff automatisch zum Schwert, das in einer Lederscheide an seiner linken Seite hing.
Einer der Verfolger hielt entschlossen die Schwerthand fest, die beiden anderen bedrängten den Mörder so eng, dass er sich kaum bewegen konnte.
„Was wollt ihr?", knurrte der Mann, wobei er eine Wolke stinkender Atemluft ausstieß.
„Gib uns dein Schwert!, forderte der älteste der drei Bürger, „dann kannst du gehen.
„Den Teufel werd ich tun, grölte der Knecht wütend und begann, am Griff seiner Waffe zu zerren. „Ich schlage euch eure verdammten Schädel ein!
„Beruhig dich, forderte der Anführer der drei Verfolger laut, um den Tobenden zu übertönen, „hier hast du Geld. Nimm es und gib uns dein Schwert. Für die Summe kannst du dir beim Waffenschmied drei neue anfertigen lassen.
Das Wort „Geld" drang zum Verstand des Wütenden durch und er beruhigte sich etwas. Einen Augenblick stand er still und stierte in die Nacht, um seine Gegner zu erkennen. Da dies nicht möglich war, griff er langsam zum Gürtel und löste das Waffengehänge. Polternd fiel das Schwert zu Boden.
„Her mit dem Geld", knurrte er und griff nach dem Lederbeutel, in dem es metallisch klirrte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, trottete er weiter.
Einer der drei Männer hob das Schwert vorsichtig auf und barg es unter seinem Umhang. Schnell entfernten sich die drei und suchten ihre Behausungen auf. Noch in dieser Nacht versteckte der Älteste das Schwert an einem geheimen Ort. Das Blut Kilians klebte noch immer daran.
Manfred Sendt, Mitarbeiter des Zellerauer Sicherheitsunternehmens Safety first, stand auf der Alten Mainbrücke und zündete sich im Windschatten der monumentalen Figur des heiligen Kilian eine Zigarette an. Tief sog er den Rauch in seine Lunge. Langsam entließ er ihn wieder in die milde Nachtluft, wo er sich träge verflüchtigte. Entspannt glitt Sendts Blick über die Brücke. Im Schein der Straßenlaternen waren die zahllosen Biertische und Bänke erkennbar, die er zu bewachen hatte. Sendt war noch nicht lange bei Safety first beschäftigt. Dieser Job hier war nach seiner kürzlich beendeten Ausbildung der erste Auftrag, den ihm sein Chef übertragen hatte.
Sendt lehnte sich mit dem Rücken gegen den steinernen Sockel der Heiligenfigur und stützte seinen rechten Unterarm auf den Griff des großkalibrigen Revolvers, den er im offenen Holster rechts am Gürtel trug. Er fand es zwar etwas langweilig, nur alte Bänke und Tische zu beaufsichtigen, aber unter dem Strich war er sehr froh, die Anstellung bei Safety first bekommen zu haben. Sendt war das, was man im Volksmund als „verkrachte Existenz" bezeichnet. Mit achtundzwanzig Jahren, abgebrochenem Abitur, zwei unvollständigen Lehren und anschließender mehrjähriger Arbeitslosigkeit sicher ein nachvollziehbares Urteil.
Den eigentlichen Grund für seine Unstetigkeit hatte er bisher allen seinen Arbeitgebern verbergen können. Sendt war alkoholkrank. Wochenlang konnte er die Krankheit kontrollieren, dann gab es plötzlich ein auslösendes Ereignis, und er schüttete sich tagelang bis zur Besinnungslosigkeit zu. Immer hatte er die Beschäftigungsverhältnisse abgebrochen. Stets rechtzeitig, bevor seine Arbeitgeber sein Problem erkannten. Auch jetzt war er wieder mal seit Wochen trocken geblieben. In den letzten Tagen hatte er allerdings gespürt, wie sich der Teufel in ihm wieder zu melden begann. Das Verlangen nach einem langen Schluck Hochprozentigem stieg und er wusste, dass er ihm nicht mehr lange widerstehen konnte.
Der Wachmann stieß sich von dem Stein ab und schlenderte über das historische Kopfsteinpflaster. Beiläufig warf er einen Blick hinunter auf die fast schwarze Oberfläche des Mains, der sich träge an den Brückenpfeilern vorbeischob. Der Wasserstand war, bedingt durch die sommerlichen Temperaturen und wegen des fehlenden Regens, ziemlich niedrig.
Normalerweise hätte man für die Bewachung dieses Objekts zwei Männer benötigt. An jeder Brückenauffahrt einen. Aber der Elferrat der 1. Würzburger Karnevalsgesellschaft, der alljährlich das Brückenfest ausrichtete, war äußerst sparsam und die Stadt befand sich seit Jahren in notorischen Geldnöten. – Wer sollte sich schon an abgenutzten Sitzgarnituren vergreifen?
Sendt warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich halb drei. Um ein Uhr, kurz nachdem das Fest beendet war, hatte er seinen Dienst begonnen. In einer guten Stunde würde im Osten der erste Silberhauch den kommenden Tag anzeigen. Noch gut zweieinhalb Stunden, dann würden die Lkws kommen und das Geraffel abholen. Bis sich die Würzburger den letzten Schlaf aus den Augen gerieben hatten, würde der Fußgängerverkehr wieder ungehemmt über die Brücke fließen.
Die Zigarette war heruntergebrannt. Mit einer lässigen Bewegung schnippte er die Kippe über die Balustrade in den Fluss, wo die Glut unhörbar erlosch. Eigentlich konnte er ganz zufrieden sein. Der Job war ruhig und ungefährlich, die Juni-Nacht lau und man konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen. Wenn sich in dieser Ruhe nicht die verdammte Sucht verstärkt bemerkbar gemacht hätte. Seine Phantasie suggerierte ihm das Bild und sein Körper erinnerte sich: Er hatte eine Flasche Schnaps in der Hand und ließ das scharfe Destillat durch seine Kehle laufen. Er spürte fast körperlich das warme Gefühl im Magen und empfand die täuschende Leichtigkeit, die von der Droge ausgelöst wurde. Mühsam riss er sich aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf seine Umgebung.
Als er die Absperrung auf der linken Mainseite erreicht hatte, blieb er kurz stehen und sah die Dreikronenstraße entlang. Es war schon erstaunlich, welche Ruhe eine nächtliche, unbefahrene Straße ausstrahlen konnte.
Schlagartig befiel ihn erneut der Drang. Sein Mund wurde trocken. Hastig zündete er sich wieder eine Zigarette an, um seinen Körper wenigstens für kurze Zeit abzulenken. Der Erfolg hielt allerdings nicht lange an. Er fasste einen Entschluss und marschierte in Richtung Grafeneckart zurück. Das war nicht mehr der schlendernde Gang eines gelangweilten Wächters. Das Tempo wurde jetzt von Zielstrebigkeit bestimmt.
Ohne Zögern ließ er die Absperrung auf der Rathausseite hinter sich und wandte sich in Richtung Karmelitenstraße. Dort stand sein Auto und in diesem befand sich der Stoff, nach dem jede Zelle seines Körpers gierte. Die Tatsache, dass er seinen Posten verließ, war ihm in diesem Zustand gleichgültig.
Bei dem Auto, das aus Richtung Zeller Straße kommend in die Burkarderstraße einbog und dort geparkt wurde, handelte es sich um einen dunkelblauen Ford Transit. In dem Fahrzeug saßen zwei Männer unterschiedlichen Alters, die sich offenbar heftig stritten. Plötzlich wurde die Beifahrertür aufgerissen und der ältere der beiden Insassen stieg hastig aus. Augenscheinlich befand er sich im Zustand höchster Erregung. Sein Atem ging hastig. Sein Herz raste. Der Fahrgast löste sich von dem Wagen und eilte in Richtung Alte Mainbrücke davon. Vor dem Eingang des Lokals Brückenbäck blieb er stehen und wühlte in seinen Taschen. Die Medikamentenpackung, die schon seit Wochen sein ständiger Begleiter war, glitt in seine Finger. Er entnahm der Alufolie drei Dragees und schluckte sie hastig, ohne Wasser. Nach kurzem Zögern drückte er noch zwei weitere Tabletten heraus und nahm sie auf dieselbe Weise ein. Auf der Zunge blieb ein bitterer Nachgeschmack.
Mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung folgte sein Blick den Rücklichtern des abfahrenden Wagens, bis sie um die nächste Kurve der Zeller Straße verschwanden.
Der Mann stand einen Augenblick wie gelähmt, dann griff er in seine Hosentasche nach dem Mobiltelefon. Über die Kurzwahltasten wählte er eine Nummer an. Das Gespräch dauerte nicht lange, die Stimme des Mannes klang eindringlich. Nachdem er das Handy wieder eingesteckt hatte, betrat er die Brücke, setzte sich auf die erste der Bierbänke und wartete. Er wartete auf einen Menschen – und er wartete auf die Wirkung der Tabletten.
Auf Höhe der Flurbereinigungsdirektion bremste der Fahrer des blauen Ford abrupt ab. Kurzentschlossen drehte er das Lenkrad und bog auf den Parkplatz des Ämtergebäudes ein. Dort stellte er den Motor ab. Auch er war extrem wütend. Wütend auf seinen Fahrgast, dem er am liebsten seinen Zorn ins Gesicht geprügelt hätte. Schließlich stieg er aus, verschloss das Fahrzeug und eilte in Richtung Alte Mainbrücke zurück. Die Situation war, so wie sie sich in den letzten Stunden entwickelt hatte, einfach unerträglich. Er musste zusehen, dass er den Mann irgendwie zur Vernunft brachte.
Die Wirkung des starken Beruhigungsmittels ließ zum Glück nicht lange auf sich warten. Ruhe kam über den Mann auf der Bierbank, die sich langsam zur Müdigkeit steigerte. Sein tobender Pulsschlag verlangsamte sich und sein Zorn schwand.
Trotz der Wirkung der Tabletten konnte er klar denken. Er hatte einen großen Fehler gemacht. Wohl den größten Fehler seines Lebens. Die schwerwiegenden Folgen, die sein Fehlverhalten für die Bruderschaft, der er angehörte, bedeutete, konnte er nur noch mildern, indem er für sich selbst die Konsequenzen zog. Konsequenzen, die ihm jetzt, nach Einnahme der Tabletten, immer leichter erschienen.
Der Mann erschrak etwas, als unvermutet neben ihm ein Fahrrad zum Stehen kam und ein weiterer Mann abstieg.
„Ich danke dir, Bruder, dass du gekommen bist, sagte der Wartende langsam und stand bedächtig auf. „Komm, lass uns zu unserem Heiligen gehen, ich muss dir ein schreckliches Geständnis machen.
Wortlos gingen die beiden dicht nebeneinander über die Brücke, bis sie die Figur des heiligen Kilian erreicht hatten. Dort drehte sich der Erstankömmling dem zweiten Mann zu und begann zu sprechen.
Sie bemerkten nicht, dass ihnen, die Deckung der Tische und Bänke nutzend, der Fahrer des Ford Transit folgte. Als die beiden sich in die Bucht der Kiliansfigur stellten, folgte er ihnen bis auf Höhe der Figur des heiligen Kolonat, dann huschte er in die Nische dieses Monuments, das der Figur des Kilian am nächsten stand, und duckte sich hinter die Brückenbrüstung.