Der Schoppenfetzer und die Rache des Winzers: Erich Rottmanns neunter Fall
Von Günter Huth
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Buchvorschau
Der Schoppenfetzer und die Rache des Winzers - Günter Huth
WÜRZBURG, IM SOMMER 1980
An einem schwülheißen Donnerstag um 15:43 Uhr geht bei der Einsatzzentrale der Polizeidirektion Würzburg ein alarmierender Anruf ein. Eine Frau mit amerikanischem Akzent meldet völlig aufgelöst, dass sie beim Versuch, die Filiale der American Bank of Military Commerce (ABMC) in der Nähe der amerikanischen Kaserne Leighton Barracks zu betreten, in einen offenbar gerade stattfindenden Banküberfall geraten sei. Geistesgegenwärtig sei sie aus dem Eingangsbereich der Bank geflüchtet, ehe der Täter auch sie in seine Gewalt bringen konnte. Sie habe dabei gesehen, dass der Mann eine Schusswaffe in den Händen hielt. Weitere Angaben kann sie nicht machen.
Dieser Anruf, der als seriös eingestuft wird, löst in der Folge einen Großeinsatz der Polizei aus. Eine halbe Stunde später wird das polizeiliche Sondereinsatzkommando (SEK) Bayern Nord alarmiert, das nur wenige Minuten später mit drei Mannschaftsbussen ausrückt, die mit Blaulicht und Sirene über die A3 nach Würzburg rasen. Gleichzeitig hebt ein Hubschrauber ab, der den Leiter des SEK und eine kleine Gruppe der Einsatzkräfte zum Tatort bringt. Ihr Ziel ist der Landeplatz der amerikanischen Streitkräfte innerhalb der Kaserne.
Der Leiter des SEK ist darüber informiert, dass in der Zentralverwaltung der ABMC mittlerweile ein Anruf eingegangen ist. Ein Mann hatte erklärt, dass er in die Filiale der American Bank of Military Commerce in Würzburg eingedrungen sei und sich fünf Geiseln in seinen Händen befänden. Er sei mit Schusswaffen und Handgranaten ausgerüstet und fordere innerhalb von fünf Stunden ein Lösegeld von zwei Millionen Dollar und einen Fluchtwagen. Andernfalls drohe er mit der Erschießung seiner fünf Geiseln: des Filialleiters, des Kassiers, zweier Bankangestellter und einer Bankkundin.
So weit die bekannten Fakten vom Tatort. Örtliche Polizeieinsatzkräfte sind bereits vor Ort und sperren das Gelände um die Bank großräumig ab. Die Zuständigkeit der deutschen Polizei ist gegeben, da es sich bei der Bank um ein privatwirtschaftliches Geldinstitut und um keine militärische Institution handelt. Zudem liegt die Filiale auf deutschem Hoheitsgebiet.
Nach ihrer Landung stürmen die SEK-Männer über das Flugfeld und werden von einem bereitstehenden Bus der amerikanischen Militärpolizei aufgenommen, der sie zum Einsatzort bringt.
Die Einsatzleitung ist in einem mit Technik vollgestopften geräumigen Bus untergebracht. Während seine Männer davor stehen bleiben, betritt der SEK-Leiter das Fahrzeug und verschafft sich einen schnellen Überblick. Drei Männer unterschiedlichen Alters, teilweise in grünen Polizeieinsatzuniformen, sitzen über einen Stadtplan gebeugt und richten sich nun auf. Der in Schwarz gekleidete SEK-Mann wendet sich an den ältesten Beamten: „Grüß Gott, Kollegen, Dremmler, SEK Nord. Wir sind das Vorauskommando. Können Sie mich kurz mit der Lage vertraut machen? Meine bisherigen Informationen sind sehr dürftig."
Zu Dremmlers Erstaunen erhebt sich der jüngste der Polizisten und gibt ihm die Hand. Nachdem er sich kurz vorgestellt hat, erklärt er: „Sie wundern sich sicher, dass ich die Einsatzleitung übertragen bekommen habe, aber alle höheren Führungskräfte befinden sich im Raum Schweinfurt, weil dort eine Großdemonstration rechter Gruppierungen stattfindet und autonome Linke eine Gegendemo angekündigt haben. Ziemlich heiße Sache, die eskalieren kann. Daraufhin setzt er sich wieder, stellt die anderen Beamten vor und bietet dem SEK-Mann einen freien Sitz an. „Zu Ihrer Information: Die Einsatzzentrale wurde heute Nachmittag von einer Bankkundin angerufen, die beim Betreten der ABMC-Bank einen Mann gesehen hat, der mit vorgehaltener Schusswaffe Menschen bedroht. Mittlerweile liegen auch die Forderungen des Täters vor. Wir konnten in der Zwischenzeit das Telefon der Bank anzapfen und hatten auch schon Kontakt zum Täter. Es handelt sich offenbar um einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, wahrscheinlich einen Veteranen aus dem Vietnamkrieg. Zum Motiv seiner Tat hat er gesagt, dass Amerika ihm wegen des Vietnamkriegs viel Geld schulde und er diese Schulden jetzt eintreiben wolle. Unser Polizeipsychologe ist zwar an ihm dran, aber er hat große Mühe, ihn einigermaßen ruhig zu halten. Er fürchtet, dass der Mann psychisch völlig durchdrehen könnte. Die Sache kann jederzeit aus dem Ruder laufen.
„Schon irgendwelche konkreten Anweisungen für meine Männer und mich?", fragt der SEK-Mann knapp.
„Wir haben das Gebiet großräumig abgesperrt. Soweit möglich, haben wir die Bewohner der umliegenden Häuser angewiesen, nicht an die Fenster zu gehen und das Haus nicht zu verlassen. Alle haben wir aber nicht erreicht. Verteilen Sie einige Ihrer Scharfschützen in den Häusern rund um die Filiale. So weit das möglich ist, auch auf den Dächern. Notfalls müssen sie auch in Wohnungen von Anwohnern. Er zögert einen Augenblick, dann meint er: „Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir heute ohne Ihr Eingreifen nicht zum Ende kommen.
Er zeigt auf den Stadtplan, auf dem das Gebiet rund um die Bank in starker Vergrößerung dargestellt ist. „Eine Gruppe Ihrer Männer postieren wir an einer günstigen Stelle möglichst nahe an der Bank, damit sie dort im Notfall sofort zugreifen können. Die Schützen würde ich hier und dort verteilen. Er tippt auf das Papier. „Dann haben sie die Vorder- und die Rückseite des Gebäudes im Auge. Nehmen Sie eine Kopie des Plans mit.
Er nimmt sich einen gefalteten Plan vom Tisch und gibt ihn Dremmler. „Sie unternehmen bitte nichts ohne eine klare Anordnung von mir. Wir müssen verhindern, dass dieser Mensch ein Blutbad anrichtet. Ständiger Funkkontakt ist gewährleistet." Er weist auf das Headset, das der SEK-Mann trägt.
Dremmler nickt knapp, dann verlässt er das Einsatzfahrzeug. Es würde noch einige Zeit dauern, bis alle seine Männer eingetroffen waren und er sie verteilen konnte.
Der SEK-Leiter betätigt die Türglocke, die einen blechernen Ton von sich gibt. Auf dem Türschild steht „Meckenberger". Das Haus ist dreistöckig und diese Wohnung hat mehrere Fenster, die einen freien Blick auf den Eingang der Bank ermöglichen. Hier muss er unbedingt einen seiner Männer unterbringen.
Nach dem zweiten Läuten wird die Tür geöffnet und ein älterer Mann in kurzen Hosen und nur mit einem Unterhemd bekleidet mustert verwirrt den Mann im schwarzen Einsatzanzug mit der weißen Aufschrift POLIZEI. Nach dem Zustand seiner Frisur und seiner zerknautschten Miene zu urteilen hatte er offenbar gerade geschlafen. Vermutlich handelt es sich um einen der Bewohner, die die Polizei noch nicht von den Vorgängen vor ihrem Wohnhaus hatte unterrichten können.
Der SEK-Mann hält seinen Dienstausweis in die Höhe. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Meckenberger. Polizei. In der Bank gegenüber läuft gerade eine Geiselnahme und wir befinden uns in einem Polizeieinsatz. Wir müssten dringend in Ihre Wohnung, da man von Ihren Fenstern aus einen direkten Blick auf den Tatort hat."
„Ja, aber …" Der Mann war ziemlich verdattert und hatte sichtlich Mühe, diese Informationen zu verarbeiten.
„Wohnen Sie allein hier?", fragt der SEK-Leiter weiter.
„Ja. Aber …"
„Herr Meckenberger, es tut mir leid, dass wir Sie so überrumpeln müssen, aber es handelt sich hier um einen extremen Notfall. Menschenleben sind in Gefahr. Wir haben leider keine Zeit, lange zu diskutieren. Da Gefahr in Verzug ist, dürften wir notfalls auch gegen Ihren Willen in Ihre Wohnung. Haben Sie die Möglichkeit, in der Nachbarschaft unterzukommen, bis alles vorüber ist? Wir hoffen, dass sich die Angelegenheit bald klärt und wir Sie nicht lange belästigen müssen."
Der Mann tritt einen Schritt zur Seite und öffnet die Tür ganz. „Ich kann zu Kloses gehen. Die wohnen im Nachbarhaus. Aber was wollen Sie hier in meiner Wohnung machen?"
Der SEK-Leiter trat in die Wohnung, dann erklärte er: „Keine Sorge, wir werden in Ihrer Wohnung lediglich einen Beamten postieren, der die Bank von hier aus im Auge behält. Er betritt die geräumige Küche und wirft einen Blick aus dem Fenster. „Von hier aus haben wir gute Sicht. Andere Räume werden wir nicht betreten.
Meckenberger hat sich mittlerweile ein Hemd übergezogen und scheint endlich völlig klar zu sein. „Benötigen Sie etwas?", fragt er höflich.
Demmler schüttelt den Kopf. „Vielen Dank! Am besten gehen Sie jetzt. Wenn alles vorüber ist, werden wir Sie verständigen. Ich rufe meinen Mann jetzt herein."
Der SEK-Mann geht zur Wohnungstür. Meckenberger greift sich einen Schlüsselbund vom Brett und folgt ihm. Als er dem schwarz gekleideten, maskierten Beamten begegnet, der die ganze Zeit, für ihn nicht sichtbar, neben der Eingangstür gewartet hatte, zuckt er leicht zusammen. Der Mann murmelt einen kurzen Gruß, dann tritt er in die Küche. Meckenberger mustert kurz den flachen schwarzen Hartschalenkoffer, den der Mann in der Hand trägt. Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, was der Koffer enthält.
„Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, sagt Dremmler und komplimentiert Meckenberger zur Tür hinaus. „Wie gesagt, wir geben ihnen sofort Bescheid, wenn alles vorüber ist.
Er schließt aufatmend die Tür. Die beiden Beamten räumen wortlos das Fensterbrett von mehreren Blumenstöcken frei, dann öffnen sie das Fenster. Der Blick auf die Bank ist wirklich ideal.
„Sie richten sich hier ein, Schütze 3, weist der SEK-Chef den Schützen knapp an. „Dann melden Sie sich über Funk bei der Einsatzleitung. Weitere Anweisungen erhalten Sie von dort.
Er nickt dem Mann zu, klopft ihm auf die Schulter, dann verlässt er die Wohnung.
Schütze 3 mustert kurz die Kücheneinrichtung, dann öffnet er seinen Gewehrkoffer und hebt das Heckler&Koch-Präzisionsgewehr heraus. Aus dem Rucksack holt er mehrere kleine Sandsäcke, die er auf dem Fensterbrett positioniert. Dann schnappt er sich einen Küchenstuhl, legt den Gewehrlauf auf die Sandsäcke und visiert durch das Zielfernrohr. Der eingebaute Laserentfernungsmesser zeigt eine Distanz von 72 Metern bis zum Eingang der Bank an. Eine gute Entfernung für einen präzisen Schuss. Irgendwie ist er mit seiner Auflagemöglichkeit noch nicht zufrieden. Er überlegt kurz, dann schiebt er den kleinen Küchentisch vor das Fenster. Erneut positioniert er sich. Jetzt passt es, weil er beide Arme auflegen kann. Als er nochmals durch das Zielglas blickt und dabei den ersten Buchstaben des Firmenschilds des Bankgebäudes anvisiert, steht das Fadenkreuz des Zielfernrohrs absolut ruhig.
Schütze 3 lehnt sich zurück und betätigt den Rufknopf seiner Sprecheinrichtung. Als sich die Einsatzleitung meldet, erklärte der Beamte: „Hier Schütze 3. Ich bin auf Position und habe freie Sicht auf den Eingang der Bank, auf das danebenliegende Schaufenster und auf die Straße davor. Gute Schussentfernung. Problematisch könnten einige parkende Pkws auf dem Gehsteig vor der Bank sein. Sie schränken das Schussfeld ein."
„Danke, Schütze 3, kam umgehend die Antwort der Einsatzleitung. „Weitere Befehle abwarten.
Schütze 3 holt aus seinem Rucksack eine Packung mit Patronen und lädt sein Gewehr. Bei den Patronen handelt es sich um eine Spezialanfertigung, die nur Präzisionsschützen der SEKs der Polizei zur Verfügung stehen. Die Geschosse sind so aufgebaut, dass sie sich sofort nach dem Auftreffen auf einen Körper zerlegen. Sie erzeugen damit eine hohe Schockwirkung, ein Durchschuss ist dabei aber so gut wie ausgeschlossen. Nachdem er die Waffe wieder gesichert hat, bereitet er sich innerlich auf eine lange Wartezeit vor. Er hat schon häufig derartige Situationen erlebt. Die meiste Zeit saß man untätig herum und verfolgte den Funkverkehr. Ihm ist klar, dass dort unten ein Nervenkrieg stattfindet, in dem er unter Umständen die letzte Instanz sein wird. Schütze 3 zieht sich die Kapuze vom Kopf und legt sie auf den Tisch. Präzisionsschützen tragen, ebenso wie ihre Kollegen des SEK, bei einem Einsatz grundsätzlich Gesichtsmasken, um ihre Anonymität zu wahren. Es wäre fatal, wenn die Presse von den Mitgliedern der Spezialkräfte Bilder veröffentlichen würde. Damit wäre die Sicherheit der Männer und ihrer Familien nicht mehr gewährleistet.
Schütze 3 lehnt sich zurück. Das leichte Beruhigungsmittel, das er kurz vor dem Einsatz eingenommen hatte, beginnt zu wirken. Es trägt dazu bei, dass sich sein Blutdruck senkt und sich die Anspannung des Einsatzes nicht auf den Herzschlag auswirkt. Ruhe ist eine wesentliche Voraussetzung für einen präzisen Schuss. Er spürt, wie sein Atem gleichmäßiger wird.
Mit geschlossenen Augen verfolgt Schütze 3 den Funkverkehr aus dem Einsatzwagen, soweit er über den für alle Einsatzkräfte zugänglichen Kanal geführt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Straftäter kann er natürlich nicht hören, da sie über das Telefon stattfindet. Wichtig ist, dass der Kontakt zum Geiselnehmer nicht abbricht. Meist sind Geiselnahmen ein reiner Nervenkrieg, bei dem es in erster Linie darum geht, die Geiseln zu retten. Solange sich die Täter gesprächsbereit zeigen, ist eine Eskalation weniger wahrscheinlich.
Es sind fast zwei Stunden vergangen, als plötzlich gegenüber in der Bank ein Schuss fällt. Schütze 3 richtet sich blitzschnell auf, ergreift sein Gewehr und geht in Anschlag. Von einer Sekunde auf die andere ist er bereit. Da meldet sich auch schon die Stimme des Einsatzleiters über Funk.
„An alle Sondereinsatzkräfte. Der Täter hat soeben nach eigenen Angaben seine Drohung wahr gemacht und eine